Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Am nächsten Morgen beim Erwachen kamen neue Nöte über sie.
So blind war niemand, daß er das Wurmstichige ihres Daseins bei näherem Hinschauen nicht hätte erkennen sollen. Am wenigsten er, dessen Feinfühligkeit bei jeder seelischen Berührung ängstlich in ihr widerklang.
Aber selbst wenn es möglich war, jede Beziehung zu der Welt, in der sie lebte, von ihm fernzuhalten, gleichsam für ihn eine einsame Insel zu schaffen, mußte nicht schon ihre bloße Erscheinung zum Verräter werden? Ohne Spuren konnten all die durchtollten Nächte nicht geblieben sein. Hatte doch bereits vor zwei Jahren jener Doktor Salmoni eine Änderung ihres Blickes zum Kalt-Höhnischen hin bemerkt!
Sie sprang aus dem Bette und lief vor den Spiegel, um jeden Zug ihres Gesichtes einer argwöhnischen Musterung zu unterwerfen.
Ihre Augen waren müde geworden. Das ließ sich nicht bestreiten. Aber höhnisch blickten sie nicht … »Marienaugen« hatte er sie genannt, nicht »Madonnenaugen«. Ob da wohl ein Unterschied bestand? … Auf der Stirn zeigte sich ein leises, spinnennetzähnliches Gefältel, aber das ließ sich beinahe mit dem Finger wegwischen. Wenn man da ein wenig massierte! … Schlimm waren nur die beiden tiefen Rinnen, die von den Mundwinkeln herunterliefen und ihrem Gesicht einen übersatten und hochmütigen Ausdruck gaben. »Die Wege, welche hier seit langem – Verzehrende Passion gegangen.« So sprach sie dem »Tannhäuser in Rom« nach, den sie fast auswendig wußte.
Und doch – hatte sie ihr Bestes, ihr Tiefstes nicht immer aufgespart? … Als müsse sie es hüten für diesen Einen? Und nun dieser Eine gekommen, war es vielleicht zu spät geworden.
Der Tag verging in Sorgen und Kümmernissen, und als Richard seinen Teebesuch machte, fand er rotgeweinte Augen.
An diesem Nachmittag war es so recht zu erkennen, wieviel sie an Richard besaß. Er forschte so wenig und umgab sie mit so teilnehmender Sorge, daß sie sich ein paar Augenblicke lang ganz getröstet und geborgen schien. Beinahe geriet sie in Versuchung, ihm, wie es sich zwischen so guten Freunden eigentlich geziemte, von ihrem Erlebnis dieses und jenes anzuvertrauen. Aber glücklicherweise unterließ sie es. Eher noch mußte Adele ins Geheimnis gezogen werden, die schon ab und zu eine aufmunternde Bemerkung gemacht hatte, zu ihr dürfe man unbedingtes Vertrauen haben, sie kenne das Leben viel zu gut, um nicht allewege auf seiten der gnädigen Frauen zu stehen.
Da Lilly von der ganzen Bande heute nichts wissen wollte, schützte sie Unwohlsein vor, und Richard gab sich zufrieden. Als aber der Abend kam, fiel ihr ein, daß sie Doktor Rennschmidt gesagt hatte, sie wäre ausgebeten.
Um sich auf keiner Unwahrhaftigkeit ertappen zu lassen, löschte sie eilends das Licht und saß grübelnd und bangend im Finstern bis zum Schlafengehen.
Am nächsten Morgen brachte die erste Post einen Brief, dessen Adresse von unbekannter Hand geschrieben war.
Sie erbrach ihn und las:
Ich kann nicht ruhen, eh' ich mit Dir sprach,
ich kann nicht schlafen, eh' als Nachtgebet
der Schrei, der heiß aus meinem Herzen brach,
durch Wind und Wasserrauschen zu Dir geht.
Ich sitze träumend bei der Lampe Schein;
mein Werk verstummt, und was ich ihm geraubt,
das drängt zu Dir und schlingt in wildem Reihn
als Flammenkranz sich um Dein heil'ges Haupt.
O schilt mich nicht, daß ich nicht schweigen kann,
daß ich gewagt den Tempelbann zu brechen,
der Deine Seele hoheitsvoll umspann.
Ich bin ein Ringender, und ich muß sprechen.
Um Gottes willen – was war das?
Galt das ihr, Lilly Czepanek, ihr, die sich in dumpfer Selbsterniedrigung verzehrte? – – –
Wenn es möglich war, daß irgend ein Mensch auf Erden so von ihr dachte, und dazu gar er, der herrlichste von allen – denn von ihm kamen diese Verse, ob auch eine Unterschrift fehlte –, dann stand es ja gar nicht so schlimm um sie, dann hatte das Leben, das sie führte, vielleicht noch keine Macht über sie gewonnen, dann war ihr innerstes Wesen wohl noch unberührt geblieben, dann mußten Werte in ihr verschüttet liegen, die nur gehoben zu werden brauchten, um sie und andere zu weihen und zu beglücken.
Als sie die Verse längst schon auswendig kannte, las sie immer noch darüber hin, denn sie mochte sich von der geliebten Handschrift nicht trennen.
Dann versuchte sie sie in Musik zu setzen, öffnete das Piano und phantasierte drum herum. Und es ging gerade so wie in voriger Nacht. Alles, was sie in ihrer Jugend gekonnt und seit vielen Jahren als vergessen betrachtet hatte, kam klingend und rauschend wieder. Sie brauchte nur hinzuschlagen, und es war da. Wenigstens so ungefähr.
Aber die Finger erwiesen sich als ungelenk, und die Unterarmmuskeln ermüdeten. Das mußte erst alles wieder straff und geschmeidig werden.
»Wenn er zu mir kommt, kann ich ihm sogar etwas Klassisches vorspielen,« dachte sie, und diese Hoffnung beglückte sie so sehr, daß sie in ihrer neuen Selbstachtung noch weiter emporstieg.
Dabei zählte sie sorgsam jede Stunde, die sie vom Abend noch trennte.
Als Richard Nachmittags erschien, fand er sie eifrig übend vor den Tasten.
»Was ist denn heute in dich gefahren?« fragte er. »Ich habe gar nicht gewußt, daß du so schön spielen kannst.«
»Ich auch nicht,« erwiderte sie lachend.
»Das mußt du heute mal gleich in der Gesellschaft zum besten geben,« sagte er.
»Heute?« fragte sie erschrocken. »Ich denke, heute bin ich frei?«
»Frei! Was heißt frei?« erwiderte er ärgerlich. »Du tust gerade so, als ob dir unsere Zusammenkünfte Wunder was für ein Opfer sind. Und ziehst dich übrigens auch zurück, so oft du irgend kannst. Gestern sagte noch die Karla: Kein Mensch weiß recht, was für ein Leben du führst.«
»Ich denke, das kann man von der Karla viel eher sagen,« entgegnete sie, »deren wirklichen Namen man nicht mal kennt.«
»Ganz egal,« entschied er. »Auch andere hielten sich über dein reserviertes Wesen auf. Einer meinte sogar, ich möchte ein wenig besser aufpassen, damit du nicht so viel deine eigenen Wege gehst. Und um sie zu beruhigen, hab' ich ihnen versprochen, dich, statt gestern, heute abend mitzubringen. Dabei muß es auch bleiben.«
Lilly hatte blitzschnell überlegt, daß eine Weigerung ihr nichts nützen und nur seinen schlafenden Argwohn aufwecken würde. Darum würgte sie Schreck und Tränen tapfer hinunter. Als er aber fort war, fiel der Gram der Enttäuschung umso grausamer über sie her.
Was sollte ihr neuer Freund sich denken, wenn er zur festgesetzten Stunde kam und sie nicht daheim fand? Ihm ein Wort der Absage zu schreiben, ging nicht an, denn seine Adresse hatte er nicht genannt. So würde er also vierundzwanzig Stunden Zeit haben, bösartige Ahnungen in sich großzuziehen.
Von Angst umhergetrieben, nahm sie ihre Zuflucht zu Adele. Deren dürres, verdrossenes Gesicht verklärte sich zusehends. Nun erst, da es einen – oder vielmehr zwei – zu betrügen galt, schien sie sich in ihrem Element zu fühlen. Das beste wäre, gnädige Frau sei zu einer kranken Freundin gerufen worden. Auf so 'ne traurigen Sachen fielen sie alle 'rein. Das wüßte sie aus Erfahrung.
Und dabei blieb es auch.
Heute erlebte die Tafelrunde nicht viel Freude an Lilly. Die Herren übersah sie, den Damen gab sie ungezogene Antworten. Frau Jula, die einzige, die ihr Freude gemacht hätte, war, wie in letzter Zeit gewöhnlich, nicht erschienen. Schließlich überließ man sie ihrem Schicksal, und der gute Richard, der mit seinem Herrenbewußtsein Staat zu machen gedacht hatte, kaute hilflos seine Schnurrbartenden.
Am nächsten Morgen quälte sie die Angst von neuem.
Noch in der Nacht hatte sie Adele geweckt.
Ja, er wäre dagewesen, hätte bei ihrer Bestellung sehr bestürzt ausgesehn und wäre schweigend von dannen gegangen.
Wiederum verging ein Tag in bangem Zählen der Stunden. Mutlos stand sie vor dem Spiegel und schmückte sich für ihn. Am liebsten hätte sie ihm bei seinem Eintritt zu Füßen sinken mögen, trotzdem beschloß sie, in Worten und Gebärden heute und künftighin eine gewisse leise und schwermütige Hoheit an den Tag zu legen, die jeden Verdacht im Keime erstickte und überdies dem Bilde entsprach, das er sich seinen Versen zufolge von ihr zurechtgemacht hatte. Wenn sie daran dachte, daß dieser dumme und zerküßte Kopf ein »heiliges Haupt« sein sollte, wurde ihr ganz schwer zu Mute vor lauter Heiligkeit.
Um halb acht tönte die Klingel.
Mit hohlem Kreuz und steifem Lächeln empfing sie ihn, und die leise und schwermütige Hoheit, die ihr vorzüglich gelang, verbarg die Angst ihres Herzens.
Auch er hielt sich nicht so frei und unbekümmert wie sonst, das sah sie auf den ersten Blick; und sein Auge glitt mit einem eigentümlich leeren Ausdruck an ihr vorbei.
»Er ahnt alles,« rief es in ihr.
Aber sie wußte sich wohl zusammenzunehmen. »Ich habe Sie um Entschuldigung zu bitten,« sagte sie, »daß ich unsere gestrige Verabredung nicht habe innehalten können.«
»Hoffentlich geht es Ihrer Freundin besser,« erkundigte er sich, und ein Lächeln höhnischen Zweifels spielte um seine Mundwinkel.
Sie redete zusammen, was ihr gerade einfiel, und obgleich sie ihn nicht ansah, so wußte sie doch, daß er ihr nicht eine Silbe glaubte.
»Auch ich habe Sie übrigens um Entschuldigung zu bitten,« sagte er dann, immer mit demselben versteckten Hohn in Stimme und Lächeln.
»Weswegen, Herr Doktor?«
»Ich habe Ihnen da ein paar Reimereien geschickt, die Sie hoffentlich als das betrachten, was sie in der Tat sind, nämlich harmlose Stilübungen, die auf Sinn und Bedeutung keinen Anspruch machen.«
»Er zieht sich schon zurück,« rief das Schuldbewußtsein ihr zu. Um so kühler und weltläufiger wurde ihre Antwort: »Ihre hübschen Verse haben mich allerdings am Anfang ein wenig in Verwunderung gesetzt, denn ich war mir nicht bewußt, der passende Gegenstand dafür zu sein, dann aber dachte ich mir etwas Ähnliches, wie Sie eben ausgesprochen haben, und nahm sie Ihnen nicht weiter übel. Aber wenn es Ihnen recht ist, reden wir nicht mehr davon.«
Mit großen, fragenden Augen sah er sie an, und sie freute sich, es ihm so bitter heimgezahlt zu haben.
Dann fragte sie ihn, ob er zu Abend bei ihr speisen wolle. Es war nicht das mindeste vorbereitet, aber sie wünschte das Dekorum zu wahren.
»Ich denke, es sollte mir erlaubt sein, Sie abzuholen,« erwiderte er in einem harten und enttäuschten Tone.
Sie lächelte höflich.
»Wie es Ihnen beliebt – ich komme auch mit Ihnen …«
Schweigend stiegen sie die Treppen hinab, schweigend schritten sie am Kanaldamm entlang, – denselben Weg, den sie vor drei Abenden, in trunkner Seligkeit aneinandergeschmiegt, dahingegangen waren. – Schweigend auch damals, doch welch ein anderes Schweigen war das gewesen!
»Was haben Sie in diesen Tagen getrieben?« fragte sie endlich, um irgend etwas zu sagen.
Nichts Besonderes. Er habe versucht einen Artikel zu schreiben für die Münchener Kunstzeitschrift, deren Mitarbeiter er sei. Über die Sienesen außerhalb Sienas. Aber der sei ihm mißlungen. Seine Auftraggeber würden unzufrieden sein.
Sie las aus seinen Worten nur einen Vorwurf gegen sich selber heraus. Offenbar wollte er andeuten, daß ihr Eintritt in sein Leben die Schuld daran trüge.
Und als er fragte, in welches Restaurant sie zu gehen wünsche, lehnte sie in zitterndem Gekränktsein ab. »Ich habe keinen Durst und keinen Hunger, und Menschen und Lichter würden mir wehtun.«
Sie wollte noch etwas hinzufügen von »zur Last fallen« und dergleichen, aber sie verschluckte es wieder.
»Wenn Sie den Menschen auszuweichen wünschen, so könnten wir vielleicht nach dem Tiergarten abbiegen.«
Sie stimmte zu. Falls er gesagt hätte: »Komm mit mir ins Kanalwasser hinunter,« so würde sie noch lieber eingewilligt haben.
Die harten Parkwege lagen im Schein der elektrischen Lampen wie grellwandige Galerien vor ihnen. Als müsse man Spießruten darin laufen, so lagen sie da. Und die Fußgänger, die ihnen entgegenkamen, maßen das hochragende Paar mit kalter, zudringlicher Neugier.
»Hier ist es ja schlimmer als im Straßengewühl,« sagte sie.
Alles flatterte in ihr vor weher und mutloser Spannung.
Er wies ins Dunkel eines Nebenpfades. Und ohne ein Wort zu sprechen, tauchten sie in die nächtige Einsamkeit des Parkinnern.
Über dem aufwärts sich reckenden Astwerk stand in den Wolken der Widerschein des unsichtbaren Lichtermeeres als ein mißfarbener Gleisch … Durch das Gitterwerk der blätterlosen Büsche blinzelten die Lampen der großen Alleen, und die Glocken der elektrischen Bahnen, die ringsum hin- und herschossen, schlugen an wie Feuersignale.
Aber hier drinnen herrschten Stille und Finsternis. Wie untergesunken in einem Meere schwarzer Trostlosigkeit – so fühlte man sich.
Und immer qualvoller lastete das Schweigen.
Dann plötzlich machte er einen Schritt vor sie hin, so daß er ihr den Weg versperrte.
»Was ist?« fragte sie erschrocken.
»Gnädige Frau … gnädige Frau … Was ich Ihnen jetzt sage – was ich Ihnen jetzt sage, –« seine erhobenen Hände zuckten vor ihrem Gesichte hin und her – »das bringt uns entweder wieder zusammen – oder es ist das Ende … Ich bin vorhin feige gewesen … Ich habe geglaubt der Aussprache ausweichen zu können … Wenn ich sagte, meine Verse sind nicht ernst gemeint gewesen, so ist das einfach nicht wahr … Ich fühle alles, wie ich es schrieb … Und noch vieltausendmal stärker … Aber ich hätte es nicht aussprechen dürfen … Ich weiß, ich habe Sie erschreckt … Sie sind nun ganz an mir irre geworden … Denken vielleicht gar, ich bin irgend ein verliebter Abenteuerjäger und will aus Ihrem Zutrauen Kapital schlagen … Liebe gnädige Frau, ich verspreche Ihnen, ich werde Sie nie mehr mit meinen Gefühlen behelligen … Aber entziehen Sie mir Ihre Freundschaft nicht … Bitte, tun Sie's nicht … Denken Sie doch, was fang' ich an, wenn Sie mir wieder verloren gehen!«
Also das war's! Das war's!
Ein Zuviel an unausgesprochener Liebe war's, das sie einander entfremdet hatte.
O Gott! Wenn weiter nichts zwischen ihnen stand.
Und nun konnte sie nicht anders, sie mußte sich gegen einen Baumstamm lehnen und losweinen. Die Tränen quollen so mächtig hervor, daß sie den Schleier im Nu durchnäßt hatten. Sie mußte ihn hochschlagen und die Daumenballen gegen die Augenlider pressen.
»Um Gottes willen, was ist Ihnen?« hörte sie seine Stimme, ganz heiser vor Angst. »Hab' ich Sie so sehr verletzt? – Ist es so schlimm, was ich eben gesagt habe? Ich will alles wieder gutmachen. Es soll gar nichts gewesen sein. – Bloß verzeihen müssen Sie mir. Verzeihen müssen Sie mir.«
Wie sie ihn so um Verzeihung bitten hörte um all des unendlichen Glückes willen, das er ihr geschenkt hatte, da kam ein jähes Feuer über sie, und die ganze Hoheit zum Teufel schickend und alle Scham noch obendrein, warf sie mit einem Stöhnen losgelassenen Verlangens die Arme um seinen Hals, drückte sich an ihn und sog sich mit Lippen und Zähnen an seinem Munde fest.
Unter der Wucht dieses wilden und unkeuschen Kusses knickte er zusammen und hielt sich an ihr hoch, indem er die Finger in das Fleisch ihres Oberarmes krallte.
Wie tat das wohl, weil es so weh tat!
»Endlich, endlich,« schrie es in ihr.
Nun wußte er, wer sie war und was sie ihm zu geben hatte!
Als sie sich wieder zusammenraffte, sah sie ihn mit dem Hinterkopf gegen denselben Stamm zurückgesunken, der ihr vorhin eine Stütze gewesen war. Der Hut war ihm entfallen. Er hatte die Augen geschlossen. Sein Gesicht war wie das eines Toten.
Eine Weile blieb alles still, nur die elektrischen Bahnen gaben ringsum ihre Warnsignale.
»Du Lieber, Geliebter!« flüsterte sie, indem sie sich in den Knieen klein machte und dann zärtlich an ihm entlang zog. »Wach auf, Liebster, wach auf und komm.«
Er öffnete die Augen und starrte ihr mit dem Blicke eines irren Knechtes ins Gesicht.
»Komm, komm,« jauchzte sie, »komm zurück! komm heim! Ich will mich nicht mehr herumtreiben, nicht im Walde – und nicht in den Kneipen. Komm heim! Komm zu mir!«
Er antwortete nicht. Ganz geistesabwesend schien er. Ein dumpfes Schuldgefühl erwachte in ihr und wurde sofort vom Jubel erstickt.
»Komm, komm!«
Mit beiden Händen zog sie ihn von der Stelle fort, die die Wiege ihres Glückes geworden war. – Und des seinen doch auch! Daß ihn das Glück betäubte, von Sinnen brachte, was war so Merkwürdiges dabei? Wem Lilly Czepanek sich schenkte, sie, um deren Gunst schon Hunderte vergebens gebettelt hatten, der durfte von Sinnen geraten. – Damit vergab er sich nichts.
Und während sie durch Alleen und Straßen dahinschritten, ließ sie den Sturm ihrer Seele in wirrem, glückseligem Schwatze über ihn los.
Ob er denn keine Ahnung hätte, wer er wäre, daß er solche Zweifel hätte hegen können? … Ihm hätte sie gehört vom ersten Augenblicke an. Ein Wunder wäre geschehen an ihr wie an ihm. Nie hätte sie gewußt, was Liebe sei, bis zu jenem Tage, da die Eichkätzchen über ihnen gepfiffen … Das ganze Leben sei versunken seitdem … Und nur er wäre noch da. Er und seine Augen … Er und sein Mund … Er und sein Wille … Er und das große, das herrliche Werk, dem sie dienen wolle wie eine Sklavin. Und das sie reich machen wolle durch ihre Liebe. Denn ob er auch alle Gefühle aus alten Bildern und Gedichten herauslesen könne, von Liebe sei bloß ein grauer Staub darin. Die echte, die junge, die selige Liebe, die wolle sie ihn lehren, sie, Lilly Czepanek, die auf ihn gewartet habe, solange sie denken könne, die ihm gehöre von Anbeginn, von Anbeginn der Welt könne man sagen. Denn daß sie durch Gott füreinander bestimmt gewesen, das ersehe man daraus, daß sie sich schon seit langem zu kennen geglaubt hätten und wären einander doch nie im Leben begegnet. Höchstens er ihr im Traum. Im Traum immer – immerzu. Genau, als lese man das alles im Märchen.
»Oder ist es auch wirklich eins? Du, du, sag, du, – ich weiß deinen Vornamen noch gar nicht, aber das schadet nichts. – Sag, du, daß es kein Märchen ist.«
Aber er sagte nichts. Er ging dahin wie ein Schlafwandler, folgte ihr willenlos die Treppen hinan, blieb steif in der Mitte des Ecksalons stehen, wohin sie ihn geführt hatte, und schaute, als die Flammen des Kronleuchters brannten, mit einem forschend-scheuen Blick in die Runde, als habe er den Raum noch nie gesehen und könne sich nicht entsinnen, wie er hereingekommen sei.
Sie schmiegte sich an ihn und sagte, er solle ganz still sein, er solle sich ausruhen und die Guckaugen zumachen.
Dann half sie ihm seinen Überzieher ablegen, drückte ihn in einen Sessel und küßte ihn auf diese beiden Augen, so lange, bis die Lider sich schlossen und er dalag, als schliefe er wirklich.
»So bleib', Geliebter, bis ich wiederkomme.«
Und aufjubelnd lief sie hinaus zu Adele in die Küche, bestellte rasch etwas zu essen und eilte dann ins Schlafzimmer, um das krachende Seidenkleid mit dem lichtblauen, türkisbesetzten tea-gown zu vertauschen, in dem sie, wie Richard galant zu sagen pflegte, die Venus selber war. Das Haar steckte sie lockerer, die Ringe streifte sie ab. Nur eine goldene Armspange behielt sie.
Die mürrische Adele, die wie durch Zauberei den Tisch in einen Blumenhain verwandelt hatte, lachte über das ganze Gesicht, denn in diesem unanständig ehrbaren Hause ging es nun endlich menschlich zu. Die Alpakabestecke leuchteten auf dem frisch gefalteten Damast, und in dem Fruchtkorbe dufteten goldgelbe Bananen.
Er durfte zufrieden sein, und sie war es auch. Angst und Herzklopfen waren verschwunden. Fast hätte sie sich als Siegerin gefühlt. Aber dazu war ihr Glück zu demütig.
Nur ein Stolz saß hungrig in ihr: daß sie ihm so viel, so viel zu geben hatte.
Als sie den Ecksalon betrat, fand sie ihn nicht mehr im Sessel ausgestreckt. Vor dem Schreibtisch stand er – erschreckend gewahrte sie es – im Anschauen von Richards Bild versunken.
»Ach, hätt' ich das doch vorher weggenommen!« dachte sie. Aber nun war es zu spät.
Er ließ einen wirren, staunenden Blick über das Venusgewand hingleiten und ergriff schwer atmend ihre beiden Hände.
»Warum hast du dich so schön gemacht für mich?«
»Du sollst nur ein bißchen Heimatsgefühl bei mir haben,« sagte sie, die Augen niederschlagend. »Weiter will ich nichts … Und nun komm. Laß uns zu Tische gehen. Wir haben ja noch gar nicht zu Abend gegessen.«
»Jetzt essen und trinken? … Aber gut – ich setze mich zu dir an den Tisch, wenn du magst.«
»Dann will ich auch nichts!« rief sie und schmiegte sich an ihn, die Arme über seinem Nacken so enge verschränkend, daß der Druck seines Leibes ihr fast den Atem benahm.
Peterle, das Äffchen, das so lange in seinem Winkel geschlafen hatte, ließ ein eifersüchtiges Winseln hören und reckte die grauen Hände sehnsüchtig zwischen den Gitterstäben hindurch, als wolle es der Dritte im Bunde sein.
Er hörte den fremden Laut und schrak zusammen.
Sie beruhigte ihn lächelnd.
»Nachher mach' ich dich mit dem ganzen kleinen Volk bekannt. Meine Freunde müssen ja auch deine Freunde werden.«
Er richtete sich hoch auf.
»Wie sollte das wohl möglich sein? Als was willst du mich ihnen vorstellen?«
Sie wehrte hastig ab. »Nein, nein, – so meine ich das nicht … Ich meine nur …« – sie wußte nicht weiter.
Da fühlte sie ihre Oberarme von seinen bebenden Händen umklammert. Seine Augen brannten in die ihren.
»Wer bist du?« fragte er.
Sie spürte ein leichtes Taumelgefühl.
»Wer ich bin? … Ich bin eine – die dich liebt – wie dich noch keine geliebt hat.«
Er strich in dankbarer Liebkosung an ihren Schultern hernieder.
»Du mußt mich recht verstehen,« sagte er. »Ich dränge mich nicht in dein Vertrauen. Aber wenn zwei Menschen so miteinander stehen wie wir seit einer Stunde, dann wollen sie sich alles sein auf der Welt … Ich bin noch nie einem Weibe begegnet wie dir. Ich stehe ganz ratlos da … Die paar kleinen Erlebnisse, die ich gehabt habe, die zählen nicht … In Rom hat mich eine Bäckerstochter geliebt, die lief mir dann mit einem Marchese davon … Als Student hatte ich hie und da was Ähnliches. Das ist alles … In Gesellschaft bin ich nie viel gegangen … Und nun bin ich mit einem Male hier und hab' dich im Arm – das Höchste, das Herrlichste von allem, was mir im Leben begegnet ist … Ein Weib wie gar nicht von dieser Welt … Ich muß dich immer ansehen in deinem blauen Peplon … Wie du dastehst – das ist doch, als ob ein alter Marmor, irgend was Lysippisches oder Praxiteleisches lebendig geworden ist … Und das soll mein sein? … So ein bloßes Wollen ist doch schon nackte Tragik … Da treiben wir doch beide auf einen Abgrund los und wehren uns nicht einmal.«
»Wozu sich erst viel wehren?« rief sie, selig den Kopf nach hintenüber werfend, als wolle sie bacchantisch gelöste Haare schütteln. »Wir lieben uns, alles übrige geht uns nichts an.«
Er sank neben ihr in den Sessel und drückte mit tränenlosem Keuchen das Gesicht in seine beiden Hände.
Sie hockte vor ihm nieder, und sich nach vorn überbeugend, pflanzte sie kleine, lösende Küsse auf diese festgekrampften Hände.
»Nein,« rief er aufspringend, »treiben lassen tu' ich mich nicht. Denkst du so, die du alles, was du bist, hinopfern willst – gut! … Aber ich, der ich's annehmen soll, ich muß alles erst klarmachen, damit du weißt, für wen du es tust … Ich darf nicht eine Möglichkeit offen lassen, die dich vielleicht irre führt … Ich bin ein armer, junger Kerl, der aus seines Onkels Tasche lebt … Aussichten hab' ich keine. Von meiner großen Arbeit ist vorläufig nicht zu reden. Und die paar Artikel, die ich schreibe, zählen nicht … Ich muß mir mein Stückchen Boden auf dieser Erde erst mühselig erobern. Das kann zehn Jahre dauern … Und von dir ernähren lass' ich mich nicht … Denk, was du willst von mir. Aber ich muß es dir sagen: Mann und Frau können wir beide nicht werden.«
Zuerst hatte sie gar nicht recht verstanden, was sie hörte. Daß einer so naiv und so weltfremd sein konnte, in Lilly Czepaneks Ecksalon von Heiraten zu reden, wollte ihr nicht einleuchten.
Dann lachte sie grell auf. Der Hohn über die Wertlosigkeit ihres Daseins jubelte nur so aus ihr heraus.
»Glaubst du, ich bin irgend eine Abenteurerin, die sich Männer kapert?« rief sie aufspringend, »eine von den Harpyien, – das Wort, das Frau Jula einst gebraucht hatte, fiel ihr ein – die auf Vorübergehende Jagd machen? … Für was für ein elendes Frauenzimmer hast du mich gehalten?«
Mit einem staunenden und nichts verstehenden Blicke sah er ihr ins Gesicht.
»Das Weib, das einen Mann liebt, und sein Lebensglück sein will, ist doch darum kein elendes Frauenzimmer.«
Ach so! Wenn es so gemeint war!
Die Zeiten, da sie Richards Frau hatte sein wollen und sich auch nichts Böses dabei gedacht hatte, kamen ihr zu Sinn.
Wie lange war das her? Wie tief mußte das Leben sie herabgedrückt haben, damit diese natürlichste Art, das Verhältnis zwischen Mann und Weib zu betrachten, ihr so fremd hatte werden können! …
Sie schauderte zusammen, fühlend, wie sie erbleichte.
Wenn er nur nichts gemerkt hatte! Alles, bloß das nicht!
Kleinlaut und voll Furcht vor dem Forschen seines Auges erwiderte sie: »Ich habe dir damit nur sagen wollen, daß du frei bist und frei bleiben wirst vom ersten bis zum letzten Augenblick. Daß du hinausgehen kannst, wenn es dir beliebt. Und nichts wird gewesen sein.«
»Und du?« fragte er.
»Was – ich?«
»Als was wirst du zurückbleiben, wenn ich gehe?«
»Das laß nur meine Sorge sein,« rief sie lachend.
Das lag fern ab. Wozu sich schon heute damit den Kopf zerbrechen?
Aber er gab sich nicht zufrieden.
»Es ist etwas Seltsames um dich herum. Ein Hauch von Geheimnis … Ein – ein – wie soll ich sagen? Ein Schatten wie von einem Unrecht, das dir angetan wird … Du lebst viel in Gesellschaft, sagst du. Und doch habe ich das Gefühl, daß du einsam bist und vielleicht auch schutzlos … Wenn ich in dich hineinzusehen versuche, ist mir immer so, als hätten sich rohe Hände an dir vergriffen … Von nun an soll ich ja als dein Rat und dein Schutz neben dir stehen. Aber ich bin so unerfahren in allen Weltdingen. Es könnte leicht kommen, daß ich, ohne was davon zu ahnen, das Unheil in deinem Leben noch vergrößere. Und das will ich nicht, denn du bist mir ein Heiligtum … Darum mußt du mir jetzt so viel sagen, wie du irgend darfst – von allem, was du erlebt und gelitten hast … Willst du?«
Sie fühlte, nun war ein Ausweichen nicht mehr möglich. Die Stunde, vor der sie in Furcht lebte, seit sie ihn kannte, und die sie in unbestimmte Weiten hinauszuschieben gedachte, hatte geschlagen.
Wieder fiel ein Wort ihr ein, das Frau Jula einst gesprochen hatte: »Der Weg in die Gemeinschaft der Ehrlichen zurück führt für uns nur durch die Lüge.«
Mit Lügen hatte es begonnen, mit Lügen ging es weiter.
Für einen Augenblick zuckte der Wunsch in ihr auf, ihm die volle Wahrheit zu sagen, doch das war Wahnsinn, das war Selbstmord. Und eigentlich brauchte ja auch nicht einmal gelogen zu werden. Es mußte nur alles ein anderes Gesicht bekommen, das Gesicht von damals, als noch Hoffnung in ihrem Leben geleuchtet hatte, als sie gewesen war, was sie heute zu scheinen trachtete.
»Dunkler muß es sein,« sagte sie und löschte die stechend weißen Flammen des Kronleuchters.
Nun streute nur noch der rosenfarbene Schirm der Stehlampe einen Blütenschimmer über sie hin.
Seine Hände in den ihren, den Kopf an seine Schulter gelehnt, begann sie flüsternd und stockend ihre Beichte.
Erzählte von ihrer umhegten, sorgenlosen Kindheit, in der Musik als Fee und als Dämon gewaltet hatte – von der Flucht des Vaters und dem nun beginnenden Elend.
Vorläufig gab es noch nichts zu verschweigen und umzustimmen. Auch der Oberst blieb, wie er war, nur daß sie, alter Gewohnheit zufolge, ab und zu einen General aus ihm machte. Erst als Walter von Prell zum zweitenmal in die Erscheinung trat, erwies es sich als notwendig, neue Farben in das Bild zu mischen … Denn schon, wenn sie bekannte, daß sie einem fidelen und verlumpten Nichts Seele und Leib in leichtfertiger Liebe zu eigen gegeben hatte, mußte sie in ihres Freundes Achtung unrettbar zu Grunde gehen. Und so wurde aus dem armen, kleinen Tunichtgut ganz von selber ein selig-unseliger, lachender Helde, der schließlich nur darum unterliegen mußte, weil alle finsteren Mächte gegen ihn anstürmten.
Und da sie schon einmal im Zuge war, dichtete sie gleich die Abschiedsstunde hinzu mit tausend Eiden und Tränen und innerlicher Bräutlichkeit und ewigem Nichtvoneinanderlassen.
Auch die Schrecken des Duells, von dem sie ja nie etwas Näheres erfahren hatte, malte sie, wie der Geist es ihr eingab, und ließ den Geliebten gänzlich zum Krüppel werden.
Als er nach Amerika abgedampft war, entschlossen, erst wieder zum Vorschein zu kommen, wenn er im stande sein würde, durch eine Vereinigung für immer die gemeinsame Missetat zu sühnen, hatte er sie als heiliges Pfand einem Freunde übergeben, einem schlichten, tüchtigen jungen Manne, der ganz aus Edelmut und Selbstaufopferung bestand. Dieser war es, der dem Verschollenen zuliebe vor vier Jahren ihr Schicksal in die Hand genommen hatte, der sie umsorgte und in die Welt führte, der mit seltener Uneigennützigkeit das kleine Vermögen verwaltete, das sie aus den Tagen ihres Glanzes herübergerettet hatte, und der ihr in allen Fragen des äußeren Lebens ratend zur Seite stand. Täglich kam er um die Teestunde, sich respektvoll nach ihrem Befinden zu erkundigen, geleitete sie auch bisweilen Abends, wenn sie aus Gesellschaft kamen – sein Kreis war ja der ihre geworden – zu einer Zigarette nach Hause, und alle, die sie beide kannten, ehrten und verehrten dieses schöne Verhältnis, dessen Urgrund die edelste Freundestreue war.
So erzählte Lilly Czepanek mit großer Überzeugungskraft und glaubte beinahe selber daran. War es doch in der Tat das ungefähre Bild ihres Lebens, wie es ihr einst von Richard gemalt worden, ehe an dem Abend des Kellermannschen Festes das Gleiten in den Abgrund seinen Anfang genommen hatte.
Von Kellermann und Doktor Salmoni und der ganzen Bande erzählte sie nichts, – das war natürlich, – aber ihrer unglücklichen Kunst gedachte sie mit Trauer und Entzücken – zum letzten Male, wie sie sagte – dann sollte nie mehr davon die Rede sein.
Als sie geendet hatte und mit einem Gefühl zagen Geborgenseins lächelnd und erwartend zu ihm aufschaute, um sein Absolvo zu empfangen, da erschrak sie vor der Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. Ganz fahl sah er aus, seine Augen brannten zur Decke empor, tiefe Schmerzfalten hatten sich in seine Backen gegraben.
»Glaubt er mir nicht?« fuhr es ihr durch den Kopf.
Da sprang er auf, ergriff das Bild Richards, das im Stehrahmen auf dem Schreibtisch stand, und trat damit in das Lichtbereich der umschirmten Lampe.
Sie wußte, daß er Walter im Sinn hatte und warf schüchtern dazwischen: »Das ist er ja gar nicht.«
»Wer ist es denn sonst?«
»Sein Freund – der Fabrikant.«
Enttäuscht warf er das Gestell beiseite.
»Hast du denn von ihm kein Bild?«
Ja doch … Aber wo war es? Das große Pastellbild stand in der Rumpelkammer, das kleine mußte in einer Schublade verkramt sein.
»Ich habe es weggetan,« sagte sie entschuldigend, »weil ich's nicht mehr ertragen konnte, es vor mir zu sehen.«
Die Gründe ließ sie unklar. So konnte er annehmen, daß die erwachende Liebe zu ihm die Schuld daran trage.
Wie war das alles lächerlich und kläglich!
Am liebsten wäre sie vor ihm niedergesunken und hätte zu ihm aufgeschrieen: »Vergib, vergib – nimm mich, wie ich bin, verwirf mich nicht.« Statt dessen mußte sie weiter lügen, schamlos, verzweifelt, wie irgend eine Hochstaplerin, die auf der Kippe steht, ertappt zu werden.
»Willst du mir den Gefallen tun, das Bild vorzusuchen?«
»Wozu willst du dich quälen, Liebster?«
»Tu's, ich bitte dich.«
Dagegen gab es keinen Widerspruch.
Sie holte den Schlüssel aus dem Korbe, öffnete aufs Geratewohl die große Lade und wühlte, halb nur hinschauend, in wildem Suchen zwischen den Papieren umher.
Richtig! Da war es … Seit Jahren hatte sie es nicht mehr gesehen.
Hochmütig und durchtrieben schauten die weißbewimperten Augen sie an, als wollten sie sagen: »Schwindle nur, schwindle. Ich hab's grade so gemacht.«
»Da ist es.«
Er trat mit dem Bilde zur Lampe und starrte lange darauf nieder. Um seine Lippen zuckte es, die Karte wippte mit kurzen, kleinen Stößen in seiner zitternden Hand.
»Gerade so wie ich einmal vor dem Bilde der jungen, reichen Waise stand,« dachte sie. Doch das war nun lange her.
Dann hörte sie seine Stimme ganz heiser: »Willst du mir eine Frage beantworten, von der viel für mich abhängt?«
»Frage, Liebster.«
»Rechnest du noch immer auf die Wiederkehr deines – dieses jungen Menschen?«
Wo ging das hinaus? Sie fühlte, sie brauchte nur »nein« zu sagen, und jedes Hemmnis war beseitigt. Aber wenn sie es tat, dann wurde ja alles sinnlos, was sie von Walter und dessen Freunde erzählt hatte. Wer konnte wissen, ob ihn dann nicht doch der Argwohn packte?
Darum mußte sie sich wohl oder übel zu einem Mittelweg bequemen.
»Manchmal sind mir auch schon Bedenken gekommen,« brachte sie zögernd heraus. »Ich warte ja nun schon auf zweie. Der Vater ist ganz und gar verschollen, und der da läßt auch nichts von sich hören.«
»Und du hältst dich heute noch für eben so gebunden wie damals?«
Sie fühlte, wie die Schlinge sich enger und enger um sie zusammenzog.
»So antworte doch.«
In seinem Ton lag etwas, das jeden Winkelzug zunichte machte. Ihr war, als ginge es um Leben und Tod.
Sie streckte die Arme beschwörend gegen ihn aus.
»Seit ich dich kenne, ist mir alles egal. Wenn du willst, ich soll ihm treu bleiben, dann wart' ich auf ihn – meinetwegen bis an den jüngsten Tag … Wenn du willst, ich soll ihn mit dem Fuß wegstoßen, das tu' ich dann geradeso.«
Er warf den Kopf nach hintenüber und schloß die Augen. Nun stand er genau so wie vorhin im Dunkel des Parkes. Und ihr wurde von neuem Angst um ihn.
»Warum mag er sich bloß so quälen?« dachte sie. Und da erst fiel ihr ein, daß er ja sie und alles, was sie sagte, ernst nahm. Daß er, der selber Herzenstreue übte, sie als ein Lebensgesetz auch aus ihr herauslas …
Ach, wenn er ahnte!
Sie schämte sich so sehr, daß sie ihn nicht zu fragen, ihm kaum einmal nahe zu kommen wagte.
Gewaltsam riß er sich empor, und auf seiner Stirn brannte der zornige Wille, vor dem sie schon immer Furcht gehabt hatte.
»Höre,« sagte er. »Nach allem, was du mir erzählt hast, weiß ich jetzt, daß ich von falschen Voraussetzungen ausgegangen bin … Du bist nicht verlassen, die Welt sündigt nicht an dir. Im Gegenteil. Du bist geschützt und gepflegt und wartest auf eine Zukunft, mag sie vorläufig auch noch unsicher sein … Das ginge dir natürlich alles durch mich verloren … Daß sein Freund die Hand von dir ziehen würde, sobald er etwas ahnte, das versteht sich von selbst. Und mit ihm all die andern, die jetzt deine Welt sind.«
Sie wollte hellauf lachen, sie wollte einen Hohnpfiff ausstoßen auf alles, was bisher ihr Leben ausgemacht hatte, aber der Laut erstarrte ihr in der Kehle. Denn sie bedachte blitzschnell, daß jede Katastrophe das Elend ihres Daseins unrettbar an den Tag bringen mußte. Nur heimlich und in dunkeln Stunden durfte sie die Seine sein. –
Und er fuhr fort: »Was ich dir dafür zu bieten habe, ist gleich Null. Ich habe nichts als meine Arbeit, das weißt du. Und auch die schwebt noch in den Wolken. Nicht einmal meiner selbst bin ich ganz sicher. Denn bedenk' ich auch das Letzte« – er wandte das Auge zur Seite.
»Ja wenn du mich nicht liebst,« sagte sie mutlos.
Er warf sich vor ihr in den Sessel, so daß er, auf dem Polster knieend, mit den Händen ihre Hüften umklammerte.
»Mein Gott, hab' doch Erbarmen mit mir … Du siehst doch, was ich aushalte … Mach's mir doch nicht noch schwerer … Aber wenn ich mir fortan sagen muß, Tag für Tag, Stunde für Stunde: Dort drüben in Amerika sitzt einer – der schuftet sich ab für sie und schreibt bloß deshalb nicht, weil er sich schämt einzugestehen, daß er's mit seinem lahm geschossenen Kadaver bis jetzt zu nichts hat bringen können … wenigstens sehe ich keinen anderen Grund für sein Schweigen … denn eine wie dich vergißt man nicht … Und inzwischen sitze ich verstohlen bei dir und halte dich im Arm … Ich weiß nicht – ich – – – man kann lüdern, man kann ehebrechen, – – für mich wär's nichts, aber meinetwegen … Nur einem armen Krüppel sein Alles wegnehmen, das glaube ich, kriegt auch der ärgste Lump nicht fertig … Wie ich's verwinden werde, das weiß ich noch nicht –«
Er sank zusammen, seine Stirn schlug gegen die Kante der Lehne, das Schluchzen schüttelte ihn.
»– aber – besser – gleich – auf der Stelle – als später, – wenn's für beide – zu spät – ist.« –
So. Nun war der Schlag gefallen. Wunder wie klug hatte sie's anzustellen geglaubt und sich dabei im eignen Netz gefangen.
»Um Gottes willen!« schrie sie auf. »Soll das heißen, du willst – –?«
Er richtete sich in die Höhe.
»Lebe wohl,« sagte er. »Denk an mich in Frieden. Leb' wohl und hab' Dank.«
»Wenn ich ihm jetzt die Wahrheit sage, dann geht er erst recht,« dachte sie, hilflos um sich blickend.
Seine ausgestreckten Hände warteten, sein Auge hing lechzend an ihr, als könne er damit ihr Bild für immer in sich aufsaugen.
»Ich will mich vor die Tür stellen,« dachte sie. »Ich will mich über ihn werfen und ihn mit meinen Küssen ersticken.«
Aber das Verlangen, seine Achtung nicht zu verlieren, machte sie zaghaft und klein.
»Noch nicht gleich,« bettelte sie, seine Hände umklammernd, »noch eine Stunde, eine Abschiedsstunde – noch eine einzige.«
Er löste sich leise und wandte sich zur Tür.
Sie stand in der Mitte des Zimmers hoch aufgerichtet in dem blauen Venusgewande, die Arme, von denen die weiten Ärmel zurückgeglitten waren, in ihrer fruchtreifen Schönheit flehend nach ihm ausgestreckt.
»Wenn er mich so sieht,« dachte sie, »dann wird er noch mein.«
Aber er kehrte sich gar nicht mehr um. Er taumelte. Seine Stirn stieß gegen die angelehnte Tür – – –
Und dann war er mit einem Male wie ausgewischt … Und ausgewischt mit ihm zugleich alles Licht der Welt … Ein Bienenschwarm stieg klingend in die Höhe … Und in der Finsternis, die sie plötzlich umgab, sank sie durch den Fußboden hindurch immer tiefer – immer tiefer – bis in das Kanalwasser hinab … ein Keulenschlag traf ihre Stirn … Und dann war alles aus – –
Zuerst schien es ein Vogelgezwitscher. Dann war es das Murmeln einer ungeheuren Volksmenge irgendwo auf einem weiten, sonnigen Platze. – Und dann blieben nur zwei Stimmen übrig. Eine männliche und eine weibliche, die eifrig miteinander tuschelten.
Die Köchin – Grete hieß sie – und der verschmitzt lächelnde Diener. Natürlich, die beiden.
Und der Oberst wird auch gleich hereinkommen und sie zur Frau haben wollen.
Gleichzeitig senkte sich etwas Kühles, Feuchtes wohltätig auf den schmerzenden Kopf. Gerade so wie damals …
»So muß ich also das alles noch einmal durchmachen,« dachte sie erschreckend, und dann fing sie zu weinen und zu flehen an: »Ach bitte, Herr Oberst, lassen Sie mich gehen. Ich bin ja viel zu schlecht für Sie! Ach, lieber Herr Oberst!«
»Um Gottes willen, sie spricht irre,« sagte die männliche Stimme, die aber durchaus nicht die jenes greulichen Dieners war.
Ach, wie wohlig lag es sich im Bannkreis dieser Stimme, in der ein Klang von Heimat sorgend zitterte!
»Er ist also doch nicht gegangen,« dachte sie und wühlte sich beruhigt in den Kissen zurecht, die man ihr als Nackenstütze auf den Teppich gelegt hatte. Wenn sie seinen Vornamen gewußt hätte, so würde sie ihn jetzt angerufen haben. Aber den wußte sie noch immer nicht. Man mußte sich wahrhaftig schämen. Und darum hob sie nur die Arme ein wenig nach ihm hin.
Da kniete er auch schon neben ihr und streichelte ihr die Hände.
Sie müsse sich ruhig halten, ganz ruhig halten.
»Wird nun alles wieder gut werden?« fragte sie, in seligem Frieden zu ihm auflächelnd.
Ja. Ja. Alles würde gut werden. Man würde schon Mittel und Wege finden, auf daß man beieinander bleiben könne. Wie zwei Freunde, wie Geschwister, – nur nicht trennen, nur nicht trennen! So grauenhaft zu quälen brauche sich niemand.
Schaudernd gedachte sie des Augenblicks, da das Licht ringsum erloschen und sie selbst in die nasse, schmutzige Tiefe hinabgesunken war.
So wäre das Leben geworden ohne ihn.
Nun aber würden sie als Bruder und Schwester in schuldloser Heiterkeit, befreit, geläutert, der Morgensonne entgegenwandern.
Kaum auszudenken war das Glück.
Seltsam nur, daß keiner von ihnen schon früher darauf gekommen war.
Sie tastete nach seinem Unterarm und nestelte mit einem Seufzer der Zufriedenheit die linke Wange in seine hohle Hand.
Aber Adele, die so lange rücksichtsvoll zum Fenster hinausgeschaut hatte, fand, da die Stirnwunde noch blute, müsse der Umschlag erneuert werden.