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VIII

Und das Glück blieb wohnen.

Es nestelte sich in den staubigen Winkeln fest, es hockte auf den Regalen, es wob goldene Spinngewebe von Balken zu Balken, es ritt auf jedem Sonnenstrahl, der, von den jenseitigen Spiegelfenstern hergesandt, an den ledernen Bücherrücken entlangkletterte.

Auch gab es zu allen Zeiten ein Summen wie von zitternden Tönen, ein Durcheinander von Halbmotiven und Viertelmelodien, Windharfen- und Heimchengezirp, Kesselsingsang und ganz leises Vogelgezwitscher.

Ob man wachte oder schlief, es war immer das gleiche.

Und bisweilen jauchzten triumphierend ein paar Takte des Hohen Liedes dazwischen.

Äußerlich ging alles seinen alten Trott. Frau Kantor Asmussen war bald nüchtern, bald süßer Arzneien voll. Töchter und Gatte stiegen und sanken, sanken und stiegen durch alle Grade moralischer Wertmessung in tiefste Verworfenheit hernieder und zu strahlenden Apotheosen empor … Gestern fehlte ein Band Gerstäcker … Heute schien ein Balduin Möllhausen in den Sümpfen des Orinoko ertrunken.

Bisweilen trieb ein Windstoß, der durch die geöffneten Fenster wehte, ein Wölklein gelben Pulvers gegen die Kanten der Regale, von wo es weggewischt wurde wie ein ganz gewöhnlicher Erdenstaub. Und brachte doch ein Grüßen von schaukelnden Blütenzweigen.

Mehr war es nicht, was dieser Frühling ihr schenkte, – die paar Karren voll Maien und Flieder allenfalls ausgenommen, die an ihrem Hause vorbei zu Markte gefahren wurden.

Der junge Held von drüben hatte sich ihr nicht mehr genähert.

Sie erzitterte, sobald sein Schritt über die Stufen dahinglitt, sie empfing hochklopfenden Herzens die zwei scheuen Grüße des Tages – und das war alles.

Auch auf dem Beischlag war er nicht mehr zu finden gewesen. Die gemeinsamen Büffeleien dehnten sich allabendlich bis spät in die Nacht hinein. Oft wurde es zwei Uhr, ehe draußen die Schritte der Fortgehenden trappten.

Dann erst warf sie sich ins Bett, und in das sommerliche Halbdunkel starrend, ließ sie ihren Geist durch alle Welten schweifen, um den Thron zu finden, der würdig gewesen wäre, ihrem Helden als Lebensziel zu dienen. Sie sah ihn als Feldherrn auf ödem Blachfeld völkerstürzende Schlachten gewinnen, als Dichter, der Lorbeerkrone entgegen, die Stufen des Kapitols hinanschreiten, als Entdecker in selbstgebautem Flugschiff durch den luftleeren Weltraum sausen, als Stifter neuer Religionen – doch hier machte sie erschrocken halt, denn sie war in ihrem Herzen eine gute Katholikin geblieben.

Unter dem Drucke körperlichen und seelischen Geprügeltseins hatte sie nicht gewagt, zur Religion ihre Zuflucht zu nehmen. Rasch genug war ihr der Mut abhanden gekommen, Frau Asmussen zu bitten, daß ihr früh morgens der Weg nach St. Annen gestattet sein möchte; und alsbald hatte sie ganz vergessen, daß es so etwas wie Beichte und heilige Messe gab.

Jetzt aber im Überschwange nie geahnter Gefühle wuchs ihre Sehnsucht nach seelischer Entlastung so sehr, daß sie sich entschloß, Frau Asmussen ihr bisher geheim gehaltenes Katholikentum zu bekennen und um die Erlaubnis zu bitten, in jenen stillen Winkel beten zu gehen, wo hinter sechs goldumrandeten Kerzen der heilige Joseph, der immer gut zu ihr gewesen, leise lächelnd mit dem Finger drohte.

Frau Asmussen fand nach ihrer Beichte alles an ihr erklärt: die Tücke, die Heuchelei, die Faulheit, den mangelnden Ordnungssinn, und schloß in ihre tägliche Fürbitte fortan den Wunsch einer baldigen und gründlichen Bekehrung mit hinein.

Aber die Erlaubnis, zweimal wöchentlich die Frühmesse zu besuchen, verweigerte sie nicht.

Damit war alles erfüllt, was Lilly zu hoffen gewagt hatte.

Zwischen ihr und dem heiligen Joseph gab es ein rührendes Wiedersehen.

Wahrhaftig! Man kam zu ihm zurück wie in die Heimat. Die Engelchen, die in dem bunten Glasfenster hinter ihm flatterten, grüßten verschmitzt und vertraulich wie jüngere Geschwister, die im voraus wissen: arg wird die Strafe nicht werden. – Der goldgelbe Teppich lud gastlich zum Knieen ein, und von dem nahen Marienaltar dufteten die Blumen.

Der Heilige selbst schien erst ein wenig gekränkt, weil sie so lange nicht dagewesen war. Als sie ihm aber alles geklagt hatte, die Einsamkeit, die Milchmus und die Prügel, da wurde er weich und verzieh ihr.

Drei neue Silberherzen hatte er inzwischen geschenkt bekommen, aus denen fingerlange Flammen emporlohten, und in ihr regte sich die Begierde, ihm ein gleiches zu weihen. Nur wußte sie nicht recht, aus welchem Grunde; denn das Wunder, das an ihr zu tun war, sollte noch kommen.

»Vielleicht ist es auch nur Eifersucht oder Prahlerei in mir,« dachte sie, denn peinlich war es auf alle Fälle, daß andere ihm näher standen. »Aber schließlich, was kann ich besseres verlangen,« tröstete sie sich, »da ich ihn so lange vernachlässigt habe.«

Und als sie ihm alles gestanden hatte, – bis auf die Liebesgeschichte natürlich, dazu war er ihr inzwischen denn doch zu fremd geworden, – ging sie eilends von dannen, denn es schlug dreiviertel sieben, und wenn sie dem jungen Helden auf seinem Schulwege nicht begegnet wäre, hätte ihre Morgenandacht keinen Sinn gehabt.

An der Ecke der Wassertorstraße kam er zusammen mit seinen Gefährten auf sie zu.

Er grüßte, und dann zogen sie vorüber. Sie aber blieb tief atemholend stehen, als habe sie soeben eine schwere Gefahr bestanden.

Von diesen Begegnungen gab es fortan zwei in der Woche.

Aber ihr heimlicher Wunsch, daß er eines schönen Tages, wenn er allein war, stehen bleiben und ein freundnachbarliches Gespräch beginnen würde, erfüllte sich nicht. Nicht der leiseste Freudenschimmer glitt bei ihrem Nahen über sein Gesicht, und die gespannte Kümmernis seiner Züge wich selbst dann nicht, wenn er – ein wenig rot werdend – vor ihr die Mütze zog.


Längst hatte sie jede Hoffnung aufgegeben, daß sie je wieder mit ihm reden würde, da – um die Dämmerstunde eines regnerischen Julisonntags – zu einer Zeit, in der die Tür für jeden Kunden geschlossen war, bewegte sich leise die Klingel – und er stand auf der Schwelle.

Sie rief: »Mein Gott!« und hätte in ihrer Verwirrung beinahe wieder zugeschlossen.

Ob sie vielleicht Rückerts Gedichte in ihrer Bibliothek besäße.

Sie wußte genau, daß sie sie nicht besaß, da sie aber fürchten mußte, daß er gleich ihr keinen weiteren Vorwand des Gespräches finden würde, so erwiderte sie, sie wolle mal nachsehen, und ob er nicht so lange näher treten möchte.

Er zögerte ein wenig, nahm aber schließlich auf dem Kundenstuhle Platz, der jenseits des Ladentisches dicht an der Tür stand.

Sie suchte eine lange Zeit, denn ihr war bange, daß er bei dem unausbleiblichen »Nein« mit kurzem Danke aufstehen und von dannen gehen würde. So lief sie also ziemlich planlos zwischen den Bücherständen umher und sagte einmal über das andere, »ich weiß nicht, ich habe sie doch unlängst gesehen.«

Dann mußte sie für einen Augenblick, um in Ruhe nachzudenken, ihm gegenüber sich vor dem Ladentische niedersetzen.

Aber er ermunterte sie weiter zu suchen. »Wenn Sie sie unlängst gesehen haben, dann müssen sie ja auch da sein.«

Und als sie schließlich doch nicht da waren, seufzte er tief auf, murmelte etwas wie »was werde ich da machen?« und war verschwunden.

Fassungslos starrte sie die Tür an, die eben noch seine Gestalt umrahmt hatte.

Sie wollte bitten, rufen: »Bleib! komm zurück!« Aber dann klappte auch die jenseitige Tür, und alles war vorbei.

Sie kauerte vor dem Fensterbrett nieder und malte sich aus, was alles sich hätte ereignen können, wenn er doch vielleicht geblieben wäre.

Ihr Herz klopfte so sehr dabei, daß sie glaubte vergehen zu müssen.

Nach einer Viertelstunde etwa wurde die Klingel von neuem gerissen.

Sie machte einen Satz in die Höhe.

Wenn er es wäre?

Er war es.

Sie möchte entschuldigen, er hätte seinen Regenschirm vergessen.

»Jetzt kommst du mir aber nicht wieder fort!« rief es in ihr.

Er ergriff den pudelnassen Schirm, den sie nicht bemerkt hatte, wiewohl eine blinkende Lache sich an der Dielenritze entlang zog, und machte richtig Miene, aufs neue den Rückzug anzutreten.

»Wozu wollen Sie eigentlich die Rückertschen Gedichte?« fragte sie, den Angriff eröffnend.

Er hub zu klagen an: »Das Leben wird uns ja so sehr schwer gemacht, liebes Fräulein … Sie haben keine Ahnung, wie schwer uns das Leben gemacht wird.«

Und dann erzählte er von den freien Vorträgen, die wie Ziethen aus dem Busch unversehens über jeden herfielen, gleichviel ob er etwas zu dem in Frage stehenden Thema zu sagen wüßte oder nicht. Diesmal aber habe man Wind bekommen, daß morgen in der Literaturstunde eine umfassende Ansicht über Rückert gefordert werden würde. Und deshalb eben müsse er durchaus mal nachlesen, wer eigentlich in den drei Gräbern zu Ottensen begraben sei.

Eine helle Freude zuckte in ihr auf. Sie konnte ihm helfen. Sie, der niedrig flatternde Spatz – ihm, dem kreisenden Himmelsbewohner.

Und zaghaft berichtete sie ihm von dem armen geschlagenen Braunschweiger Herzog und dem frommen Messiassänger. Nur wer die zwölfhundert Vertriebenen waren, die in dem ersten der Gräber lagen, hatte sie vergessen.

Er schien an das unverhoffte Glück nicht recht glauben zu wollen. Ob sie ihrer Sache auch ganz gewiß wäre? Mit Klopstock, das hätte seine Richtigkeit, das wüßte er aus seinen Literaturgeschichtstabellen. Aber – das übrige? Und er schüttelte, von schweren Zweifeln bedrückt, die sieghafte Mähne.

Sie beruhigte ihn lebhaft.

Es sei zwar länger als ein Jahr her, seit sie von diesen schönen Dingen nichts mehr gehört habe, aber sie besäße ein gutes Gedächtnis und würde ihm gewiß keine leichtfertige Auskunft geben.

Nun erst schien ihm wohl zu werden. Er seufzte tief auf und meinte, das geistige Auge mehr aufs allgemeine gerichtet: »Ach, es ist schwer, liebes Fräulein. Ja es ist schwer.«

Und da er nun einmal ins Fahrwasser der Geständnisse gekommen war, so gab er auch seine Ansicht über die übrigen Schwierigkeiten des menschlichen Lebens zum besten. Mit der Mathematik ginge es allenfalls, in der analytischen Geometrie hätte er sogar erfreuliche Resultate zu verzeichnen, aber Geschichte – und die Sprachen – und dann vor allem der deutsche Aufsatz! Es sei manchmal zum Verzweifeln, wie bösartig es auf Erden zugehe.

Hiermit war Lilly höchlich einverstanden. Auch sie hatte Ursache, mit dem Weltlauf wenig zufrieden zu sein, und gab diesem Gedanken beredten und leidenschaftlichen Ausdruck.

»Und nun gar Sie!« fuhr sie fort. »Welche Qualen muß Ihr Geist erdulden, wenn er sich in seinem hohen Fluge durch die demütigenden Forderungen der Schulstube gehemmt sieht!«

Er sah sie ein wenig verwundert an und meinte dann: »Jawohl, es ist schwer, es ist schwer.«

»Ich an Ihrer Stelle,« fuhr sie fort, »würde mich innerlich um das öde Zeug gar nicht bekümmern. Ich würde, was nötig ist, so nebenher aus dem Ärmel schütteln und dann in voller seelischer Freiheit zu den Höhen emporsteigen, auf denen die großen Dichter und Denker wohnen.«

»Ja, aber das Examen, liebes Fräulein!« rief er entsetzt.

»Ach das dumme Examen,« erwiderte sie. »Ob man das macht oder nicht!«

Da wurde er eifrig. »Das verstehen Sie nun ganz und gar nicht, liebes Fräulein. Das Examen ist gewissermaßen die Pforte, durch die man zu jeder besseren Lebensstellung eingeht. Gleichviel, ob man hernach die Universität bezieht oder Baufach studiert oder auch bloß die höhere Postkarriere erwählt. Zwar das letztere, das würde ich nicht.«

»O pfui!« unterbrach sie ihn. »Ein Mann wie Sie!«

Er lächelte ein dürftiges Lächeln des Geschmeicheltseins.

»Man will ja nicht gerade den Himmel stürmen,« sagte er, »aber seine Ziele hat man doch. Was wäre man, wenn man nicht seine Ziele hätte?«

»Nicht wahr?« rief sie und sah mit einem dankbaren Aufleuchten ihres Auges zu ihm empor. Das Gefühl, noch nie eine Stunde ähnlichen Glückes erlebt zu haben, durchdrang sie ganz.

Und als er aufstand, um sich zu empfehlen, denn es war inzwischen ganz dunkel geworden, empfand sie einen körperlichen Schmerz, als würde ihr ein Stück ihres Leibes entrissen.

Er hatte die Tür schon beinahe geschlossen, da wandte er sich noch einmal um und sagte als einer, der es liebt sicher zu gehen: »Wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe macht, liebes Fräulein, suchen Sie doch vielleicht noch einmal nach, ob Sie die Gedichte nicht finden können.«

Und dann zum zweiten Male wiederkehrend: »Sie könnten sie mir ja dann unter die Strohmatte legen.«

Lilly entzündete eilig die Hängelampe und fing mit gehorsamem Eifer zu suchen an. Und erst nach einer Weile fiel ihr ein, daß sie sie niemals finden würde.


Die großen Ferien brachte er auf dem Lande bei einem Leidensgefährten zu, dem er büffeln half.

Gleich nach der Wiedereröffnung der Schule begannen die schriftlichen Arbeiten, und gegen Mitte September sollte die mündliche Prüfung an die Reihe kommen.

Der junge Held sah fahl und angegriffen aus, und in den Höhlungen der Backen lagen wie Blutflecken rotbraune Bartstoppeln.

Lilly vermochte das Elend nicht länger schweigend mitanzusehen, und eines Morgens, als sie von der Messe heimkehrend ihn allein in der menschenleeren Straße traf, wagte sie stehen zu bleiben und ihn anzureden.

»Sie müssen sich schonen, Herr Redlich,« stieß sie angstvoll hervor. »Sie müssen sich Ihren Eltern erhalten und allen, die Sie lieb haben –«

Er schien mehr verlegen als erfreut, und ehe er ein Wort der Erwiderung fand, schielte er mit raschem Blinzeln nach rechts und nach links.

»Ich danke Ihnen, liebes Fräulein,« stotterte er, »aber später – bitte, später.«

Damit schoß er vorüber. Kaum daß er wagte, die Mütze zu ziehen.

Jetzt erst wurde es Lilly klar, daß sie etwas sehr Unpassendes begangen hatte. Die Häuser vor ihr begannen zu tanzen. Sie kaute das Taschentuch und fürchtete, von den Näherkommenden belacht und verhöhnt zu werden. Als sie in ihrem Winkel vor dem Leihregister saß, zweifelte sie nicht mehr, ihn durch ihre Frechheit für immer verloren zu haben.

Und richtig!

Er kam ohne Gruß, er ging ohne Gruß, er kam zur Vesperstunde wieder und ging abermals – seine Schritte verschlang die Straße.

Aus – aus – aus!

Doch siehe da! Um die Dämmerung klopfte es – nein, man kann nicht sagen, daß es klopfte, – es kratzte an der Tür, wie schuldbewußte Hunde zu kratzen pflegen, die eingelassen sein möchten.

Und da stand er. Aber nicht so beiläufig – gleichsam geschäftsmäßig – verlegen wie an jenem Sonntagabend, als die Gräber von Ottensen ihm Recht und Weggeleit verliehen hatten, nein, in wahrhaft zitternder Herzensangst. Wie ein Dieb, der das Stehlen nicht versteht.

»Ist Frau Kantor da?« flüsterte er.

»Frau Kantor kommt um diese Zeit nicht mehr herein,« flüsterte sie zurück, tief aufseufzend vor Glück.

»Darf ich dann – einen Augenblick – näher – treten?«

Sie wich zurück und ließ ihn ein, denkend: »Wie kann man so viel Freude ertragen und stirbt nicht daran?«

Er stammelte etwas von »Verzeihung bitten« und »nicht Antwort geben«.

Sie erwiderte etwas von »sich Vorwürfe machen« und »gut gemeint gewesen«.

Und dann saßen sie sich gegenüber wie an jenem Sonntagabend, der Ladentisch zwischen ihnen, und wußten nicht weiter.

Er war der erste, der den Weg in das Reich des Erlaubten wieder fand.

»Man möchte ja so gern manchmal mit einer gesinnungsverwandten Dame plaudern,« sagte er mit einer gewissen hackenden Wichtigkeit, »man findet aber doch sehr selten die Zeit dazu – und dann auch die Gelegenheit.«

»Ach, was die Gelegenheit anbelangt –« dachte Lilly.

Und da sie ein so gütiges Interesse an ihm bekunde, und wo doch ein Gedankenaustausch gewiß bildend für ihn sein würde, besonders bei der zunehmenden Emanzipation des Weibes, – welches –

Hier hatte er sich festgefahren. Aber sein Würdebewußtsein verließ ihn nicht mehr.

Er sah sie ein wenig herausfordernd an, als wolle er sagen: Siehst du wohl, wie ich dieser schwierigen Situation gewachsen bin.

Sie hatte nichts von all dem Gerede verstanden. Seitdem sie wieder denken konnte, gab es nur das eine Verlangen in ihr: hilf ihm, errette ihn, damit er sich nicht zu Schanden arbeitet.

»Wir hatten einmal einen Lehrer in der Selekta, Herr Redlich,« begann sie, »der gab uns herrliche, unvergeßliche Unterrichtsstunden. Aber der hatte auch so viel gearbeitet wie Sie, und der ist gewiß schon an der Schwindsucht gestorben. So wird es Ihnen auch gehen, wenn Sie nicht acht geben und Maß halten.«

Er nickte betrüblich vor sich hin. »Ja, es ist schwer. Es ist schwer.«

»Sie müssen sich ausschlafen und spazieren gehen, besonders viel spazieren gehen –«

»Gehen Sie denn spazieren, liebes Fräulein?«

Betroffen sann sie nach. Seit sie in dieser Bücherhöhle hauste, hatte sie kein Schneefeld und keinen grünen Baum gesehen.

»Ach ich!« warf sie achselzuckend hin, »was kommt's denn auf mich an?« Und innerlich jauchzend über die eigene Kühnheit fügte sie hinzu: »Wollen wir einmal zusammen gehen?«

Nun war die Reihe des Betroffenseins an ihm.

»Es gibt da doch eine Menge Hindernisse,« meinte er, bedenklich die Locken wiegend. »Man würde sich falschen Deutungen preisgeben. Man hat wohl auch Rücksichten zu nehmen, besonders Sie, liebes Fräulein, gewiß – besonders Sie –«

Lilly hatte viel von jungen Kavalieren gelesen, denen die Fürsorge für den Ruf ihrer Dame mehr galt als die eigene Leidenschaft, und sah dankbar und bewundernd zu ihm auf.

»Um mich machen Sie sich keine Gedanken!« rief sie, »ich komme schon durch, – ich schwänze einfach die Frühmesse.«

Wiewohl sie bei diesen lästerlichen Worten einen kleinen Herzstich fühlte, so wußte sie doch, daß sie ohne Zaudern Gott und selbst den heiligen Joseph verraten würde, um eines solchen Spazierganges willen.

»Aber erst muß ich das Examen hinter mir haben,« erklärte er.

Und dabei blieb es.

Ein gegenseitiges Versprechen besiegelte den Plan, und geleitet von ihren Mahnungen und Wünschen schied er, nicht ohne vorher Straße, Beischlag und Hausflur sorgfältig gemustert zu haben.


Von nun an war Lillys Leben ein einziger Rausch von Hoffnung und träumender Vorfreude. Die halben Nächte über lag sie wach und malte sich aus, wie sie mit ihm durchs Frührot über die goldenen Felder wandern würde, die Hand gegen das pochende Herz gepreßt, bisweilen leise seinen Ellenbogen streifend. Und jedesmal, wenn sie dies dachte, fühlte sie einen kleinen Schlag, der sie bis zu den Zehenspitzen durchzuckte.

Sie las nur heiße und leidenschaftliche Bücher, in denen viel von »Trunkenheit« und »Taumel« und dem »Schwindelgefühl endloser Küsse« die Rede war. Aber von eigenen Küssen träumte sie nicht. Und jedesmal, wenn sie sich auf diesem Wege ertappte, hielt sie erschrocken inne, so himmelhoch stand er über jedem Erdenwunsch.

Nun wußte sie auch, weswegen sie dem heiligen Joseph ein Silberherz versprechen konnte.

Eines Sonntagmorgens trug sie ihm die ganze Geschichte vor. Erzählte von Fritz Redlichs Examennöten, seinen hohen Idealen und ihrer Angst um ihn. Nur den geplanten Spaziergang verschwieg sie ihm, um der zu schwänzenden Messe willen.

Sie hatte in diesem Jahr gegen sechzig Mark gespart, die sie in einer Lederhülse auf dem bloßen Leib verwahrte. Das Silberherz würde höchstens zwanzig Mark kosten, also blieb noch eine Menge Geldes, das sie zu einem Geschenke für ihren Freund verwenden konnte. Lange schwankte sie zwischen einer goldgestickten Kollegienmappe und ebensolchen Schlafschuhen und entschied sich endlich für eine Pistolentasche mit inliegendem Revolver, denn sie mußte annehmen, daß er im wilden Kampfe des Lebens mannigfachen Gefahren ausgesetzt sein würde, aus denen nur tolles Wagen und blitzschneller Entschluß ihn erretten konnte.

Revolver mit Tasche kosteten fünfundzwanzig Mark. Goldfäden für das einzustickende Monogramm fünf Mark. Und so war alles aufs beste geordnet.

Als sie ihn am Morgen des Examentages auf den Beischlag treten sah, weiß wie die Handschuhe, mit denen er den Eltern zum Abschied zuwinkte, – sie selbst schien er vergessen zu haben, – da war ihr zu Mute, als solle sie ihm nachlaufen und ihm schon jetzt die rettende Waffe in die Hand drücken. Aber sie überlegte, daß die Herren Examinatoren sich für diese Art von Beredsamkeit nicht allzu empfänglich erweisen dürften und war glücklich, als im letzten Augenblicke, schon von der Straße her, ein furchtsamer Blick seines Auges auch sie noch streifte.

Um ein Uhr mittags gab's draußen einen kleinen Lärm.

Da brachten sie ihn geführt.

Er sah matt und zermürbt aus, aber die anderen johlten.

Der alte Feldwebel außer Dienst kam ihm auf zerrissenen Pantoffeln entgegengelaufen und wischte den grüngrauen Pinselbart heftig an seinem Gesichte ab. Und von der gemeinsamen Küche her wallte der würzige Duft der angeräucherten Brühwürstchen.

Lilly lief jubelnd zwischen den Bücherständen hin und her und dachte mit einer Art von überlegener Genugtuung: »Ist doch ein tüchtiger Mann, der heilige Joseph!«

Am nächsten Morgen schon bestellte sie das Silberherz und bat errötend, daß die Buchstaben L.+C. und F.+R. eng verschlungen hinein gestochen werden möchten.

Als sie heimkehrte, fand sie unter den Bestellzetteln in dem Briefkasten einen Umschlag, der ihre Adresse trug, und darin auf der Rückseite einer versteckten Gasthofspeisenkarte die Worte: »Sonntag früh um fünf auf dem Beischlag.«


Durch das Lichtkreuz des Ladens brach der erste graue Morgen.

Lilly sprang aus dem Bett und riß die Fenster auf.

Die Straße sah aus wie ein großer Milchnapf, so schwer lastete der weiße Frühherbstnebel auf dem Boden. Das kalte, feuchte Geriesel, das über sie herströmte, tat den brennenden Gliedern wohl. Sie breitete die Arme aus und wusch sich mit der eisigen Tauluft, als stünde sie in einem Bade.

Ihr klares Sommerkleid, das sie an den vorhergehenden Abenden selbst gewaschen und geplättet hatte, hing als bläuliche Duftwolke an der weißen Wand.

Sie putzte sich, wie sie noch nie im Leben getan hatte. Das Schicksalsfest, das der heutige Tag ihr brachte, sollte sie würdig geschmückt finden.

Von dem spärlichen Reste ihres Vermögens hatte sie sich einen großen, gelben Schäferhut gekauft, dessen lichtblaue Bänder sich unter dem Kinn binden ließen. So ersparte sie eine Halsschleife. Durchbrochene Seidenhandschuhe waren plötzlich auch da. Sie hatten sich, längst vergessen, auf dem Grunde des Koffers vorgefunden.

Der schwere Revolver kam in den Strickbeutel.

Ehe sie ihn dort untertauchen ließ, küßte sie ihn mehrfach und sagte: »Beschütze ihn treu, vernichte seine Feinde und verleihe ihm Sieg.«

Es war eine richtige Waffenweihe.

Plötzlich um fünf knarrte drüben die Tür. Sie schlüpfte in den Hausflur hinaus.

Auf dem Beischlag drückten sie sich die Hände.

Er hatte zwar verquollene Augen, sah aber ziemlich unternehmend aus. Sogar etwas Stutzerhaftes lag in seinem Wesen. Der Hut saß ihm schief, und in der Linken schwenkte er einen Tändelstock aus Bambusrohr mit einem silbernen Möwenkopfe.

Sie stammelte ihre Glückwünsche.

Er dankte etwas von oben herab, als lohne es sich nicht, von einer so bedeutungslosen Sache viel Aufhebens zu machen.

»Wir bummeln jetzt schrecklich,« fügte er hinzu. »Ich kann nicht gerade sagen, daß es mir einen besonderen Spaß macht, aber man muß doch auch die Torheiten des menschlichen Lebens kennen lernen.«

Als sie bei St. Annen vorbei kamen, fuhr ihr ein plötzlicher Gedanke durch den Kopf, der sie mit Glückseligkeit erfüllte: Wenn sie jetzt für einen Augenblick eintraten, dann wurde die Schuld des Verschweigens von ihr genommen, dann durfte der heilige Joseph selber dem Tage seinen Segen geben.

Furchtsam brachte sie ihre Bitte vor. Aber da kam sie schön an.

»Ich bin ein Freigeist, liebes Fräulein,« sagte er, »und würde meinen Überzeugungen niemals zuwider handeln. – Dennoch hat ein aufgeklärter Mensch die Pflicht, tolerant zu sein. Wenn Sie Lust haben, bitte schön, ich werde warten.«

Nein, sie hatte keine Lust mehr, und sie schämte sich heftig. Aber freilich konnte er ja nicht wissen, in wie naher Beziehung der heilige Joseph zu ihm und seinem Glücke stand, sonst wäre er gewiß nicht so undankbar gewesen.

Sie schritten schweigend durch die noch menschenleeren Vorstadtstraßen. Der Nebel hob sich ein wenig. Lilly fror so sehr, daß sie bei jedem Schritte sich schüttelte. Vielleicht war die Erregung schuld. Doch fühlte sie sich im ganzen viel ruhiger, als sie geglaubt hatte. Es war das alles so ganz, ganz anders. Eine kleine Entzauberung war geschehen, sie wußte selbst nicht wie.

Sehnsüchtig sah sie die Straße hinauf, an deren fernem Ende dunkle Baumkronen sich erhoben.

»Laß uns nur erst draußen sein!« dachte sie und biß die Zähne aufeinander, damit sie nicht klapperten.

Das Schweigen fing an, ihre Gedanken zu lähmen. Sie hätte gern ein Gespräch begonnen, aber sie wußte keinen passenden Anfang.

Vor ihnen zog ein Bäckerjunge pfeifend seines Weges.

»Wenn wir die Nacht durch arbeiteten,« begann Herr Redlich plötzlich, »dann haben wir uns immer warme Semmeln gekauft. Wir könnten es jetzt eigentlich auch so machen.«

Nun wurde ihr wieder fröhlich zu Mute.

Freilich, hätte er gesagt: »wir wollen sie uns stehlen,« so wäre es ihr noch lieber gewesen.

Der Bäckerjunge durfte seine Semmeln nicht verkaufen. Die waren ihm ja zugezählt, aber drüben stand ein Laden offen. Und als Lilly ihren Helden mit einer großen Düte im Arm wieder zum Vorschein kommen sah, hatte sie ein wohliges Gefühl, als würde soeben ein gemeinsamer Hausstand gegründet.

Nun gingen sie zwischen Gärten daher, von deren Zweigen tropfende Schauer auf sie niederfielen. Lilly drückte die Schultern zusammen und wußte vor Frieren nicht aus noch ein.

Endlich standen sie auf freiem Felde.

Über die hochgeschnittenen Stoppeln breiteten sich Teppiche von silbergrauen Spinngeweben, ein jeder schwer von dem Übermaß des Taues, der ihn nach unten drückte.

Gelbe Hügelzüge umfaßten das Halbrund des Bildes, und in der Ferne standen die Mauern des Hochwaldes.

Lilly streckte die Arme vor sich her wie eine Schwimmerin und tat mit offenem Munde fünf, sechs ganz tiefe Atemzüge.

»Ist Ihnen nicht wohl?« fragte er.

Sie lachte ihn an.

»Ich muß nachholen,« sagte sie. »Ich hab' ein ganzes Jahr nicht mehr geatmet.«

Und da sie immer noch fror, verlegte sie sich aufs Laufen. Er versuchte gleichen Schritt zu halten, blieb aber bald zurück und keuchte mit kurzen Hoppsprüngen hinterdrein.

Als sie auf der ersten Hügelhöhe angelangt waren, ging drüben in der Ebene die Sonne auf. Das Buschwerk stand in Feuer, und alles Spinngewebe fing an, wie Silber zu leuchten … Jeder Tautropfen wurde ein Funke, an jedem Faden lief eine Flamme entlang.

Lilly, vom Laufen erwärmt und erregt, preßte die Hände gegen die hochgehende Brust und starrte mit trunkenen Augen in das Glutmeer.

»O sehen Sie! o sehen Sie!« stammelte sie und blickte ihm dann fragend und forschend ins Gesicht.

Sie hätte erwartet, er werde Oden sprechen, Hymnen singen und, wenn möglich, die Harfe dazu schlagen.

Er stand nach Atem ringend da und schien ausschließlich mit sich beschäftigt.

»Ach sagen Sie doch was, Herr Redlich,« bat sie. »Ein Klopstocksches Gedicht oder sonst was.« Denn bis Goethe war sie nie recht gekommen.

Er lachte kurz auf und erwiderte: »Ach wo, liebes Fräulein. Jetzt nach dem Examen kann mir die ganze deutsche Literatur gestohlen bleiben.«

Sie schwieg beschämt, denn sie fürchtete mit ihrem Verlangen als eine Halbgebildete zu erscheinen.

Als sie wieder aufschaute, war die Glut erloschen. Nun sandten die Felder noch gelbrote Dämpfe der höher steigenden Sonne nach, deren Strahlengold kälter, gleichgültig fast, über der lichtbettelnden Erde stand.

Und dann schritten sie weiter dem Walde zu.

Er wiegte seine Papierdüte in den Armen, sie pflückte Brombeeren, die wie Bündel schwarzer Glasperlen glitzernd zu beiden Seiten des Weges in spinnwebüberzogenen Büschen hingen.

Hoch oben am Waldrande fanden sie eine Bank.

Ohne sich darüber verständigt zu haben, schritten sie auf sie zu. Das war der Platz, den sie brauchten.

Lilly fühlte eine kleine Herzbeklemmung. Hier sollte sie endlich die Offenbarungen empfangen, nach denen ihre Seele schmachtete, – hier sollte sie dem jungen Genius in das sonnenwärts gerichtete Auge schauen.

Er öffnete die Düte, und sie legte das Taschentuch mit den Brombeeren daneben.

Den Strickbeutel mit dem schweren Revolver darin versteckte sie bis auf weiteres zwischen den Sprossen der Seitenlehne.

Und nachdem sie die ausgehöhlten Semmeln mit Brombeeren vollgepfropft hatten, frühstückten sie höchst vergnüglich.

Der goldene Frühherbstglanz schüttete seine Zauber über sie. Lillys Kopf wurde schwer von Sehnsucht und Glück. Sie hätte auf die Erde sinken und die Stirn an seine Knie legen mögen, nur um eine Stütze zu haben in dem Übermaß der reifenden Erfüllung.

Er hatte die Mütze abgenommen. Eine geringelte Strähne sank ihm bis zu den Augenbrauen und gab seinem Gesicht etwas Düsteres, Weltherausforderndes. Diese Genielocke war Mode in der Oberprima und wurde von allen denen sorgsam gepflegt, die nicht zur Patenz des Korpsstudententums hinanstrebten.

Sein Blick ruhte auf den Kirchtürmen der alten Stadt, die in treuherziger Plumpheit gleich schläfrigen Wächtern auf die weit ausschwärmende Häuserherde herniederschauten.

»Darf ich wissen, was Sie jetzt denken?« fragte Lilly in schüchterner Bewunderung. Der große Augenblick – nun endlich war er da.

Er lachte kurz und ein wenig spöttisch auf.

»Ich rechne nach, wieviel Pastoren solch ein Nest ernährt,« sagte er, »und wie bequem man es hätte, wenn man einfach Theologie studieren wollte.«

»Warum tun Sie es nicht?« fragte sie, »die Wissenschaft strömt doch von überall auf einen zu.«

»Das verstehen Sie nicht, mein Fräulein,« verwies er sanft. »Nicht die Wissenschaft ist die Hauptsache, sondern die Überzeugung. Für seine Überzeugung muß man alles tun. Auch darben und hungern muß man können für seine Überzeugung … Sechs Stipendien hat die Stadt an Theologiestudierende zu vergehen. Aber eher würde ich mir die Hand abhacken, ehe ich eines davon annähme. Für seine Überzeugung muß man in den Kampf gehen, und das will ich auch. Übermorgen geht's los.«

Seine kleinen, kurzsichtigen Augen funkelten. Mit bebender Hand strich er sich die Genielocke aus der Stirn.

Nun hatte sie ihn, wo sie ihn haben wollte. Vielleicht war dies der richtige Augenblick, ihm den Revolver zu übergeben. Aber aus Furcht vor der Größe der Stimmung verschob sie es noch.

Den Sack, in dem die Waffe ruhte, fester fassend, schwärmte sie wie einstmals auf dem Beischlag: »Ach, Herr Redlich, was gibt es doch schöneres als solch einen Kampf! … Sich in die Fluten des Lebens stürzen – den finstern Schicksalsmächten das Glück abtrotzen und immer stärker, immer eiserner werden dadurch – kann man sich etwas Erhebenderes denken?«

Aber ihr Anruf fand auch diesmal keinen Widerhall.

»Ach Gott, liebes Fräulein,« sagte er, »von nah besehen, was ist denn eigentlich dieser vielgerühmte Lebenskampf? … auf sich rumtrampeln lassen und im Winter kalt schlafen müssen … und zu Mittag nichts zu essen haben … Ich geh' ja 'rein in die Geschichte, natürlich tu' ich das, aber es ist schwer, ja es ist schwer! … Wenn ich ein Stipendium hätte, wär' mir wohler.«

»Und das ist die ganze Freudigkeit, mit der Sie dem Leben die Stirn bieten?« fragte Lilly.

»Ach liebes Fräulein,« erwiderte er, »wer mit nichts wie 'nem Handkoffer voll geflickter Wäsche und 'nem zusammengepumpten Hundertmarkschein loszieht, wo soll dem wohl die große Freudigkeit herkommen?«

»Gerade dem!« rief sie, begierig, ihm mit einem Strahl der eigenen Zuversicht ins Herz zu leuchten. »Wenn einer ist wie Sie, dem das Zeichen der Größe im Gesicht geschrieben steht, dann liegt einem ja die Welt zu Füßen.«

Und sie beschrieb mit der Rechten einen Halbkreis über die grünbuschige, von silbernen Wasserläufen durchzogene Ebene hin, in der die Stadt mit ihrem Kranz von schwellenden Gärten eingebettet lag wie ein Lerchennest auf der Wiese.

Ihr war, als zeige sie ihm so ein kleines Abbild seines künftigen Reiches.

Er nickte in trübseligem Besserwissen ein paarmal vor sich hin.

»Ach, es ist schwer,« bemerkte er, »ja es ist schwer.«

Sie wollte ihn durchaus von seiner eigenen Sieghaftigkeit überzeugen, und immer mehr in Feuer geratend, fuhr sie fort: »Ach, wenn ich nur ausdrücken könnte, was ich weiß und was ich fühle … wenn ich Ihnen nur von dem eigenen Mute etwas abgeben könnte … Sehen Sie mich armes Ding an. Vater hab' ich keinen mehr, Mutter hab' ich keine mehr, Freunde hab' ich auch nicht … Wenn ich wenigstens zu Ende hätte lernen und Examen machen können wie Sie … Nun sitz' ich da ohne Beruf, ohne Geld, ohne Wintergarderobe, nicht mal ein paar ordentliche Schuhe habe ich,« – und sie wies ihm die verwitterten Kappen ihrer ausgetretenen Gamaschen, die sie bisher sorgsam versteckt gehalten hatte, – »satt zu essen gibt's auch nicht, und wenn ich heut zu spät nach Hause komme, kriegt ich Prügel … und doch weiß ich, das Glück wartet bloß auf mich … es ist schon da – unsichtbar – in jedem Windchen, das auf mich zukommt, in jedem Sonnenstrahl, der mich anlacht … die ganze Welt ist Glück … die ganze Welt ist Musik … ein Hohes Lied ist alles … alles ist ein Hohes Lied!«

Mit heftiger Bewegung wandte sie sich von ihm ab, um ihm nicht zu zeigen, wie alles in ihr zitterte.

Unten in der Stadt hatten die Glocken zu läuten begonnen. St. Marien, die einst die Kathedrale gewesen war und jetzt als protestantische Hauptkirche ihres Amtes waltete, gab mit ihrem dröhnenden Dreiklang den Ton an … St. Georg, die einstige Ordenskirche, hatte eine helle Terz E-G, nur an hohen Festtagen kam noch das väterlich brummende C dazu … Andere Glocken folgten … Bescheiden, aber doch im ersten Augenblick herauszuhören, mischte sich das lichte Gebimmel von St. Annen hinein. Es war ein heimliches Raunen und Locken darin: »Wir beide kennen uns, wir beide lieben uns, und der heilige Joseph läßt grüßen.«

Lillys Freund schien die Zeit ihres Schweigens benutzt zu haben, um sein seelisches Gleichgewicht zurückzuerobern. Mit der kleinen, belehrenden Würde, die er gern annahm, wenn er sich irgendwo im Vorteil fühlte, begann er: »Ich glaube beinahe, mein liebes Fräulein, wir beide verstehen uns nicht ganz. Ich habe es mir angelegen sein lassen, die Probleme des Lebens eifrig zu studieren, und sehe daher etwas tiefer als Sie. Ich lasse mir darum auch durch die sogenannten Illusionen der Jugend kein X für ein U machen. Ich weiß, was die Menschen wert sind, und möchte auch Ihnen raten, mit Ihrem Tun und Handeln etwas vorsichtiger zu sein.«

»Wie meinen Sie das?« fragte sie bestürzt.

Er lächelte sie halb überlegen und halb unsicher von der Seite an.

»Nun, die Schönheit hat doch nun einmal gewisse Gefahren im Gefolge,« meinte er.

»Ach was, schön!« rief sie von Glut übergossen. »Wer denkt an solche Dummheiten!«

»Wem die Natur diese Gabe mitgegeben hat,« fuhr er fort, »der hat doppelt und dreifach Ursache, sich in acht zu nehmen. Es ist zum Beispiel ein Glück für Sie, daß Sie an einen so streng und rechtlich denkenden jungen Mann gekommen sind, wie ich es bin. Andere, die leichtfertiger geartet sind, würden sich einen solchen Spaziergang ganz anders zu Nutze machen. Da können Sie sicher sein.«

Sie starrte ihn an. Ein Wirbel von unklaren und unangenehmen Gedanken riß sie mit sich. Was wollte er von ihr? Machte er ihr Vorwürfe, verachtete er sie um ihrer heiligsten Empfindungen willen?

»Ach Gott, ach Gott,« sagte sie ganz fassungslos, »ich wünschte, wir wären zu Hause!«

»Sie müssen mich recht verstehen, mein Fräulein,« begann er von neuem. »Ich bin durchaus kein Pharisäer und bringe den Schwächen der menschlichen Natur ein volles Verständnis entgegen. Es ist nur ein ganz bescheidener Rat, den ich mir hiermit gestatte, und für den Sie mir noch einmal danken werden. Man hat eben nicht umsonst seine Grundsätze, und wenn wir uns im späteren Leben wiedersehen sollten, dann werden Sie sich Ihrer einstigen Jugendbekanntschaft hoffentlich nicht zu schämen brauchen.«

»Wenn hier einer von Schämen spricht,« rief es in ihr, »dann bin ich es, die sich zu schämen hat.«

Zudringlich, würdelos, zuchtlos erschien sie sich, da sie ihm diesen Morgengang abgebettelt hatte.

Und war doch bisher nichts Böses dabei gewesen. Wo kam das nur mit einemmal her?

Noch immer wiegten sich die Glockenklänge zu ihr herauf, noch immer spann die Sonne ihr Goldnetz um sie herum. Sie sah nichts, sie hörte nichts, so sehr schämte sie sich. Am liebsten wäre sie auf und davon gerannt, aber sie wagte nicht sich zu rühren.

Er seinerseits sah gar nicht mehr trostbedürftig aus, sondern wie einer, der in ruhiger Zufriedenheit ein getanes Werk betrachtet.

Eine Brombeere war zwischen den Latten der Bank liegen geblieben.

»Flecken darf man sich nicht machen,« sagte er ermahnend, naschte die Beere mit den Fingern auf und zerknuspelte die Kerne langsam zwischen seinen Zähnen.

Da ermannte sie sich und griff aufstehend nach dem Strickbeutel.

»Was haben Sie da drin?« fragte er, »es sieht ja so schwer aus.«

Erschrocken umfaßte sie das Wollnetz.

»Es ist nur der Hausschlüssel,« stammelte sie.

Und dann gingen sie heimwärts.

»Wenn ich ihn nur umstimmen könnte,« dachte sie, »damit er noch einmal eine günstige Meinung von mir kriegt.«

Und da ihr nichts besseres einfiel, bückte sie sich auf den Wegrand nieder und sammelte die schönsten Wiesenblumen, die ihr Arm erreichen konnte.

Die bot sie ihm mit abgewandtem Auge als Abschiedsgabe dar. Statt jener anderen, an die sie nun nicht mehr denken durfte, ohne albern vor ihm dazustehen.

Er dankte mit einer schönen Verbeugung und wirbelte das Rohrstöckchen mit dem Silbergriff, – es war ein väterliches Erbstück, dessen Besitz er eben angetreten hatte, – unternehmend rings um seinen Kopf, wie es künftige Korpsstudenten tun, wenn sie Hochquarten markieren wollen.

So bedrückt und gedemütigt erschien sie sich, daß sie kein Wort mehr hervorbringen konnte.

»Sagt Ihnen nicht auch eine innere Stimme,« meinte er, »daß wir uns noch einmal im Leben begegnen werden?«

Sie wandte sich ab, sie hatte genug zu tun, um die hoch quellenden Tränen niederzuzwingen.

»Und dann werden Sie hoffentlich einen Beweis dafür erhalten, wozu, auch bei geringen Mitteln, ein eifriges Bemühen und eine unentwegte Überzeugungstreue im stande sind.«

Seine Stimme klang jetzt volltönend und vibrierte in selbstgefälliger Kraft. Es war beinahe, als habe er, während er sie klein und zaghaft machte, etwas von ihrem frohen Mut in sich hineingesogen.

Aber als sie in die Nähe des Altmarkts kamen, da wurde er doch wieder unruhig. Er sah sich nach allen Seiten um und meinte schließlich, die Straßen seien immerhin schon sehr belebt, es wäre wohl besser, wenn man sich hier trennte und auf verschiedenen Wegen dem heimatlichen Hause zustrebte.

Er sagte »zustrebte«. Die deutsche Literatur lag ihm also doch noch ein wenig in den Gliedern.

Wenige Tage später fuhr er ab. Und das Haus duftete von dem Knoblauch der Würstchen, die die Frau Feldwebel ihrem Sohne zum Abschied in die Suppe geschnitten hatte.

Lilly aber stand mit brennenden Augen hinter der Gardine und dachte in ihrem Leide: »Ach, hält' ich ihn doch nie gesehen!«


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