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XVIII

Nein. Es kam anders.

Mit so plumpen Händen griff das Schicksal nicht nach ihr.

Es ersparte ihr die Schmach, wie eine Verbrecherin erwischt zu werden, und gab ihr die Möglichkeit, durch eine Tat der Selbstbestimmung zu erweisen, daß sie des Empfindens nicht unwert war, welches ihr Leben gesegnet hatte.

Seitdem das Wort »Salmoni« gefallen war, wagte sie sich kaum noch mit Konrad auf die Straße hinaus. Ging sie Abends an seinem Arm, so glaubte sie in dem Schritte jedes Nachfolgenden den Gefürchteten zu erkennen, der, wie er sie einst im Dunklen vor dem Hause der Alten Jakobstraße beschlichen hatte, auch jetzt zu jeder Stunde hinter ihr her sein konnte.

Um von der Qual dieser Ausgänge befreit zu werden, erzählte sie Konrad schließlich, eine Dame ihres Bekanntenkreises habe sie gestern besucht und sich dabei in höchst anzüglicher Weise nach dem schlanken, jungen Manne erkundigt, mit dem sie jetzt immer zu sehen sei.

Die Wirkung dieser Notlüge war eine erschreckende.

Er sprach nicht, er aß nicht, er ging verstört im Zimmer umher und verließ sie zu einer Stunde, in der die Feuer ihres Glückes sich sonst grade erst zu entzünden pflegten.

Der folgende Tag brachte eine Klärung der Lage.

Um die Abendstunde kam er, war noch blässer als sonst und hatte unnatürlich leuchtende Augen.

»Höre, Liebling,« sagte er, »ich bin die Nacht über mit mir zu Rate gegangen, – ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. So darf es nicht weitergehen.«

Sie dachte nichts anderes, als daß er sich von ihr trennen wolle. Ein kaltes Erstarren lief vom Hinterkopf aus über sie hin, sie sah ihn ruhig an und erwartete den Todeshieb.

»Seitdem wir uns angehören,« fuhr er fort, »ist über deinen bisherigen Bräutigam zwischen uns nie mehr geredet worden. Umsomehr habe ich im stillen an ihn gedacht. Auch was euren beiderseitigen Freund betrifft, bist du immer sehr schweigsam gewesen. Ich weiß nur, daß er augenblicklich auf Reisen ist und dich sozusagen ohne Aufsicht gelassen hat.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. Mochte er doch schon ein Ende machen.

»Heute kann ich dir gestehen, daß ich mitten in allem Glücke dies Ausnützen der Situation, soweit ich dabei mitspiele, immer als etwas geradezu Jämmerliches empfunden habe. Aber auf mich kommt es jetzt nicht an … Die Frage ist: Was wird aus dir? … Was ich von Anfang an gefürchtet habe, mußte einmal kommen: Man ist auf uns beide aufmerksam geworden … Um Geheimhalten darfst du niemand bitten … Soweit erniedrigt man sich nicht … Der beiderseitige Freund wird also alles erfahren, er wird dich zur Rechenschaft ziehen, du wirst zu stolz sein, um zu leugnen, und das Ende vom Liede wird sein, daß du verlassen und vereinsamt dastehen wirst – ohne irgendwelchen Schutz auf der Welt. Denn ich habe ja, wie die Dinge jetzt liegen, noch nicht einmal das Recht, dich zu schützen … Diesen Gedanken mag ein anderer ertragen.«

Er sprang auf, griff mit gespreizten Fingern durch die Mähne, die nicht da war, und trappte auf und nieder.

Sie fühlte, wie ihr mit dem wiederfließenden Blute langsam Leben und Denken zurückkehrten.

Der liebe, edle, ahnungslose Junge!

Beinahe hätte sie hellauf gelacht. Aber sie bezwang sich und sagte: »Du kannst ganz ruhig sein, Konni. Sein Freund wird nichts erfahren. Und selbst, wenn er was erfährt, wird er es nicht glauben. Und selbst wenn er's glaubt, wird er sich im gegebenen Falle schön hüten –«

Sie konnte nicht weiter. Die großen, unschuldigen Augen machten ihr bange.

»Du denkst also immer noch an – –?«

Auch er stockte. Auch er fand kein Wort für das Nichtauszusprechende.

Sie besah die Knöpfe ihres Kleides und antwortete nicht.

»Wann kommt dein Herr Dehnicke wieder nach Hause?« fragte er weiter.

»Das ist unbestimmt. Er geht auf die Brautschau,« erwiderte sie mit einem kleinen Triumphgefühl, denn sie glaubte damit etwas gesagt zu haben, was sie über jeden künftigen Verdacht – und der war ja immerhin möglich – himmelhoch hinaushob.

»Und wo hält er sich jetzt auf?«

»Wozu willst du das wissen?«

»Weil ich mit ihm zu reden habe.«

Sie begriff nicht, was sie hörte.

Das konnte ja nicht sein. Einer von ihnen beiden war nicht bei Verstand.

»Sei ohne Sorge,« beruhigte er. »Was ich deiner Ehre schuldig bin, das weiß ich ganz genau. Aber ich will endlich einmal erfahren, wie er sich eigentlich deine Lage denkt … Da sitzt jemand in Amerika, der hält dein Wort in der Hand und läßt nichts von sich hören … Kommt nicht … Schreibt nicht … Warum schreibt er nicht? … Wenn er nicht weiß, wo du bist, so weiß er doch, wo jener Herr Dehnicke ist, dessen Geschäft ja in Berlin einen bekannten Namen hat … Man ist nicht einmal sicher, ob er überhaupt noch lebt … Anfangs hab' ich mir sein Schweigen auf diese oder jene Art zu erklären gesucht. Aber jetzt sag' ich mir: Es gibt keine Erklärung dafür, außer, daß er tot oder verkommen ist … Und da sollst du dich immer noch für gebunden halten? Sollst deine ganze gesellschaftliche Existenz von einer Art Ehrenwache abhängig machen, die nichts mehr zu bewachen hat? … Das will ich dem beiderseitigen Freunde mal unter die Nase halten. Darauf wird er mir antworten müssen … Oder meinst du nicht?«

»Er hat doch noch weniger Weltkenntnis, als erlaubt ist,« dachte sie mitleidig, und laut erwiderte sie: »Ich versteh' nur nicht recht, Konni, mit welchem Rechte du einen fremden Herrn zur Rede stellen willst.«

»Das ist meine Sache,« erwiderte er, den Kopf mit einem trotzigen Ruck nach hintenüber werfend. »Erst muß ich wissen, ob man dich frei gibt. Ich dulde nicht, daß man dir gegenüber den Sklavenhalter spielt.«

»Und ich dulde nicht, daß du dich in eine falsche Lage bringst,« rief sie in neu aufwachender Angst. – In ihren Ohren dröhnte es schon von Ohrfeigen und Pistolenschüssen. – »Ich werde selber mit Herrn Dehnicke sprechen; ich werd' mich schon frei machen, das verspreche ich dir … Aber du – wenn du zu ihm gehst, was soll er sich da von mir denken? Damit kannst du mich doch höchstens bloß kompromittieren.«

Er wuchs in den Schultern empor. – Sein Auge war das eines Siegers.

»Wenn ein Mann dich liebt und zur Frau haben will, wie soll dich das kompromittieren?«


Es war dunstig-heiße Dämmerung, als dieses Wort gesprochen wurde. Der kleine Zeisig ließ jappend im Sande die Flügel hängen – die Schleierschwänze standen unbeweglich hinter der warmen Glaswand, und das nackte Äffchen winselte im Schlafe …

Blauschwarze Wolkenballen spiegelten sich in dem schleimigen Kanalwasser. Gewitterdrohen lag in der Luft, – und dies war der Blitzschlag.

Das erste, was sie fühlte, war ein Schreck – kein freudiger, wahrhaftig nicht – dann kam ein unsagbar klägliches Schreien, das keines Menschen Ohr vernahm und das umso weher tat in seiner Stummheit: »Zu spät – verspielt – nichts mehr zu wollen! – – Kein Glück mehr auf Erden – – für alles zu spät!«

Sie lehnte sich gegen die Sofawand und studierte die Zimmerdecke aufmerksam und gründlich.

Er erwartete seine Antwort.

Wenn sie die Blicke senkte, mußte sie seinen Augen begegnen, deren Feuer an ihrer Seele fraß. Keine Rettung vor diesen Augen, keine Rettung vor dem, was kommen mußte!

Und er wartete.

Da hörte sie die eigene Stimme, ganz ruhig, ganz klar, als spräche statt ihrer Frau Jula, die Lebenskünstlerin mit der eisernen Stirn: »Ich denke, lieber Konni, es war abgemacht, daß wir uns niemals heiraten würden!«

»Wie kannst du mich daran erinnern?« rief er heftig. »Hab' ich denn gewußt, wie's kommen würde, als ich das sagte? Hab' ich denn gewußt, wer du bist, und was ein Götterweib wie du einem armen Teufel an Seligkeit und Quälerei geben kann? … Jawohl, auch an Quälerei. Heute muß alles heraus. Ich weiß nicht mehr aus noch ein. Es ist ein Riß in meinem Leben … Alles ist zerrissen … Meine Arbeit, mein Denken, mein Glaube an dich … Du willst mein guter Genius sein, und du wirst beinahe mein böser … Sei still, du bist nicht Schuld daran, ich mach' dir keinen Vorwurf … Nur mir – und daß ich so schwach bin … Ich will arbeiten, ich muß arbeiten … Ich hab' mir jetzt noch ein Schock neue Pflichten aufgeladen, denn ich dachte, wenn die Pflicht von außen kommt, dann würde ich's eher zwingen. Aber das Gegenteil ist der Fall … Ich verblöde geradezu vor lauter inneren Kämpfen … Ich muß Frieden in unser Leben bringen, sonst sind wir beide verloren … Das kann ich bloß, wenn du ganzzu mir gehörst. Wenn dein Bett an meinem Bett steht und im Zimmer daneben der Schreibtisch … Wenn du immer bei mir bist.«

»Ich kann ja im Herbst zu dir ziehen,« warf sie schüchtern ein.

»Nein, nichts mehr von so was … Kein Selbstvorwurf und keine Heimlichkeit und nichts … Soll ich mir sagen: jeder Tag länger, den sie mir opfert, ruiniert sie umso mehr? Nun, selbstverständlich ruiniert dich das … Das bleibt an dir hängen als Schmutz … Und weshalb sollen wir Schmutz machen aus dem Heiligsten, was wir haben? Oder ist dir etwa meine Existenz für die Dauer nicht gut genug? … Meinst du, du wirst es zu ärmlich haben als meine Frau?«

In der Empörung über diesen Gedanken schrie sie hell auf.

»Was und wieviel du hast,« fuhr er fort, »weiß ich nicht und brauch' ich auch gar nicht zu wissen. Ich bin selber reich genug. Dreihundert Mark monatlich bekomm' ich vom Onkel, vierhundert Mark zahlt mir Doktor Salmoni –«

Ach, wie sie aufzuckte beim Namen »Salmoni«!

»Außerdem verdien' ich mit Leichtigkeit dreihundert Mark durch weitere Aufsätze hinzu, – macht tausend Mark im Monat … So viel bekommt ein General … Damit kannst du auch zufrieden sein.«

»Sei still,« rief sie, kaum noch an sich haltend. »Das ist es ja nicht.«

»Was ist es denn sonst?«

Er pflanzte sich herausfordernd vor ihr auf. Zwischen den Brauen standen die Zornfalten, wie mit dem Messer geschnitten. Sie duckte sich. Seit den Tagen des Obersten hatte sie vor keinem Manne eine solche Angst empfunden.

»Nun sag' doch mal endlich, was es ist? Augenscheinlich hast du mich nicht lieb genug – – hängst immer noch an jenem, der dich längst vergessen hat! … Hast dir wahrscheinlich gesagt: Zum Liebhaben kann ich den dummen Jungen brauchen. Um mir inzwischen die Zeit zu vertreiben, dazu reicht er allenfalls aus … Aber wenn er in mein ferneres Leben eingreifen will, dann muß ich ihn schleunigst loswerden, nicht wahr? – Sag' doch! – hab' doch die Courage! … Was kann ich dir viel tun? Sag' doch, daß ich bloß ein Lückenbüßer bin … So was nimmt man nicht zum Mann. Erst wenn es was geworden ist, dann sieht man es auch aufs Heiraten hin an. – Ist's nicht so? – Na also.«

Er hatte seinen Hut ergriffen und schickte sich zum Gehen an.

»Hab' doch Mitleid mit mir, Konni,« flehte sie.

Sie war von ihrem Sitz herabgeglitten, um den Kopf auf seine Kniee zu legen. Nun kauerte sie zwischen Sofa und Sessel und suchte nach einem Halt.

»Ich brauche dein Mitleid nicht, du brauchst mein Mitleid nicht,« rief er. »Du bist mir bis heute das Höchste gewesen, was es auf Erden gibt. Aber mit der Hand wegwischen lass' ich mich nicht. Sag' mir, weswegen du mich nicht heiraten willst … Einen plausiblen Grund, und ich werde nie mehr darauf zurückkommen. Das versprech' ich dir.«

»Laß mir Zeit bis morgen,« stöhnte sie.

»Warum? wozu? Was morgen gilt, gilt auch heute. Ich bin am Ende. Ich kann mich nicht noch abquälen die ganze Nacht hindurch.«

»Ich werde dir schreiben.«

Nun stutzte er.

»Was wirst du mir schreiben?«

»Ob ich darf oder nicht. Und die Gründe und alles.«

»Irgend ein Ausweg wird sich schon finden über Nacht,« dachte sie dabei.

»Wann werd' ich den Brief haben?«

»Morgen früh – mit der ersten Post.«

»Bis dahin werd' ich warten. Leb wohl solange, Lilly.«

Da – wie er zum Abschied die Hand nach ihr ausstreckte, um sie auf ihren Sitz zurückzuheben, und sie seine Augen mit dem großen, offnen, durch keine Lüge je getrübten Blicke – ohne Argwohn auch jetzt noch – auf sich gerichtet sah, da fühlte sie plötzlich, daß es kein Entrinnen mehr für sie gab.

Wie ein heißer, lösender Strom ergoß es sich über sie: »Wahrheit! Wahrheit! Ob du daran zu Grunde gehst oder nicht, jetzt muß er Wahrheit haben.«

Nur sie ihm ins Gesicht zu sagen, dazu war keine Menschenkraft im stande. – – –

Als sie allein war, kam zuerst ein Rückschlag. Der Trieb der Selbsterhaltung verlangte sein Recht. Was Frau Jula konnte, das konnte sie auch. Die hatte noch ganz andere Dinge auf dem Kerbholz.

Daß Richard schweigen würde, verstand sich von selbst. Und darauf vor allem kam es an. Jetzt, da er seine eigenen Wege gehen wollte, hatte er selbst das lebhafteste Interesse daran, sie auf gute Manier aus seinem Leben verschwinden zu lassen. Die andern von der Bande mochten schwatzen, was sie wollten. Deren Gift reichte nicht bis zu Konrads Ferse hinauf … Der einzig Gefährliche war Doktor Salmoni. Aber ein baldiger Bittgang würde auch ihn zum Mundhalten bewegen. Hatte er doch Ursache genug, dafür zu sorgen, daß der beschämend abgeschlagene Angriff auf sie im dunkeln blieb. Und übrigens: »Ein Lächeln muß man auf der Stirne tragen, aber darunter muß sie von Eisen sein«, hatte Frau Jula gesagt.

So überlegte sie.

Doch mitten im Grübeln und Planen erfaßte sie ein Ekel vor sich und ihrem Vorhaben, so daß wie durch einen Faustschlag das ganze Schandgewebe in Fetzen ging …

Es war ja auch alles Wahnsinn, was sie von sich verlangte!

Wie sollte sie, die nach dem bloßen Hören des Namens »Salmoni« sich mit Konrad nicht mehr auf die Straße getraut hatte, ein Leben hindurch an seiner Seite standhalten, ohne in zitternder Angst dahin zu siechen? Wieviel Zurückweisungen und Demütigungen harrten ihrer, sobald Konrad Miene machte, sie der Gesellschaft zuzuführen, in die sie als seine Gattin gehörte! Sie, die bereits als hoffnungsvoller Nachwuchs der hohen Kokotterie die Zeitungen beschäftigt hatte! Und wenn gar er selbst erst Argwohn schöpfte! – Wie würde er sich verzehren in Scham und Grauen, er, der Stolze, der Feinfühlige, dessen weltfremde Lauterkeit allein die Schuld daran trug, daß von ihrem eigentlichen Leben noch keine Ahnung in ihm erzitterte.

Welch ein Erwachen mußte das werden nach kurzem, quälerischem Angsttraum!

Nein, was Frau Jula konnte, das konnte sie nicht.

Und weit warf sie den schmachvollen Gedanken von sich, mit dem die Not der Stunde ihre ringende Seele befleckt hatte.

Ein jauchzender Drang nach Selbstvernichtung kam über sie, ein Drang, sich die Brust aufzureißen und ihm das zuckende Herz vor die Füße zu werfen.

Und sie setzte sich nieder und schrieb:

 

»Mein lieber, süßer Konni!

Ich habe Dich schmählich betrogen. Ich bin eine Dirne. Oder nicht viel mehr als eine. Der Bräutigam, von dem ich Dir vorerzählt habe, ist eine Fabel. Jener kleine, weggejagte Leutnant, mit dem ich aus böser Lust die Ehe brach, hat niemals daran gedacht mich zu heiraten, sondern mich einem reichen Freunde zugewiesen, der seine Mätresse aus mir machte. Und das bin ich auch jetzt noch. In der Welt des Lasters und der Gemeinheit lebe ich seit Jahren dahin. Aus jeder anständigen Gesellschaft bin ich verstoßen. Ausgehaltene Weiber und deren zahlende Liebhaber sind mein einziger Verkehr. An Dich habe ich mich geklammert, weil Du in Deiner Unwissenheit mich achtetest und ich aus meinem Sumpf heraus nach Achtung schrie.

So, jetzt weißt Du, warum ich Dein Weib nicht werden darf. Verlangst Du nach meinen Küssen, so komm. Zu etwas anderem tauge ich nicht mehr.

Lilly.«

 

Die Uhr ging auf elf. Adele hatte sich zu Bette gelegt. Sie sah, daß sie selbst würde hinuntergehen müssen, um den Brief in den Kasten zu werfen.

Aber das Gewitter, das den Nachmittag über gedroht hatte, war grade dabei, sich auszurasen. Platzregen rasselte herab. Windstöße, tropfenschwer, jagten durch die geöffneten Fenster über den Schreibtisch hin. –

Der eine benetzte das Blatt, auf das sie heißen, trockenen Auges niederstarrte. Nun sah es aus, als hätten Tränen beim Schreiben es durchnäßt.

»Das macht sich gut«, dachte sie.

Dann schämte sie sich. Die Zeit des Komödienspielens war vorüber. Aber als sie sich anschickte, den Brief noch einmal zu schreiben, da hielt sie vor Grauen inne.

Was wollten diese ungeheuerlichen Selbstbezichtigungen? War das etwa die Wahrheit?

Im Munde einer schmähenden Freundin vielleicht, die nur Tatsachen braucht, um daraus Verbrechen zu drehen, oder eines jener gesellschaftlichen Henkersknechte, die zu jeder Vergangenheit ein Richtschwert bereit halten.

Für sie selber, die wußte, wie alles geworden war, wie sich aus innerer Not und äußerem Zwange, aus vertrauendem Nachgeben und wehrlosem Nichtanderskönnen Glied um Glied der Kette zusammengefügt hatte, die jetzt als Lebensschuld an ihrem Leibe klirrte, für sie gab es eine andere – mildere – Wahrheit, die sie vor jedem Verstehenden entschuldigen und entsühnen mußte.

Sie zerriß den Bogen und hub von neuem an; verfaßte einen Entwurf und feilte so lange, bis sie zufrieden sein konnte.

Der Brief lautete nun folgendermaßen:

 

»Mein heißgeliebter Freund!

Die dieses schreibt, ist eine tiefunglückliche Frau, die Du nur zu einem kleinen Teile kennst und die Dich bis heute täuschen mußte, weil ihr Heiligstes, die Liebe zu Dir, auf dem Spiele stand.

Mit diesen Zeilen sinkt auch das dahin. Ich opfere es um Deines Glückes willen, um des göttlichen Feuers willen, das mir aus Deinen Augen weihend und beseligend entgegenschlägt.

Die Welt hat schlimm an mir gehandelt. Sie hat mir meinen Menschheitsglauben, meine Ideale, meinen tapferen Willen aus der Brust gerissen, hat mich zur Sünderin gemacht und mir dadurch das Recht genommen, an Deiner Seite durchs Leben zu gehen.

Vertrauend und hoffend, rein bis in die letzte Faser meines Herzens hinein, so habe ich einst meinen Wandergang begonnen. Jeder Mann, der in mein Dasein trat, hat ein Stück von meinem Werte abgebröckelt.

Ich habe meine Augen anbetend aufgehoben zu dem alternden Gatten, der mir Held und Meister, Vorbild und Abgott zu werden versprach. Er hat ein Werkzeug niedriger Lüste aus mir gemacht.

Ein anderer ist gekommen, der jung war wie ich, der in die Irre ging wie ich, und den ich zu retten begehrte, indem ich mich selber zu ihm rettete. Er hat mich genommen und ausgekostet wie ein kitzelndes Abenteuer und ist dran zu Grunde gegangen.

Mit einem Uriasbrief wies er mich einem Freunde zu, der meine Seelen- und Leibesnot ausnützte und durch schmachvollen Betrug meine Existenz so sehr von sich abhängig machte, daß ich längst schon als sein Geschöpf dahinlebte, als ich mich immer noch für frei und unberührt hielt. Hilflos und zerbrochen, wie ich war, fiel ich ihm ganz anheim und wagte nicht einmal ihm zu zürnen, denn ich war sklavisch in seiner Gewalt. Damals wie bis jetzt.

Nunmehr hatte sich mein Schicksal erfüllt. Wohl suchte ich mich verzweifelt aus dumpfer Seelennacht emporzuringen, aber nirgends gab es einen Weg zum Lichte. Wohl griff ich voll Inbrunst nach jeder Helferhand, aber jede stieß mich noch tiefer hinab, bis mein ganzes Sein in Mutlosigkeit erstarrte.

Da kamst Du, mein Geliebter, mein Retter, mein Heiland! Da wurde es wieder Licht um mich, da blühte wieder die Welt, da flossen wieder die verschütteten Quellen, da klang wieder das Hohe Lied.

Und mit Stolz und Entzücken erkannte ich, daß nichts Schimpfliches sich in mir festgesetzt hatte, daß die Zeiten der Erniedrigung an mir vorübergezogen waren, ohne mir meine innere Würde, mein Verlangen nach Reinheit, meinen Instinkt für großes, edles Menschentum zu nichte zu machen. Das alles schlief nur, und Du, Geliebter, hast es wach gerufen.

Und wenn ich auch Dein Weib nicht werden darf, – Dir geziemt eine, die keinerlei Makel an sich trägt – so will ich Deiner doch wert sein, Dir fern oder nah, wohin Du mich weisen wirst.

Ich bin längst entschlossen, die Fesseln abzustreifen, die übrigens seit Jahren nur äußerlich bestehen, und aus Not und Kampf emporzusteigen zu einem Leben, das mich mit den Forderungen meines Innern wieder in Einklang bringt. Den Weg dahin hast Du mir gewiesen. Und dafür küsse ich Dir dankbar die liebe, zarte, fleißige Hand.

Lebe wohl, Geliebter! Willst Du mich schelten, dann komm nie mehr. Willst und kannst Du vorlieb nehmen mit der Liebe einer, die Dich liebt, wie nie wieder ein Weib auf Erden Dich lieben wird, dann laß mich nicht verloren gehen. Ich habe Dir nichts zu geben, als was ich bin, aber das gehört Dir auch bis in den Tod.

Lilly.«

 

Sie überlas das Geschriebene wieder und wieder und berauschte sich daran.

Jetzt sah die Wahrheit schon ganz anders aus.

Und dann stieg plötzlich die Frage in ihr auf: »Ist das etwa die Wahrheit?«

War es nicht vielmehr ein Schwelgen in ausgesuchten Worten, ein Schmuggelgut fremder, hochtrabender Gefühle, die sie sich nachträglich zurecht gemacht hatte? Ausdrücke wie »dumpfe Seelennacht« und »verzweifeltes Emporringen« gehörten in verstiegene Romane, doch nicht zu ihr. Statt Verzweiflung hatte sie meistens nur Langeweile empfunden, und in ihrer dumpfen Seelennacht hatte sie sich manches liebe Mal ganz köstlich unterhalten. – Der brave Richard war in ihren Andeutungen ein unterjochender Despot und sie selbst ein armes, geknebeltes Opfer geworden, während sie doch im Grunde immer hatte tun und lassen können, was ihr beliebte.

Es war Wahrheit und war es auch nicht. – Gerade so viel und so wenig, wie in jenem ersten schauerlichen Briefe gestanden hatte. Man konnte den einen schreiben und den andern und noch manchen außerdem, aber die Wahrheit, die wahre, die echte, die wie ein Gottesauge alles durchdrang und klärte, die würde keiner enthalten.

Die wußte sie selbst nicht und wußte niemand.

Die war versunken mit den Augenblicken des Geschehens, und keine Erdenmacht rief sie wieder empor. – Verlogene Spiegelungen, die wechselten, wie Stimmung und Federführung wechselten, – das war alles, was davon übrig war.

»Ich will aber nicht mehr lügen,« schrie sie sich zu. »Heute will ich wahr sein.«

Und sie zerriß auch diesen Brief.

Was nun? Einen dritten schreiben?

Mitternacht war längst vorüber. Die Augenhöhlen brannten. In den Schläfen bohrten die Stiche der Überreizung. Und morgen früh mußte er seine Nachricht haben, das war versprochen und beschworen.

Da erst kam ihr plötzlich zum Bewußtsein, was eigentlich mit ihr geschehen war, und daß sie seit vier Stunden der Gefahr ins Auge sah, ihn auf der Stelle und für immer zu verlieren.

Eine sinnlos machende Angst überfiel sie. Sie lief in der Wohnung umher, taumelte, rannte gegen die Wände, wollte zum Fenster hinaus und schrie seinen Namen.

Zu ihm – sofort zu ihm – das war der einzige Gedanke, den sie zu fassen vermochte. Sich das Haustor öffnen lassen, ihn aus dem Schlafe wecken, in sein Zimmer dringen und bei ihm bleiben – heute nacht und immer! … Mochte mit ihr geschehen, was da wollte … Alles war gleichgültig – nur diese Angst nicht mehr ertragen müssen, in der man bei lebendigem Leibe verbrannte. –

Das Gewitter hatte sich satt gerast. Ein handfester Regen plätscherte nieder. Kaum nahm sie sich Zeit, einen Mantel umzuwerfen.

In Hausschuhen, ohne Hut, ohne Schirm stürzte sie auf die Straße hinunter und rannte quer durch Lachen und Tümpel, – von den Schimpfworten der Nachtgestalten verfolgt, die aus dunklen Haustürnischen lugten, – in atemloser Hetze vor sein Haus.

In den zwei Fenstern des dritten Stockes, hinter denen er wohnte, schimmerte Licht.

Sie klatschte in die Hände, sie rief: »Konni, Konni, Konni« viele Male nacheinander.

Aber er hatte die Fensterflügel geschlossen und hörte sie nicht.

Hinaufstarrend sah sie seine Gestalt schattenhaft vorübergleiten – von einem Ende des Zimmers zum anderen – hin und her – hin und her – in endlosem Wandern.

Und derweilen trommelte der Regen durchweichend auf sie nieder, kroch das Wasser der Straße vereisend an ihr empor.

»Konni, Konni,« schrie sie lauter.

Fußgänger, die vorüber platschten, boten ihr Schirme an, andere riefen spottend mit ihr: »Konni, Konni.«

Da endlich machte der wandernde Schatten halt. Eines der Fenster öffnete sich.

»Lilly – du?« klang seine Stimme, heiser vor Schreck.

»Nu komm doch endlich, mein süßer Konni,« antwortete statt ihrer ein angeheiterter Herr, der hartnäckig den Schirm über sie hielt.

»Um Gottes willen!«

Dann wurde es dunkel. Und wenige Augenblicke später stand er mit Schlüssel und Lampe hinter dem glaswandigen Haustor.

Der angeheiterte Herr empfahl sich mit vielen Bücklingen.

»Lilly – was ist geschehen – was tust du hier?«

Sie drückte sich zitternd gegen das Türgitter. Zu sprechen vermochte sie nicht. Sie hatte nur eine Empfindung: Ich bin bei ihm – und alles ist gut.

Er tastete nach ihren Kleidern.

»Du bist ja wassernaß … Du hast ja gar keine Stiefel an … Um Gottes willen, Lilly!«

Sie wollte etwas sagen, aber sie schämte sich, ihm zu zeigen, wie ihre Zähne klapperten.

»Und ich kann dich nicht einmal zu mir 'raufnehmen! … Du weißt ja, warum. Doch! … Ich muß dich 'raufnehmen … Wenn ich dich erst wieder heimbringe, kannst du den Tod haben. Aber vorsichtig müssen wir sein – ebenso wie damals. Kaum ein halblautes Wort dürfen wir sprechen. Die Kranke ist noch immer nicht außer Gefahr … Gib mir die Hand … Komm.«

Mit halbgeschlossenen Augen ließ sie sich die Treppe hinanführen. Das nasse Kleid klatschte gegen die Pfeiler des Geländers. Ihr war, als müsse sie auf einer der Stufen niederkauern und so liegen bleiben, bis der Besen des Hausbesorgers sie hinwegfegte, aber mit jedem Schritte kam sie dem Schicksal näher, das dort oben auf sie lauerte.

Dann schlüpfte sie ducknackig in den Korridor und in das Zimmer, aus dem der verfangene Dunst des Sommertages ihr stickig entgegenschlug.

Konrad drückte sie in seinen Schreibstuhl. Er zog ihr die aufgequollenen Samtlappen von den Füßen und brachte ihr trockene Strümpfe. Auch das nasse Kleid schälte er ihr vom Leibe, schlug seinen Lodenmantel um ihre Schultern und hüllte sie in warme Decken.

Willenlos ließ sie alles mit sich geschehen, nur um das Wohlgefühl, von ihm in Liebe umsorgt zu sein, bis zum letzten Augenblicke auszukosten.

Noch hatte sie kein Wort geredet.

Als sie ihm danken wollte, wies er auf die Tür des Nebenzimmers.

»Leise,« bat er, den Mund an ihrem Ohr. »Die Ärmste, scheint's, hat zum erstenmal eine gute Nacht.«

Ein mattes Mitleid erwachte in ihr.

Aber geredet mußte doch werden!

»Was fehlt ihr denn? Sag' doch,« fragte sie hauchend.

Er zögerte.

»Die Wirtin hat mir strengstes Schweigen auferlegt … Aber du gehörst ja jetzt zu mir … Du wirst das Geheimnis bewahren … Das Mädel, ihr einziges Kind, ist vor vier Monaten weggelaufen und hat heimlich geboren, dann ist sie von der Mutter nach Hause geholt worden. Sechs Wochen hat sie zwischen Leben und Tod gelegen. Endlich fängt's an besser zu gehen.«

»Armes Ding!« sagte sie, und dann überfiel sie das Bewußtsein des eigenen Elends mit doppelter Gewalt.

»Konni, Konni,« wehklagte sie flüsternd an seinem Halse. »Nun ist alles aus … Hungern wollt' ich mit dir … Betteln wollt' ich mit dir gehen, aber was hilft das? … Wenn du erst alles weißt.«

»Was kann denn das viel sein, Liebling?«

»Von mir … Von meinem Leben … Von meiner Vergangenheit.«

Mit kurzem Ruck machte er sich los und saß ihr gegenüber.

Der fragende, ahnungsvolle Schrecken, der sich wie eine Larve erstarrend über sein blasses Antlitz legte, erfüllte sie mit neuer, ungekannter Furcht. Aber diesmal war es keine Furcht vor ihm. Es war die Furcht ihm weh zu tun. Das eigene Leid in sein Leid zu verwandeln.

»Ich wollt's dir schreiben – genau, wie's gewesen ist, aber ich krieg's nicht 'raus. Es wird mir falsch unter den Händen. Da bin ich zu dir gekommen mitten in der Nacht. Wenn du willst, werd' ich jetzt – alles – –«

Sie konnte nicht weiter. Sie wandte sich ab und barg das Gesicht an der Kante des Schreibtisches.

»Warum sprichst du denn nicht?«

Er hatte ganz vergessen, daß er leise sein mußte. Beide schraken zusammen vor dem plötzlichen Dröhnen seiner Stimme.

»Sie schläft wohl,« sagte er, den Ton wieder herabdämpfend. »Rede doch endlich! Was kann es denn sein?«

Sein Atem keuchte in wachsender Seelenbeklemmung.

Und sie hub zu reden an. Flüsternd, den Oberkörper zu ihm hinübergeneigt, versuchte sie zu erzählen, wofür sie Worte daheim nicht hatte finden können.

Die Wahrheit wurde es auch diesmal nicht. Das fühlte sie.

Weniger, weit weniger sogar, als ihm jene Briefe gebracht hätten. Ihn mit allem zu kränken, was gewesen war, dazu hätte keine Macht der Welt sie gezwungen.

Eine lange Reihe von Martern wurde es, – ein schwarz umhangener Trauerzug, – Kränkungen, Demütigungen und Erniedrigungen ohne Zahl, – eine Gefangenschaft ohne Lichtblick und ohne Gnade – und dabei ein stetes Ringen um Erlösung, – ein edles Sichinsichselbstverschließen, – ein düstres Opferwerk um nichts.

Sie sprach und sprach.

Reglos, mit weit offenen Augen hörte er zu. Nur als der Name »Salmoni« erklang, – den durfte sie nicht verschweigen – da zuckte er kurz zusammen.

Der Kranken im Nebenzimmer gedachten sie beide längst nicht mehr.

Manchmal mußte sie Tränen wegwischen, manchmal entrüstete sie sich, – bald wagte sie entschlossene Übergänge, bald verweilte sie bei rührenden Selbstanklagen.

»Und es ist doch die Wahrheit,« sagte sie in bangem Trotze zu sich, als es dem Ende entgegenging.

Die Wahrheit als Zusammenfassung alles Guten in ihr, die Wahrheit, wie sie ungeachtet des Geschehenen im Spiegel seiner angstvollen Augen sich malen durfte, die war es vielleicht, – und die hatte auch ihr Recht.

Ein Schweigen entstand.

Ihre Blicke glitten schuldvoll an ihm vorbei und blieben ruhesuchend an dem Bilde haften, das vom Schreibtisch her mit seinen pfiffigen Lebemannsaugen zu ihr herüberschielte, als wolle es sagen: »Dich, Kindchen, kenn' ich besser als du dich selbst.«

Etwas Vertrauliches und Vertrautes lag in ihnen. Wie ein Abglanz jener lustigen Welt dort drüben, die ihr soeben noch als Stätte aller Qualen erschienen war.

Nicht mehr wegzuschauen wagte sie von jenen alleswissenden Augen, die sie lächelnd prüften und entkleideten, bis ihre letzte scheue Hoffnung in sich zusammensank.

Das Schweigen lastete. Die Gedanken jagten im Zickzack durch die Stille, die kein lauter Atemzug wohltätig unterbrach.

Da plötzlich drang von irgendwoher ein leises, jammerndes Weinen mitten dazwischen, durch Hände oder Tücher halb erstickt, dann umso heißer, umso inbrünstiger wieder emporquellend.

Aus dem Nebenzimmer kam es. Dorther, wo die Kranke lag, die um heimlicher Fehle willen seit Wochen mit ihrem armen Leben rang … Erschrockene, tröstende Worte mischten sich darein – die Mutter, die wohl in dem weiter abliegenden Zimmer geschlafen hatte und nun ängstlich hereinkam, um nach dem Grunde des jäh ausbrechenden Schmerzes zu fragen.

Beider Augen trafen sich.

»Sie hat alles gehört,« sagte der Blick.

Das fremde Unglück ließ sie einen Pulsschlag lang des eigenen vergessen. Die Fluten des großen Menschheitsleides ergossen sich lindernd und schuldlösend über sie. Was sie selber litten, ertrank darin.

Das Schluchzen daneben wurde von Küssen erstickt.

»Mein Herzblatt, mein Holdes,« flehte die tröstende Stimme, und jeder Ton war Liebesüberschwang. »Sei doch wieder gut, mein Goldkind. – Es ist ja alles gar nicht so schlimm. – Das Kleine werden wir zu uns nehmen. – Und wenn er dich auch nicht heiratet, was schadet denn das viel? – Denk doch, wir haben ja das Kleine! – Wenn uns das erst anlachen wird und Mama sagen. – Na, siehst du, ist denn das so schlimm?«

Das Schluchzen sänftigte sich und ging in ein keuchendes Ein- und Ausatmen über, das bereits den ersten Hauch des Friedens in sich barg.

»Ach ja, das muß schon wohltun,« dachte Lilly, »wenn einer einem sagt: ›Es ist ja alles nicht so schlimm‹.«

Zu ihr würde das keiner sagen!

Eine heiße Begier, gehätschelt und getröstet zu werden, – ebenso wie die junge Sünderin daneben – stieg in ihr auf.

»Die hat ihre Mutter,« stöhnte sie aufweinend, »aber wen hab' ich?«

Konrad beugte sich vor und hob ihr die Hände vom Gesicht. In seinen kummerstarren Augen war ein Leuchten, so lieb, so voll unendlicher Güte, daß es gar nicht von dieser Welt schien.

»Bin ich nicht da?« fragte er.

»Was hab' ich von dir?« klagte sie. »Wie kannst du mich jetzt noch dulden?«

Daneben war es still geworden.

Nun wußte auch die Mutter, daß in der Nachbarschaft ein später Gast sich eingefunden hatte.

»Höre,« flüsterte er, den Mund wieder an ihrem Ohr. »Wir dürfen nicht mehr viel reden … Es geht mir auch alles in die Runde … Bloß eins seh' ich ganz klar: wie lächerlich alles ist, was Schuld heißt – wenn man einander lieb hat – und wenn einer gelitten hat wie du … Du bist mir bisher immer wie eine Heilige gewesen – und das sollst du mir auch – in Zukunft sein.«

»In Zukunft,« stammelte sie, ängstlich aufhorchend, »was für eine Zukunft?«

Er wischte sich über die Stirn, die gelb war und schweißfeucht.

»Ich weiß noch nicht,« sagte er. »Ich weiß nur, daß ich nicht leben kann ohne dich.«

Sie schloß die Augen. Sie wollte noch länger so träumen.

»Freilich, wie man's gewollt hat, so kann's ja nicht bleiben,« und der zage, schleppende Gang seiner Worte fiel ihr auf. »Es wird – sich ja – nun alles – ändern – müssen.«

»In deinem Leben soll sich nichts ändern – darf sich nichts ändern.«

»Das kannst du nicht so übersehen, mein Herz … Wo wir unser Brot essen werden, das weiß ich ja noch nicht. Aber irgend ein Platz in der Welt wird sich schon finden, wo keiner uns kennt.«

Jetzt erst verstand sie ihn.

Und sich und die Kranke und alles ringsumher vergessend, sank sie mit einem Aufschrei vor ihm nieder und rief schluchzend: »Ich will nicht … Du darfst nicht … Du bist noch viel zu jung, du kennst die Welt nicht … Du weißt nicht, was du tust … Ich will das Opfer nicht … Ruinieren will ich dich nicht … Dazu hab' ich dich zu lieb.«

Er bog ihren Kopf zurück und strich ihr die Haare aus der Stirn.

Wenn nur das Leuchten in seinen Augen nicht gewesen wäre, das gütige, das leidensvolle!

Ein ganzes Lebensunglück brannte schon darin.

»Wenn überhaupt von einem Opfer die Rede ist,« sagte er, »dann muß ich es jetzt von dir verlangen. Wirst du's mir auch bringen?«

»Alles! Alles! Soll ich sterben? – sag!«

»Ich will bloß eins von dir: daß du zu mir kommst, wie du da gehst und stehst. Nicht ein einziges Stück deiner Habseligkeiten sollst du mit dir nehmen. Gar nicht mehr zurückkehren in deine – in jene Wohnung sollst du … Alles soll nicht mehr da sein von diesem Augenblick an. – Versprichst du mir das?«

Sie kämpfte ein heißes Erschrecken nieder.

Nicht mehr heimkehren! Den lieben Ecksalon nicht mehr wiedersehen, dem kleinen Zeisig, dem Peterle kein Futter mehr geben – nichts!

Ein häßliches Gefühl, als wäre das alles Torheit und Blödsinn, kam und verschwand wie ein Schmutzwurf, der sie gestreift hatte. Dann erwiderte sie mit hastigem Entschlusse: »Ja, ich versprech's!«

Er atmete tief auf.

»Wir wollen nun ganz still sein,« sagte er. »Das Mädchen muß schlafen, und morgen früh erklär' ich den Wirtsleuten alles.«

»Aber was soll aus deinem großen Werk werden?« fragte sie in neu aufsteigendem Selbstvorwurf.

Ein wehes Lächeln glitt über sein Gesicht.

»Wer weiß? Das wird schließlich vom Onkel abhängen. Willigt er ein, dann können wir leben, wie wir wollen, – dann ist alles gut.«

»Und willigt er nicht ein?«

Seine Rechte, die unablässig über ihr Haar geglitten war, von der Stirn zum Hinterkopf – und immer wieder – preßte sich für einen Augenblick mit schmerzhaftem Drucke gegen ihren Scheitel, als wolle sie sich aus dieser engeren Berührung Kraft für den nahenden Lebenskampf holen.

»Dann ist auch alles gut,« sagte er, und lächelte wieder.

Eine Weile später lag sie an seiner Seite in dem schmalen Bettgestelle, dessen Kanten schmerzhaft in ihre Glieder schnitten. Sie war mit dem Kopf unter seine Achsel gekrochen und hielt mit beiden Armen Brust und Rücken umklammert. Wie auch sonst, wenn sie in ihren Nöten Schutz bei ihm suchte.

Aber diesmal schlief sie, und er wachte.


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