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VI

Die goldgefleckten Kuppeln der Kastanien wurden fahler, immer weiter griffen die Lücken, die der Herbstbrand hineingefressen hatte. Wo ehedem eine lichtaufsaugende Laubwölbung den Blick begrenzt hatte, ließ jetzt das Wasser des Kanals seine blanken Wellchen glitzern, langgestreckte Kähne, von Stangen mühsam weitergeschoben, zogen schwerfällig ihres Weges, und der struppige Wachthund bellte zu den vornehmen Fenstern empor.

Nun kamen graue Regentage feindselig daher geschlichen, und die Einsamkeit legte ihre Molluskenhand lähmend auf die Brust. –

Ja freilich, die Arbeit! Solange der erste Rausch andauerte und Lilly hoffen konnte, daß ihren Zukunftsplänen irgend eine Verwirklichung beschieden sein würde, war sie am Werke Tag und Nacht.

Aber der Aufschwung, der ersehnte, kam nicht. Die Offerten, die sie hatte drucken lassen, blieben unbeachtet, und Herr Dehnicke, der einzige Abnehmer, bat – zögernd zwar und befangen, aber immerhin verständlich genug – daß sie sich nicht beeilen möge, da das Verlangen der Käufer kein beängstigend reges sei.

Da erlahmte ihr Eifer allgemach. Sie ließ die Stunden bei Herrn Kellermann einschlafen, zumal sein Drängen, der »gefesselten Schönheit« endlich Erlösung zu bringen, immer lästiger wurde. Sie verschloß die halbgefüllten Musterschränke und machte nur soviel fertig, als ihr Gönner bestellte und verwerten konnte.

O diese grausam dunkeln Tage, die kein Lachen erhellt, kein Warten verkürzt, kein Zweck miteinander verbindet!

Draußen in der Küche schaltete ein junges Dienstmädel, immer schweigsam, mit gierigen, allzu verstehenden Augen. Die Schleierfischchen bekamen jeden Morgen ihr frisches Wasser, und der kleine Zeisig piepte.

Wenn Abends die Lampen angezündet wurden und der Kristalllüster in blendendem Weiß erstrahlte, dann wurde es besser. Dann wanderte sie von Raum zu Raum, rückte an diesem Zierstück und an jenem und wiederholte sich unablässig, wie schön sie's hätte und wie glücklich sie wäre.

Aber was halfen die zartrosigen Teppiche mit den verschwimmenden Ranken darin, die weinrot dunkelnden Möbel und die mit Goldahnungen überhauchten Bronzeleiber? Sie, die übrigens im tiefsten Innern nichts wie Zinkguß waren, da sie ja der Fabrik von Liebert & Dehnicke entstammten. Und was half der holdselige Schreibtisch mit dem goldgekrönten Briefpapier darauf, wovon Herr Dehnicke gleich fünfhundert Bogen auf Vorrat hatte machen lassen? – Es gab niemand, der sich mit ihr freuen, niemand, den ihre Sehnsucht hätte herbeirufen können.

Oft setzte sie sich ans Klavier und ließ die Finger über die Tasten laufen. Aber sie tat es nicht mit der Freudigkeit, die sie von sich erwartet hatte. Die handfeste Schulung, die ihr im Elternhaus zu teil geworden, war längst zum Teufel gegangen. Was sie einst auswendig gekonnt, hatte sich verflüchtigt, und um neu zu lernen, fehlten ihr Ruhe und Geduld.

Ja, es war merkwürdig, welch eine Unruhe sie packte, sobald sie vor den Tasten saß! Ein Angstgefühl, eine Ahnung von äußerem Schrecken und innerem Unwert kam über sie. Sie konnte nicht anders, sie mußte den Deckel zuklappen und wieder umherwandern von Zimmer zu Zimmer, bis ihre Füße müde wurden und die zehnte Stunde sie zu Bette rief.

In diesen arbeitslosen, freudlosen Tagen war ein bohrendes, peitschendes Verlangen nach dem Manne in ihr erwacht, das ihre Nerven erzittern machte und ihr süß quälende Schauer über den Nacken jagte. –

Diese ganzen zwei Jahre lang hatten ihre Sinne geschwiegen. Was die senile Verderbtheit des Obersten in ihr entzündet, was der Wirbel jener herbstlichen Liebeswochen zu hellen Flammen angefacht hatte, war in Reuetränen ertränkt worden. Für immer, wie es schien. – Nun stand es, beseligend und beschämend, wieder auf und ließ sich durch kein Gebet und keinen Vorwurf zum Schweigen bringen.

Oft war ihr zu Mute, als müsse sie auf die Straße hinaus, nur um den Blick irgend eines Fremden zu streifen und – wie in verflossenen Dresdener Tagen – das Begehren nach ihr in sehnsüchtig verschleierten Augen auflodern zu sehen.

Aber was ihr da unten begegnen konnte, war roh und gemein und ließ sie bei der bloßen Vorstellung vor Grauen erbeben.

Die einzigen Wege, die sie machte, galten ihrer alten Wirtin.

Wohl eine Stunde dauerte es, bis sie dort war, und mancher naive Bewunderer, mancher gewitzte Flaneur tauchte neben ihr auf und suchte ein gefälliges Gespräch in Gang zu bringen, aber immer rannte sie, sich schüttelnd, auf die andere Straßenseite. Und hätte doch manchmal gern Antwort gegeben.

Wenn sie im Bette die Augen schloß, träumte sie von willensstarken, scharf geschnittenen Männergesichtern, zu denen sie in anschmiegsamem Glücke emporsah.

Auch von Herrn Dehnicke, dem Treuen, dem Braven, Tüchtigen, träumte sie oft.

Wenn er eines Tages kam und mit dem Stottern geheimen Schuldbewußtseins, das sie so gern an ihm hatte, zu ihr sagte: »Ich liebe Sie unmenschlich und will Sie zu meiner Frau haben« – was würde sie ihm antworten können?

Und allemal, wenn sie das dachte, hatte sie ein kleines, verstohlenes Wohlgefühl.

Nur von dem, der ihr nach Fug und Recht am nächsten stand, träumte sie nie. Manchmal, wenn ihre Sehnsucht gar nirgends Wurzel zu schlagen wußte, wachten freilich jene ängstlich-seligen Novembernächte wieder auf, aber statt Walters hätte auch irgend ein anderer deren Held sein können.

Er selbst war ihr so etwas wie Tyrann und Gewissen geworden.

Sie liebte ihn – natürlich! Wie hätte sie ihn nicht lieben sollen? Er war ja ihr »Bräutigam«, er arbeitete ja für sie. Aber manchmal, wenn sie, vor dem Sofa stehend, seine kühlen, blauen Augen hochmütig und herrisch auf sich ruhen fühlte und sich des armen, haltlosen kleinen Kerls erinnerte, der er in Wahrheit gewesen war, dann kam der Wunsch über sie, alles, was sie von seiner Seite her im Banne hielt, wie einen widersinnigen Alp von sich zu schütteln.

Hätte nur Herr Dehnicke nicht immer verehrungsvoll und andächtig auf ihn zurückgewiesen. Er selbst war ja nur der bescheidene Verwalter, der seinem geliebten Freunde einst Rechnung zu legen hatte, wenn er in Glanz und Ehren wiederkehrte.

Zweimal in der Woche kam er mit großer Pünktlichkeit, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, trank den Tee bei ihr und blieb so lange, daß er zum Kontorschluß noch im Geschäft sein konnte. Diese spärlichen Stunden waren allemal ein Fest für sie.

Wunder auch! Hatte sie doch niemanden außer ihm! War er doch der einzige, der sie mit der Welt zusammenhielt und der ihrem Leben Spannung und Ereignis gab.

Stundenlang schmückte sie den Teetisch für ihn, probte die Beleuchtungen, ordnete die Blumen und stand vor dem Spiegel – für ihn.

Wenn er ihr dann endlich gegenübersaß, gab es lange und ernsthafte Gespräche über die Sorgen, die ihn drückten, über die Pläne, die er wälzte, über seinen Ärger mit den Künstlern, die es als eine Schmach betrachteten, für den großen Markt zu arbeiten, und es nur täten, höhnisch und zähneknirschend, wenn ihnen das Messer an der Kehle saß. Über die unsolide Konkurrenz, die sich Paläste baute, um den Kunden Sand in die Augen zu streuen, und die ihn schließlich gezwungen hatte, sein altes, tüchtiges Geschäftshaus im Sinne modernen Prunkes umzugestalten.

Mit der Kundschaft sei es nun gar ein Elend. Die Kunstbestrebungen der Großstadt stellten gewissermaßen die moralische Forderung an ihn, zur Sezession überzugehen und langhalsige, schmalhüftige Leiber mit verzerrten Bewegungen und tollgewordenen Linien auf den Markt zu bringen; das eigentliche Publikum aber, das wohlmeinende und kaufkräftige, wolle von dem ganzen Wust nichts wissen, das hielte sich an Ritter und Edelfrauen, an Blumen pflückende und Wasser tragende Mägdelein, an kämpfende Hirsche und schaukelnde Affen, wie es vor dreißig Jahren getan hätte. So stände er also zwischen zwei Feuern, auf der einen Seite in Gefahr, als lächerlich und unmodern verschrien zu werden, auf der anderen, die Mehrzahl seiner altangestammten Käufer einzubüßen. Da müsse man vorsichtig mitten durch lavieren, und das sei ein hartes Stück Arbeit.

Auch von der Fabrik sprach er oft – mit den Hunderten fleißiger Hände, die tagaus, tagein für das Gedeihen des Hauses tätig waren. Und dem Musterlager, dessen Umbau sich der Vollendung näherte und das nach den Plänen des Architekten und der von ihm aufgerechneten Summe geradezu eine Sehenswürdigkeit zu werden schien.

»Aber was tut man nicht wegen der Konkurrenz!«

Lilly hörte ihm mit leuchtenden Augen zu.

An allem nahm sie Anteil. Alles wollte sie sehen und miterleben, nicht bloß das Werden des Musterlagers, auch das Walten in der Fabrik mit ihren Sälen und Maschinen, ihrem Rädergerassel, ihrem Flammenzischen und Feilengekreisch. Sie wurde nicht müde, zu fragen und zu forschen. Das Aussehen, das Benehmen der Arbeiter – ihre Bezahlung, ihre Schicksale, ihr Ende – von allem mußte sie wissen. Ihr war zu Mute, als läge dort das eigentliche Leben und ihres wäre nur ein dumpfer, träger Halbtraum.

»Ach, müssen Sie glücklich sein,« rief sie oft bewundernd, »so viele Menschenleben in der Hand zu halten.«

»Hätte man nur nicht ewig seinen Ärger mit dem Volk,« sagte er dann.

Aber sie wollte den Einwand nicht gelten lassen.

Er wäre sicherlich wie der liebe Gott für alle um ihn herum; das brächten seine Macht und sein gutes Herz so mit sich, auch wenn er's nicht empfände.

Solche Worte hörte er gern. Und mitten in ihrem Reden geschah es wohl, daß er, wie von einem großen, umstürzlerischen Gedanken ergriffen, plötzlich aufsprang, mit erregten Schritten im Zimmer umherlief und, vor ihr stehenbleibend, sorgenvoll und finster auf sie niederstarrte, als vermöchte er ringender Entschlüsse nicht Herr zu werden.

Lilly tat so, als bemerke sie nichts davon, aber sie wußte genau, was in solchen Augenblicken durch seine Seele ging.

»Bloß nicht nachhelfen!« dachte sie bei sich. »Was er will, muß er aus eigenem Antriebe tun, sonst wird er mir später gram deshalb.«

Und in zagender Hoffnung harrte sie der Dinge, die da kommen sollten.

Wäre nur das leidige Pflichtgefühl gegenüber Walter nicht gewesen, das er wahrscheinlich gleich ihr zur Hälfte empfand und zur anderen Hälfte nur spielte – um des Dekorums willen.

Und dann gab es noch eins, was sie bedenklich machte: daß er ihren oft ausgesprochenen Wunsch, ihr die Fabrik zu zeigen, trotz aller Zusagen nicht erfüllte.

Fast schien es, als wolle er auf seinem Grund und Boden nicht gern mit ihr zusammen gesehen werden.

Von seiner Mutter hingegen sprach er oft, scheute sich nicht, zu bekennen, wie sehr er unter ihrem Einfluß stand, und ließ auch durchblicken, daß er seine Kräfte freier zu entfalten wünsche … Beim Tode seines Vaters – vor nun bald zwölf Jahren – war er noch nicht mündig gewesen und hatte sich darum unter mütterliche Leitung stellen müssen. Diese Leitung war der alten Dame geblieben und wirkte auch heute noch so weit fort, daß jedes neue Unternehmen mit ihr besprochen und nach ihrem Dafürhalten ins Werk gesetzt wurde, selbst wenn er nicht ganz mit ihr einig war.

Lilly fühlte eine dumpfe Furcht in sich erwachen vor jener alten Frau, die hinter den bürgerlichen Porzellantöpfen gebieterisch in ihrem Lehnstuhl saß und einen so mächtigen Mann, wie ihr Gönner es war, nach Belieben zu lenken wußte.

Das Herz krampfte sich ihr zusammen, wenn sie sich den Augenblick ausmalte, in dem sie ihr zum ersten Male begegnen würde.


Gegen Weihnachten hatte sie wieder mehr zu tun gehabt. Zwei Dutzend neue Fenstervorsätzer waren verlangt worden und mußten bis zum Feste fertiggestellt werden. 24 x 30 = 720. Man konnte doch wieder vorwärtsschauen.

Zum ersten Male seit vier Jahren vergaß sie ihrer Mutter ein Christgeschenk in die Irrenanstalt zu schicken. Dafür hatte sie einen besonders »poetischen« Lampenschirm geklebt und Herrn Dehnickes Mutter am Tage vor Heiligabend anonym ins Haus gesandt. Aus welchem Grunde, wußte sie selbst nicht. Vielleicht war es eine Art von Opferspende, wie furchtsame Gemüter sie einstmals unbekannten Gottheiten als Sühne für unbekannte Fehle dargebracht haben.

Ihrem Freunde hatte sie auf die Gefahr hin, daß er vielleicht gar nicht kommen würde, eine kleine Bescherung aufgebaut und horchte seit der Dämmerung herzklopfend nach der Klingel hin.

Ihre Angst war umsonst gewesen. Um halb sechs Uhr erschien er, mit Päckchen beladen, wie der Weihnachtsmann selber im Dunkel des Hausflurs.

Es war taktvoll und prunklos, was er ihr mitgebracht hatte, kleiner Hausrat, der noch fehlte, ein paar Krägelchen, eine Persianerboa, – denn ihr Zobel mußte geschont werden, – auch etliche Nippes aus eigener Fabrik, um den halbleeren Schreibtisch zu beleben. Und bei jedem Freudenrufe, den sie ausstieß, wehrte er bescheiden ab. Es käme eigentlich ja alles von Walter, wie sie wohl wüßte.

»Und was kommt von Ihnen?« fragte sie.

»Gar nichts,« erwiderte er und kehrte lächelnd seine Hände nach außen.

»Dann weiß ich etwas, was Sie mir schenken können und womit Walter gar nichts zu tun hat.«

»Was könnte das wohl sein?«

»Daß ich endlich einmal die Fabrik sehen darf.«

Diesmal wehrte er sich nicht. Es wurde auch gleich ein Termin festgesetzt. Der erste Arbeitstag nach Neujahr sollte es sein, wenn alles wieder im Gange wäre. Und verlegen fügte er hinzu: »Aber, bitte, recht dunkel und einfach erscheinen.«

»Gehe ich sonst auffällig?« fragte sie erschrocken. Ihr war, als habe sie eine Ohrfeige bekommen.

»O, das will ich nicht sagen,« stotterte er, »aber Ihre guten Sachen könnten Schaden nehmen.«


Um die Mittagstunde des zweiten Januar stand sie vor dem Hause der Alten Jakobstraße, das sie seit jenem denkwürdigen ersten Besuch nicht wieder gesehen hatte.

»Nun ist es doch beinahe ein Schicksalsweg geworden,« dachte sie und sah verstohlen zu den Porzellantöpfen des ersten Stockwerkes empor. Und dabei schrak sie zusammen, denn ihr war gewesen, als habe ein weißer Scheitel sich hinter den Spitzenvorhängen bewegt.

»Das schmeckt nach bösem Gewissen,« dachte sie und schritt mit scheu-ehrfürchtigem Seitenblick an der Tür vorbei, die nach der lorbeerbestandenen Herrschaftstreppe führte, der Treppe, die ihr unwürdiger Fuß nicht eher betreten durfte, als bis sie wieder in den Kreis der bürgerlichen Ehren aufgenommen war.

Aber der Torweg stand ihr gastlich offen. Das Gerüst darin war entfernt. Wände und Säulen leuchteten herausfordernd in den Spiegelreflexen des falschen Marmors. Dahinter der Hof, dessen Pracht ihr noch immer das Herz beklemmte. Nun war auch auf der Kontorseite der grau verräucherte Stuck verschwunden. Statt seiner prangte eine weitausladende Sandsteinfassade mit den Büsten berühmter Künstler, und wo die armselige Holztreppe gestanden hatte, blinkten goldene Gitter.

Da eilte ihr Freund auch schon die Stufen hinunter.

Trotz des stechenden Frostes hatte er keinen Hut auf, und während er ihr die Hand zum Willkommen reichte, ließ er heimlich forschend den Blick an den Fensterreihen entlang wandern. Fast schien's, als habe er ein böses Gewissen gleich ihr.

Zuerst führte er sie in das Musterlager, das in seinem funkelnagelneuen Prunke ihre kühnsten Erwartungen übertraf.

Säulengetragene Hallen, von vergoldeten Kassettendecken überwölbt, reihten sich aneinander wie die Säle eines Museums, und in ihnen standen auf Tischen und Gestellen in endlosen Reihen, von Gold und Silberlichtern strahlend, von dem Funkeln kristallener Prismen durchsetzt, in dem heißen Rot des Kupfers glühend, zum Lichtgrün der Edelpatina sanft abgeschattet, Tausende von Werken deutschen Kunstfleißes, die bestimmt sind, als »imitierte Bronzen« die Schaufenster der Magazine zu füllen und den Anschein prunkliebender Wohlhabenheit bis in die Hütten der Armen zu tragen.

Da standen feiste Bettelmönche und Bolero tanzende Zigeunerinnen, äugelnde Stutzer und blasende Postillone, pickende Hühnchen und apportierende Jagdhunde – Drehkalender als Hufeisen – und Zigarrenabschneider als Sektflaschen … Da hielten drei Fuß hohe Pelikane Petroleumlampen im Schnabel, da reckten Männlein und Weiblein die Arme empor – genau wie in Herrn Kellermanns Atelier – doch nicht zwecklos wie dort, sondern um Vasen und Leuchter und Schalen zu tragen … Da gab es Lauben mit Liebespärchen darin und roten elektrischen Birnen zwischen den Blättern verborgen – und Heinzelmännchen neben leuchtenden Pilzen – und Nautilushörner als Aschenschalen – und Punschbowlen als Wassereimer, als antike Mischkrüge und als Nachttöpfe … Da wanden sich züngelnde Schlangen um kristallene Blumenkelche und porzellanene Hühnereier und kupferne Würfelbecher … Das ganze Elend vulgären Kunstempfindens schien in diesem glitzernden Knäuel zusammengekrochen, bereit auf alle fünf Weltteile losgelassen zu werden.

Und wenn Lilly bei diesem oder jenem Stücke ihrem Freunde einen fragenden oder befremdeten Blick zuwarf, zog er die Schultern hoch und meinte: »Das Publikum verlangt es so.«

Trotz mancher Mißempfindung hätte sie stundenlang zwischen all dem Geflimmer hin und her gehen können. Ihr war zu Mute, als ob sie von Rechts wegen hierher gehöre, und wenn man sie nach ihrem Urteil gefragt hätte, so würde sie ohne Besinnen gesagt haben: Dies wirf 'raus – und ebenso das – und ebenso jenes. Aber es fragte sie niemand. Alles ging seinen Weg auch ohne sie. –

Dann führte ihr Freund sie nach der Fabrik hinüber.

Die Gießerei, in der der grundlegende Teil der gesamten Arbeit geleistet wurde, war leider im Augenblick geschlossen. Lilly sah durch ein geöffnetes Fenster in schwarzgähnende Essen hinein, um die herum schmutzige Tröge standen. Alles war dick mit einer grauen Aschenschicht bedeckt. Kanten und Umrisse der Rauchfänge und Gefäße verschwammen in dem gleichen aschenfarbenen, wellenschlagenden Grau.

Dann ging es schmutzige Treppen hinan in feuchte, nach allerhand Giften riechende Räume, in denen aneinandergereiht mächtige Holzbottiche mit scheußlichen Flüssigkeiten standen. Ältere Männer, die aussahen wie finstere Gelehrte, aber doch nur Arbeiter waren, hantierten hier herum. Sie warfen bei Lillys Eintritt einen überraschten Blick an ihr hinauf, kümmerten sich dann aber nicht mehr um sie. Auch ihren Brotherrn grüßten sie nicht.

»Dies ist die Galvanisierungsanstalt,« erklärte Herr Dehnicke, und an den Bottichen entlang gehend: »Hier ist das Nickelbad – das Stahlbad – das Silberbad und so weiter.«

Auf einer Empore, die von einem Eisennetz umgeben war, wirbelten die Räder einer Maschine, und zwischen ihnen flammten buntfarbene Lämpchen.

»Dort wird die Kraft erzeugt,« sagte Herr Dehnicke, »die den galvanischen Strom durch die verschiedenen Bäder treibt.«

Das verstand Lilly nicht, aber sie freute sich an dem unbegreiflich raschen Schwunge der Räder und dem gemäßigten Lärm, den sie vollführten.

»Das wird noch toller kommen,« dachte sie, und erwartete schon beim Aufschlagen der nächsten Tür einen ohrenbetäubenden Donner losbrechen zu hören.

Doch nichts davon geschah. Jene Maschine blieb die einzige, die in den vielen Sälen der Fabrik zu ihrem Vergnügen Skandal machte.

In der Werkstätte der Ziseleure arbeiteten an langen Tischen viele fleißige Männer, um die Unebenheiten des Rohgusses zu beseitigen und die einzelnen Teile für ein späteres Zusammengefügtwerden fertigzustellen. Dies geschah in dem sich anschließenden Raume, wo die Lötrohrflammen stachen und zischten und Wölkchen metallischen Dunstes, Funken schleudernd, in der Luft versprühten … Neben jedem Arbeiter lagen kleine Häuflein von blanken Armen und Beinen, die aussahen, als wären sie abgehackt und hätten den Körper, zu dem sie gehörten, verkrüppelt zurückgelassen.

Dann folgte die »Treiberei«, in der die dünneren Teile auf bequeme Art in eisernen Stanzen zurechtgeschlagen wurden. Hier entstand alles Blatt- und Blütenzeug und was an Schleifen und Bändern und Arabesken sich ringelt und zierlich in der Luft hängt. Umso plumper und schwerfälliger sahen die arbeitenden Männer aus, die bei dem Eintritt der beiden kaum den Blick erhoben und stumpfsinnig weiter hämmerten.

Wohin sie auch kam, überall hatte Lilly ein schärferes Auge für Miene und Gebaren der Arbeiter selbst, als für das Werk, das sie schufen. Sie unternahm heimliche Vergleiche, stellte fest, wem es gut ging und wem schlecht, wer gern tätig war und wer nur, durch Not oder Krankheit gezwungen, sein Tagewerk herunterschuftete. Fast jede Werkstatt hatte ein eigenes Gesicht. In der einen schien die Mehrzahl frisch und rührig, in der anderen abgenutzt und abgemattet. Und wie schon oft, wenn Herr Dehnicke ihr von seinen Arbeitern erzählt hatte, erwachte ein widersinniges Verlangen in ihr, alle diese Schicksale in ihrer Hand zu halten, zu helfen, wo es nottat, den Murrenden ein Sonnenschein, den Leidenden ein guter Engel zu werden. Aber sie hütete sich wohl, ihm von dieser Verrücktheit etwas mitzuteilen.

»Jetzt kommen wir zu dem Allerknifflichsten,« sagte er, »den Patinierern, die den Stücken ihr eigentliches Ansehen zu geben haben.«

Und er öffnete die Tür zu einer nächsten Werkstatt, in der es wieder nach tausend Giften roch.

Hier waren neben den Männern auch Frauen tätig, die mit Lack und Säuren wischten, pinselten und rieben. Sie sahen fahl und abgetrieben aus und wurden bei Lillys Eintritt von solchem Staunen ergriffen, daß sie Pinsel und Lappen sinken ließen und sie fassungslos anstarrten.

»Bei diesen müßte man anfangen, wenn man das Vertrauen von allen gewinnen will,« dachte sie und nickte ihnen freundlich grüßend zu, aber sie schienen das als Hohn oder Tadel aufzufassen, denn sie wandten sich mit einer Grimasse, die beinahe verächtlich war, an ihre Arbeit zurück.

Umso freudigeres Aufsehen erregte Lillys Erscheinen in dem nächsten Saale, der Packerei, wo ausschließlich Frauen und Mädchen beschäftigt waren. Sie lachten, tuschelten und stießen einander mit den Ellenbogen.

Nur eine nahm keine Notiz von ihr. Sie war hochschwanger und schien sich nur mit Mühe auf den Beinen halten zu können. Sie hielt die erschlafften Lippen fest ineinandergekniffen, eine grelle Röte verfleckte ihre Wangen, und derweilen arbeiteten ihre Arme in fiebrigem Eifer, eine Papierspirale nach der anderen um die Glieder der Figur herumzuwickeln, die vor ihr auf dem Tische stand und sich dienernd bald nach rechts, bald nach links hinüberneigte.

»Darf man ihr etwas geben?« fragte Lilly, ihren Freund beiseite führend.

»Es wird für sie gesorgt,« erwiderte er, wie es schien, unangenehm berührt …

Damit öffnete er rasch die nächste Tür.

»Hier geht es nach dem eigentlichen Lager,« sagte er, »da bleiben die fertigen Stücke so lange, bis sie verlangt werden, abgesehen von denen, die ich nur auf Bestellung arbeiten lasse.«

Lilly schaute eine enge, düstere Galerie entlang, aus der die Winterkälte ihr entgegenschlug und wo in Fächern und auf Gestellen unzählige abenteuerliche, gespensterhafte Wesen standen, die, durch ihre grauen Papierhüllen gestaltlos geworden, Menschlein, Gnomen, kleine Ungeheuer, aber jedenfalls etwas Lebendiges zu sein schienen, das nur durch Zufall erstarrt war.

»Ach, ist das merkwürdig,« sagte Lilly mit einem kleinen Frösteln und machte sich bereit, den langen, schmalen Gang hinabzuschreiten, vor dessen Fensterscheiben ein graugebuckelter Vorhang von Eis- und Schneekristallen lag.

In diesem Augenblick bemerkte sie, daß ihr Freund in plötzlichem Erschrecken zusammenzuckte, einen ratlosen Blick in die Runde sandte und dann plötzlich, den Weg versperrend, vor sie hin trat.

»Was haben Sie?« fragte sie verwundert.

»Es ist besser,« erwiderte er, sich ganz und gar verfärbend, »wir gehen hier nicht weiter – – wir nehmen lieber einen anderen Weg … Es ist hier auch nichts zu sehen … Gar nichts zu sehen … Sie sehen ja selber, daß hier nichts zu sehen ist.«

Dabei hatte er sich so dicht vor sie hingestellt, daß ihr jeder Blick die langen Gestelle hinunter versperrt blieb.

Dadurch wurde ihre Neugier natürlich erst recht angestachelt.

»Ich möchte aber gerne,« sagte sie und machte das trotzig-hochmütige Gesicht, mit dem sie ihn sonst stets bezwang.

»Nein, nein, nein,« stieß er hastig hervor, »dies hier ist Geschäftsgeheimnis, das darf ich niemandem verraten … Selbst die Angehörigen des Hauses kommen hier nicht herein. Beim besten Willen – es geht nicht.«

»Dann hätten Sie mich gar nicht erst hereinführen sollen,« sagte sie und wandte sich verletzt zum Eingang zurück.

Er erschöpfte sich in Entschuldigungen, er war vor Erregung ganz heiser geworden und hustete immerzu. Und so führte er sie die schmutzigen Treppen wieder hinab, über den von hellen Mosaiken leuchtenden Hof, zu den falschen Marmorsäulen der Einfahrt, an denen ein eisiger Zugwind vorüberstrich.

»Sie werden sich erkälten,« sagte sie, um sich rasch zu verabschieden.

Er fuhr auf wie in plötzlicher Erleuchtung.

»Und dann war es übrigens auch ungeheizt auf dem Lager,« rief er.

»Auf den Einfall hätten Sie früher kommen müssen,« erwiderte sie, ihm die Hand reichend, mit einem Lächeln halben Versöhntseins. Er tat ihr gar zu leid in seiner unbeholfenen Bekümmernis.

Aber gekränkt blieb sie doch. Und ein wenig beunruhigt. Der Tag, auf den sie sich seit Monaten gefreut hatte, endete mit einem Mißklang …

Und so oft sie ihn später auch fragen mochte, Herr Dehnicke sagte ihr nicht, welches Geheimnis sein Warenlager in sich barg.


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