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Im Schein der mittäglichen Dezembersonne glitzerten draußen Säbelgriff und Uniformknöpfe.
»Das ist ein Neuer,« dachte Lilly, denn die straffe, gedrungene Männergestalt, die knarrend die Beischlagstufen hinan schritt, schien ihr fremd.
Ein herrisches Stampfen vor der Tür. Die Klingel gellte lauter denn sonst.
Nein, den kannte sie nicht. Das war kein leichtsinniger Leutnant, auch keiner von den reiferen, die die Würdigen spielen und mit zuwartendem Lächeln auf den ersten scheuen Blick lauern, um daraus zu entnehmen, was sie wagen dürfen.
Sie sah ein falkenscharfes, bohrendes Auge, das von einem Kranze spielender Krähenfüße dicht umgeben war, sie sah eine strenge, hochsattlige Hakennase und hagere Backenknochen, auf denen in buntem Geäder eine fest umgrenzte Röte stand, sie sah einen schmalen, hart geschlossenen Mund, der sich unter dem kurzen, buschigen Schnurrbart zu einem höhnisch-wohlwollenden Lächeln in die Höhe zog, sie sah ein zurückweichendes, vom Rasieren glänzendes Kinn, das sich nach dem hohen Kragen hin in ein paar schlaffen Falten verlor.
Sie sah das alles wie eine Vision. Ihr Herz hatte so heftig zu schlagen begonnen, daß sie sich gegen den Bücherschrank lehnen mußte.
»Das ist es ja, wovor ich Angst hatte,« sprach eine Stimme in ihr. »Das ist er ja, der ›Alte‹.«
Er hob den Arm mit nachlässigem Gruß gegen die Mütze, dachte aber nicht daran, sie abzunehmen.
»Oberst von Mertzbach,« sagte er mit einer Stimme, deren rauhe Melodik eine ganze Welt von befehlender Macht vor ihr ausbreitete.
»Ich wünsche einige Minuten Unterhaltung, mein Fräulein,« fuhr er fort. »Ich habe meine Gründe, Sie kennen zu lernen.«
Lilly fühlte, daß sie einer demütigenden Prüfung unterworfen werden sollte, die sie nicht im mindesten verpflichtet war, sich gefallen zu lassen. Aber noch nie im Leben war sie sich so wehrlos erschienen wie in diesem Augenblick. Ihr war zu Mute, als stünde sie vor einem Richter, der das Recht hatte, sie zu begnadigen oder zu verurteilen – ganz nach seinem Belieben.
Mit bebenden Lippen stammelte sie etwas, was eine Einwilligung sein sollte.
»Sie scheinen ja ein höchst gefährliches Fräulein,« sagte er. »Sie haben ja meine Herren – wenigstens die jüngeren – ganz aus Rand und Band gebracht.«
»Ich weiß gar nicht, was Sie wollen,« erwiderte Lilly, all ihren Mut zusammen nehmend.
Er machte »hm«, klemmte das Einglas ins Auge und besah sie von oben bis unten oder vielmehr bis zu der Tiefe, in der die Platte des Ladentisches ihre Gestalt entzwei schnitt. Dann machte er noch einmal »hm« und meinte: »Die Unschuldige spielen ist in solchen Fällen sehr leicht. Übrigens, ich kann meine jungen Herren vollkommen verstehen. Ich würde es wahrscheinlich nicht anders gehandhabt haben. Es scheint aber, mein Fräulein, daß Sie trotz Ihrer Jugend und – Unerfahrenheit über einen sehr respektablen Fonds von weiblichen Künsten verfügen, denn sonst würde es Ihnen nicht gelungen sein, die Herren, die ziemlich verwöhnt sind, trotz einer tadellos ablehnenden Haltung – oder vielleicht gerade durch diese Haltung, – zu immer erneutem Wiederkommen zu veranlassen.«
Lilly fühlte die Tränen emporschießen. Es wäre ein leichtes gewesen, die ihr angetanen Kränkungen zurückzuweisen, aber woher die Kraft nehmen, diesem Manne, dessen Auge sie entkleidete und durch und durch stach, der sie mit seinem Lächeln einhüllte wie mit einem Gitternetz, ein wehrhaftes Wort der Entgegnung zu sagen?
Und so setzte sie sich hin und weinte.
Er seinerseits stand auf und trat dicht an den Ladentisch.
»Mein Fräulein,« sagte er, »wie leicht oder wie schwer Ihr Ehrgefühl verletzt wird, kann ich so ohne weiteres nicht wissen. Jedenfalls ist es nicht meine Absicht, Sie zum Weinen zu bringen. Ich wünsche im Gegenteil, daß Sie mir möglichst ruhigen Gemütes einige Auskünfte geben möchten, die mich aufklären und die vielleicht auch nicht ohne einige Wichtigkeit für Ihr künftiges Leben sein würden.«
Lilly hatte nur die eine Empfindung: »du mußt dich zusammennehmen, denn er will es so.«
Dann wischte sie sich die Augen und sah ihn gehorsam an, nur noch ein wenig durch die Nase schluckend, wie sie als Kind getan hatte, wenn sie gescholten worden war.
Er fragte nach ihrem Namen, ihrer Herkunft, wo Vater und Mutter wären, welche Schule sie besucht hätte und was sie hier täte.
Als sie bei dieser Gelegenheit den Namen ihres Vormundes nannte, ging ein spöttisch verstehendes Schmunzeln über sein Gesicht.
»Die Lebensauffassung dieses Herrn kenne ich,« sagte er. »Sie stehen also alles in allem mutterseelenallein in der Welt?«
Lilly bejahte.
»Und es würde Ihnen nicht unangenehm sein, irgend einen Stützpunkt zu gewinnen, dem Sie sich im gegebenen Momente anvertrauen könnten?«
»Wo sollte der wohl herkommen?« erwiderte Lilly.
»Lassen Sie mich mal gelegentlich nachdenken,« meinte er stirnrunzelnd. »Übrigens ewig können Sie in diesem Loch auch nicht bleiben. Werden Sie da wenigstens gut behandelt?«
»O, es geht,« sagte Lilly, und zwischen Lachen und Weinen fügte sie hinzu: »Bloß – ich bekomme schlechtes Essen und werde auch manchmal« – sie wollte sagen »geprügelt«, aber sie schämte sich und setzte statt dessen »gestraft«, was keinen rechten Sinn hatte.
Nun brach er seinerseits in ein Lachen aus. Das klang, als ob man eine Peitsche knallen läßt.
»Sehr lobenswert, daß Sie das wenigstens mit Humor auffassen,« sagte er.
Dann stand er auf.
»Mein Fräulein, ich weiß, was ich wissen wollte. Meine Herren dürfen auch weiter zu Ihnen kommen. In Uniform, in Zivil, wie es ihnen beliebt. Sie werden unter den Mädchen dieser Stadt keine tadellosere Gesellschaft finden. Und sollte sich jemals einer im Tone verirren, so haben Sie nur nötig, eine Zeile zu schreiben. Aber ich bin sicher, das wird nicht vorkommen. Ich habe die Ehre, mein Fräulein.«
Lilly sah ihm nach, wie er mit dem federig-stelzenden Schritt des alten Kavalleristen über den Beischlag ging. Die Wintersonne schien nur dazu da, seine Gestalt mit spielendem Glanze zu umranden.
Von der Straße her wandte er sich noch einmal nach ihrem Fenster und grüßte leicht, doch respektvoll. Sein Auge bohrte sich unter herabgezogenen Brauen forschend, drohend beinahe, in das ihre. Dann verschwand er.
In Lillys Seele stürmten die Fragen: Was war das? was begehrte man von ihr? warum ließ man sie nicht in Ruhe?
Sie wollte weinen, sich beklagen, sich bedauert sehen. Aber dieses Leid hatte etwas Festtägliches, etwas Eitles beinahe. Sie schmückte sich damit wie mit einer neuen Hoffnung. Und was er von dem Schutz gesagt hatte, dem sie sich im gegebenen Momente anvertrauen könne, klang wohlig und lösend in ihrer Seele nach. Schien es nicht fast so, als wolle er selbst der Schützer sein, der ihrem wankenden jungen Leben so bitter fehlte?
Vielleicht ließ er sich von Doktor Pieper, der sich ja doch nicht um sie kümmerte, die Vormundschaft abtreten. Oder nahm sie gar selber an Kindesstatt an oder sonst was. Man konnte ja nicht wissen.
Wenn nur die dolchscharfen Augen nicht gewesen wären und das belustigte Lachen, und der böse, böse Blick zum Schluß. Und dann vor allem die Warnung ihres Freundes: »Wenn der je den Weg zu Ihnen findet, dann gnad' Ihnen Gott.«
Aber schließlich, was konnte ihr geschehen hinter ihrem Ladentisch, den noch niemals einer aufzuklappen gewagt hatte, oder gar hinter dem Bücherschranke L bis N, wo sie nicht einmal zu sehen war? –
Der Besuch des Kommandeurs schien trotz – oder vielleicht wegen – der verheißenen Ehrenerklärung auf »seine Herren« wie ein kalter Wasserstrahl gewirkt zu haben. Denn in den folgenden Tagen ließ nicht einer sich sehen.
»Ist das bereits ein Zeichen des Schutzes, den er mir angedeihen lassen will?« fragte sich Lilly.
Aber irgend etwas fehlte ihr. Sie wußte selbst nicht, was.
Nach einer Woche etwa warf ihr die jüngste der Schwestern, die um etwaiger Liebesbriefe willen morgens Wache hielt, ein Kuvert vor die Füße und sagte dazu: »Da ist wieder was mit siebenzackiger Krone, Sie Offiziersdirne, Sie.«
Das war nur einer der geringeren Ehrentitel, mit denen die Schwestern sie jetzt bedachten.
Lilly öffnete den Brief und las folgendes:
»Mein Fräulein!
Gestatten Sie, daß ich Ihnen, anknüpfend an die jüngst zwischen uns stattgehabte Unterredung, folgenden Vorschlag unterbreite: Der Posten einer Vorleserin und Privatsekretärin bei mir ist vakant. Sind Sie geneigt, ihn anzunehmen? Da ich unverheiratet bin, würden Sie schicklicherweise in meinem Hause keinen Aufenthalt finden können. Doch verpflichte ich mich, für Ihre Unterkunft in einer hierzu geeigneten angesehenen Bürgerfamilie Sorge zu tragen. Ihr Vormund, den ich Veranlassung genommen habe, hierüber zu befragen, hat sein Einverständnis erklärt.
Hochachtungsvoll
Frhr. von Mertzbach.
Oberst und Kommandeur des … Ulanenregiments.«
Es stand drüben, jenseits der schneehellen Straße und winkte und rief herüber: »Komm heraus aus deinem Loch; ich zeige dir das Leben, ich zeige dir was Neues.«
»Und darauf kommt es hauptsächlich an,« meinte der lustige Freund.
Aber dann malte sie sich aus, wie sie an dem großen Schreibtisch des Obersten saß und niederschreiben sollte, was er ihr diktierte, und sah seine Augen an sich herumbohren und suchen und drohen immerfort, immerfort – und ihr fiel die Feder aus den Fingern, und sie wollte aufspringen und weglaufen, aber sie konnte nicht, denn die Augen hielten sie gebannt.
Da setzte sie sich nieder und schrieb einen artigen Absagebrief: Sie wisse die ihr erwiesene Ehre wohl zu schätzen, aber sie fühle sich einem so schwierigen Amte nicht gewachsen und glaube, besser zu tun, in der bescheidenen Stellung zu bleiben, in der es ihr zwar nicht gut gehe, die sie aber auszufüllen wohl im stande wäre. – »In hoher Verehrung und Dankbarkeit.
Lilly Czepanek.«
So, das war abgetan. Nun mußte endlich wieder Ruhe ins Land kommen. So weit wenigstens, als die bösen Schwestern sie ihr gönnten.
Das Weihnachtsfest näherte sich.
Man kann nicht gerade sagen, daß die Vorbereitungen viel Heiterkeit ausgestrahlt hätten.
Frau Asmussen seufzte seit Wochen über die schlechten Zeiten und den landläufigen Unfug, alle Welt beschenken zu müssen. Die Schwestern erörterten möglichst oft und möglichst laut die Frage, ob feinfühlige und vornehme Mädchen es nötig hätten, zusammen mit gemeinen Weibsbildern unter den Weihnachtsbaum zu treten. Und von fröhlichen Heimlichkeiten, wie sie um diese Zeit auch in dem traurigsten Menschenhäuflein üblich sind, war nichts zu merken.
Lilly strickte ihrer Mutter ein braunwollenes Wintermieder, kaufte ein paar Geduldspiele und eine hölzerne Blumenschale – tönerne waren als zerschlagbar nicht beliebt – und schickte alles zusammen mit einem Kistchen Zuckerwerk an die Provinzialirrenanstalt ab.
Von der Mutter glitten in dieser Zeit ihre Gedanken oft auch zum Vater hinüber, der nun seit viereinhalb Jahren verschwunden war, ohne je ein Lebenszeichen von sich gegeben zu haben.
In ihrer Verlassenheit wuchs das Vertrauen zu seiner Wiederkehr … Am Christabend – so zwischen sechs und sieben – würde er plötzlich in beschneitem Havelock zur Tür hereintreten und sie mit der ihm eigenen weitausholenden Inbrunst in seine Arme ziehen. Sie atmete schon beinahe den Duft ein, den seine ölglänzenden Locken stets ausgeströmt hatten … Oder der Dienstmann würde als vorausgesandten Gruß ein geheimnisvolles Päckchen bringen, mit kostbaren Stoffen gefüllt. Auch ein Winterhut mußte dabei sein, denn der fehlte ihr sehr.
Wenn die anderen schlafen gegangen waren, holte sie aus der Tiefe ihres Deckelkorbes das Manuskript des »Hohen Liedes« hervor und sang mit leiser Stimme die schönsten Arien durch.
Da war manche Stelle, die sie nie ohne Tränen hören konnte. O, sie weinte viel an diesen Abenden, und doch brach gerade jetzt ein kleines, zaghaftes Glücksempfinden sich in ihr Bahn.
Es war ein holdes, träumendes Emporgehobenwerden, ein Wachsen von Flügeln, ein staunendes Horchen auf innere Stimmen, die süß und vertraut klangen wie von zärtlichen Mutterlippen und doch fremd und evangeliengleich wie aus dem Munde eines, der noch kommen soll.
Bisweilen fand sie sich im Hemd auf der Erde knieen, doch ohne zu beten – nur träumend, mit ausgebreiteten Armen, die Augen verzückt zur Lampe emporgeschlagen, als nahe von dort irgendwo her das Heil, dessen sie harrte.
So feierte sie in Seelenstille dennoch ihr Weihnachtsfest.
Der Christabend kam heran.
Mit Ach und Krach war schließlich eine Bescherung zusammengebracht worden. Die Schwestern liefen umher wie die Wilden, um Geschenke herbeizutragen, und derweilen wurde sogar Lilly mit ein paar freundlichen Worten bedacht. Dafür erwies sie sich dankbar, indem sie geflissentlich wegsah, als die Ältere sich in der Gegend der Ladenkasse zu schaffen machte. Sie wußte genau, was drinnen lag – viel war es nicht – und wenn später etwas fehlte, reichte ihr Hab und Gut aus, es zu ersetzen.
Gegen die Zeit des Abendessens hin wurde sie ins Hinterzimmer gerufen. Auf dem Eßtisch brannte der Tannenbaum, und männiglich war verlegen.
Die Schwestern reichten ihr die Hand, und Frau Asmussen, die bereits über ihrem Medizinglase saß, sprach einige würdevolle Worte über den Sinn des Weihnachtsfestes im allgemeinen und ihr Unglück im besonderen, einen so vortrefflichen Gatten gerade heute entbehren zu müssen.
Dann gab es ein allgemeines Entschuldigen, daß die Geschenke nicht reichlicher ausgefallen wären; aber man hätte sich zuerst über das »Muß« geärgert, während es doch eigentlich für zartere Seelen kein Müssen geben dürfe, – und dann wäre es plötzlich zu spät gewesen – und übrigens wäre auch die Staubschürze mit den roten Kanten recht respektabel, man selber hätte sich längst schon so etwas gewünscht – und der Tintenwischer wäre auch nicht zu verachten. Und dann vor allem der schlechte Geschäftsgang.
»Ich muß mich schämen – ich habe gar nichts,« antwortete Lilly. Aber am meisten schämte sie sich darüber, daß sie den beiden Schwestern in diesem Augenblick wieder ganz gut war.
»Ich habe doch keine Spur von Charakter,« dachte sie und biß in den Marzipan, den die Ältere, Bösere, ihr anbot.
Da wurde vorne im Bibliothekzimmer die Klingel laut.
Ein Dienstmann, mit Paketen beladen, stolperte herein und fragte: »Wohnt hier Fräulein Czepanek?«
Lillys Herz machte einen Sprung. »Von Papa – richtig von Papa!« jubelte sie.
Zuerst getraute sie sich kaum, die Pakete zu berühren. Sie lief drum herum und strich sich ratlos über die Haare. Erst auf die Mahnung der beiden Schwestern hin, die mit großen, gierigen Augen daneben standen, wagte sie die Schnüre zu lösen.
Was da alles zum Vorschein kam! … Ein spitzenbesetztes lichtwollenes und ein zartblaues Foulardkleid … ein rosaseidener Jupon … gelbe und schwarze Lackschuhe, letztere sogar mit Schmelzen bestickt … sechs Paar Handschuhe in Glacé- und Chevreauleder, von denen etliche bis zum Ellbogen reichten … Krawatten in dreierlei Art … und dann ein Tüchelchen in Valenciennesspitzen, zu Empirekleidern zu tragen … Bücher, Briefpapier, kandierte Früchte … und immer mehr … immer mehr … Selbst der ersehnte Hut war da: ein schlichter, zartgrauer Filz in Bergèrefasson, eine Form, die zu ihren großstiligen Zügen stets am besten gepaßt hatte, mit lichtbraunen Bändern und silbertüpfligen Pompons unauffällig garniert.
Alles zusammen eine wahrhafte Aussteuer.
Die Schwestern machten immer längere Gesichter. Auch Lilly hatte bald aufgehört sich zu freuen. Voll Angst tastete sie nur nach einem Brief, nach einer Karte, irgend einem Lebenszeichen, das der fremde Absender wohl hätte hinzufügen müssen. An den wiederkehrenden Vater dachte sie schon lange nicht mehr. – Doch trieb ein Instinkt der Selbsterhaltung sie an, den Schwestern gegenüber den Glauben zu heucheln, daß er und kein anderer es wäre, der diese Flut von Schätzen über sie ausschüttete.
Endlich – auf dem Grunde des Handschuhkartons – fand sich das gesuchte Kuvert. Sie rannte damit in den Bibliothekraum.
Unter der Hängelampe las sie, vor Schrecken erbleichend, auf einer Visitenkarte: »Freiherr von Mertzbach, Oberst und Kommandeur des … Ulanenregiments,« und darunter in den schweren, steilen Zügen, die sie schon kannte: »wünscht aus eigener Einsamkeit heraus der einsamen kleinen Freundin eine Stunde weihnachtlichen Glückes.«
Sie kehrte in das Hinterzimmer zurück, wo die neidfahlen Gesichter der Schwestern sie mit erstarrtem Lächeln empfingen, während Frau Asmussen über den Dämpfen ihres Glases geheimnisvolle Worte bröselte.
»Es kommt richtig von Papa,« sagte sie und wunderte sich, wie fremd, wie erloschen die eigene Stimme klang.
Die Schwestern lachten kurz auf und begannen dann schweigend die ausgebreiteten Sachen wieder in die Kartons zu packen.
Lilly hielt in der Hand eine Porzellanbonbonniere, die bis zum Rand mit fremdartig ausschauendem, duftendem Zuckerwerk gefüllt war, sah unschlüssig von einer Schwester zur anderen, wagte aber nicht, ihnen davon anzubieten, denn sie fürchtete mit einem beschimpfenden Worte zurückgewiesen zu werden. Dann setzte sie den Deckel, der einen von Rosen umwundenen Amor darstellte, auf den fein ausgeschliffenen Rand, ließ die Büchse in den Karton zurücksinken, verkroch sich in ihrem Bettwinkel und weinte bitterlich.
Die Schwestern tuschelten noch lange, bauten aus den Paketen eine Pyramide auf dem Ladentisch und gingen mit scheuer Hochachtung im Bogen daran vorbei.
Am nächsten Vormittag holte Lilly einen vorübergehenden Dienstmann von der Straße und schickte den ganzen Stapel ohne ein Begleitwort an den Geber zurück.
Dann ging sie zu den Schwestern und sagte: »Ich habe gestern die Unwahrheit gesprochen. Die Geschenke waren nicht von meinem Papa, und darum sind sie auch schon wieder weg.«
Die beiden, die ihr mit süß-saurer Beflissenheit entgegengetreten waren, machten aus ihrer Enttäuschung kein Hehl.
»Für so 'ne Pute hätt' ich Sie nicht gehalten,« sagte die Jüngere, und die Ältere, die ihrer Natur gemäß überall geheime Nebenabsichten witterte, meinte höhnisch dazu: »Im Gegenteil! Besonders raffiniert hat sie sein wollen. Hat den Verehrer noch toller auf sich hetzen wollen … Aber wenn sie sich nur nicht schneiden wird … Denn was falsche und was echte Würde ist, das erkennt bald selbst der Dümmste.«
Und um sofort ein Beispiel der echten zu geben, zog sie mit der linken Hand den Unterrock ganz straff um sich herum, nestelte mit der rechten die Nachtjacke unter dem Busen zusammen und sandte Lilly über die Schulter hinweg einen Blick voll lächelnder Verachtung zu, wie er nur der strengen Seelenhoheit zu Gebote steht.
Aber trotzdem fand Lilly sich fortan mit einer gewissen Vorsicht behandelt, die ihr sagte, daß man immer noch einiges von ihr erwartete.
An den nächsten Tagen ereignete sich nichts Besonderes. Nur ließen gleich nach dem Feste wieder etliche der jungen Herren sich sehen, wechselten krampfhaft ihre Bücher und erschöpften sich in Höflichkeiten, ohne jedoch Miene zu machen, sich auf Stuhl oder Ladentisch häuslich einzurichten.
Dann – am Tage vor Silvester – erhielt Lilly folgendes Schreiben:
»Mein Fräulein!
Sie haben die Beweggründe, die mich zu jener freundschaftlichen Weihnachtssendung veranlaßten, in schmählicher Weise verkannt. Es ist mir darum zu tun, mich zu rechtfertigen und Klarheit zwischen uns zu schaffen. Ich habe Pläne mit Ihnen, die ich gerne mündlich entwickeln möchte. Aber meine Stellung verbietet mir, abermals zu Ihnen zu kommen. Wenn Ihnen Ihre Zukunft am Herzen liegt, besuchen Sie mich morgen in einer der Abendstunden. Ich werde Sie bis acht Uhr erwarten. Mein Ehrenwort bürgt Ihnen für sicheres Geleit.
Ihr Mertzbach.«
Gehen oder nicht gehen?
In dieser Nacht schloß Lilly kein Auge.
Wenn nur die Angst nicht gewesen wäre, die wehrlos machende, atemraubende Angst, die sie jetzt schon überkam, wenn sie nur an ihn dachte.
Was sollte mit ihr werden, wenn sie ihm gar noch gegenüberstand?
So beschloß sie endlich, nicht zu gehen, und wußte dabei genau, daß sie doch gehen würde.
Sie lebte den Tag wie in einem dumpfen Traume dahin.
Als der Abend nahte, holte sie sich von Frau Asmussen die Erlaubnis, die Silvesterandacht zu besuchen. Die Schwestern, die jedem ihrer Schritte argwöhnisch nachspähten, warfen einander bedeutsame Blicke zu, schienen aber heute zu sehr mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um sich ihren Interessen mit üblicher Hingabe widmen zu können.
Lilly setzte den alten Felbel auf, den schon mancher Sturm zerzaust, mancher Schauer verfärbt hatte. Ihr Wintermantel war so ineinander gegangen, daß sie darin ganz schmalschultrig aussah; und an den Ärmeln mochte man zupfen, so viel man wollte, sie reichten nicht bis zu den Handgelenken hinab.
Hätte sie ihren Kopf beisammen gehabt, so würde sie sich viel zu sehr geschämt haben, in diesem Aufzug zu einem so vornehmen Herrn zu gehen.
Aber sie tat das alles nicht aus eigenem Antrieb. Ihr war, als würde sie von fremden, geheimnisvollen Mächten geschoben, als wären unsichtbare Hände um sie herum, die ihr beim Anziehen halfen, die ihr die Flechten tiefer herab und den Bogen der Augenbrauen höher hinauszogen, die ihr die Mantelknöpfe unter dem Halse öffneten, damit die eingeengte Brust ihre junge Fülle frei entfalten durfte, und die ihr die verwachten Wangen rieben, bis sie in sieghaftem Blühen erstrahlten.
Als sie in den Winterabend hinaustrat, der sie mit milder Frostluft streichelte, hatte sie ein erstes Gefühl des Erwachens.
»Wohin willst du?« fragte eine Stimme in ihr, und sie antwortete ausweichend: »Ich kann ja immer noch zum heiligen Joseph gehen.«
Aber sie ging nicht zum heiligen Joseph, sondern machte einen großen Bogen um St. Annen herum, durchquerte den Altmarkt, sah bei Frangipani die Schwestern mit zwei Verehrern sitzen, erwehrte sich mühsam eines galanten Herrn und fand sich plötzlich vor dem lattenbeschlagenen Torbogen, hinter dem einst – vier Stiegen hoch – die Nähmaschine der zu Grunde gerichteten Mutter das letzte bißchen Verstand aus dem Kopfe hinausgeschnurrt hatte.
In den zwei Dachfenstern, dort, wo sie einst gehaust hatten, schimmerte Licht.
Dort saß wahrscheinlich wieder eine und nähte Hemden und Pantalons und Nachtjacken, Tag und Nacht, Tag und Nacht. – So würde auch sie einst sitzen und ihrer verlorenen Jugend als einer verbrecherischen Torheit in bitterer Reue gedenken.
»Wenn Ihnen Ihre Zukunft lieb ist,« hatte er geschrieben.
Da drehte sie sich kurz um – rannte – rannte – rannte – und machte erst vor dem hellfenstrigen Hause halt, an dessen Schwelle ein trampelnder Soldat, den Säbel in der Faust, den höchsten Würdenträger der Stadt frierend behütete.
»Wohin willst du?« fragte die Stimme noch einmal.
Um keine Antwort geben zu müssen, raste sie die breite, teppichbelegte Treppe hinan, bis sie sich einem feistbäckigen Diener in silberstreifigen Kniehosen dicht gegenüber sah, der ihr, ohne eine Frage zu tun, mit einem ganz leisen Spitzbubenlächeln den Schirm aus der Hand nahm.
Hohe, weiße Türen wurden aufgestoßen – rotumschirmte Lampen leuchteten wie große Wunderblumen – schöne Frauen mit nackten Schultern und Kränzen im Haar schauten aus ovalen Goldumrahmungen lächelnd auf sie nieder.
Es war so still und so warm in dem weiten Raume, – man hätte sich auf den Teppich legen und einschlafen mögen, – wenn nur die Angst nicht gewesen wäre, die wie ein schnürendes Netz sich enger und enger um Brust und Hals und Stirn zusammenzog.
Eine andere Tür flog auf … Grüne Dämmerung, wie in einem dichten Walde, lag dahinter … und aus der Dämmerung trat breit, blank und klirrend seine Gestalt … Sie fühlte sich bei der Hand gefaßt und in den Bereich des grünen Nebelscheins gezogen … Bücherschränke ragten wie schwarze Mauern … Irgendwoher kam ein drohendes Glänzen von Waffen und Helmen und Harnischen.
Ihn selbst anzusehen wagte sie nicht. Auch als sie sich in einem hohen, dunklen Lehnstuhl sitzend fand, dessen Krönung wie ein Baldachin über ihrem Haupte hing, hatte sie noch keinen Blick zu ihm erhoben.
Nur seine Stimme hörte sie, deren dröhnende Rauheit sich heute zu einem zitternden Orgelton herabgedämpft zu haben schien.
Es war das alles gar nicht irdisch, was sie sah, vernahm und fühlte. Es war nicht der Himmel, es war nicht die Hölle, es war ein Angst- und Traumland, wo Menschenseelen hangend zwischen Not und Glück in stumpfer Betäubung dahinschweben.
Und endlich verstand sie auch seine Worte.
Die hatten nun freilich nichts Unirdisches an sich, sondern handelten höchst vernünftig von den Weihnachtsgeschenken, die er durchaus nicht als endgültig zurückgewiesen betrachtete, die vielmehr in sicherem Winkel des Augenblicks harrten, in dem sie von ihrer Herrin in Gnaden wieder aufgenommen würden.
Lilly schüttelte nur mit starrem Lächeln den Kopf. Eine Abwehr auszusprechen fand sie nicht den Mut.
»Und nun werden Sie mich fragen, mein liebes Kind,« begann er von neuem, »was mich alternden Mann bewegt, mich Ihnen wie ein beharrlicher Liebhaber an die Röcke zu hängen.«
Bei den Worten »alternden Mann« schaute sie unwillkürlich empor.
Dort saß er, bis zum Kinn hinauf von dem Lichtkegel der grünverkleideten Studierlampe überklar beschienen. Die Orden auf seiner Brust strahlten ein mattes Goldlicht aus. Die silbernen Quasten auf seinen Schultern bewegten sich glitzernd wie bunte, kleine Schlangen … Es war ein Glänzen auf ihm und um ihn herum, wie bei den Heiligen in Brokatgewand und Glorienschein.
Verwirrt, beschämt durch so viel Herrlichkeit senkte sie den Blick rasch wieder.
»Ich war zu Ihnen gekommen,« fuhr er fort, »weil ein Streit zwischen einigen meiner jüngeren Herren, dessen Gegenstand Sie bildeten, sich in etwas gefährlicher Weise zu entwickeln schien und der Schlichtung bedurfte. Ich erwartete ein kleines, kokettes Ladenmädchen zu finden und fand – nun ich fand eben – Sie … Was ich mit dem ›Sie‹ sagen will, werden Sie mich weiter fragen, denn Sie können sich Ihrer Vorzüge oder vielmehr Ihrer Anlagen – es ist ja alles noch im Werden bei Ihnen – unmöglich bewußt sein … Ich bin das, was man einen Frauenkenner nennt, mein liebes Kind, und ich sehe bereits hinter dem, was Sie heute sind, das, was Sie künftig sein werden, wenn – auf dieses › Wenn‹ kommt alles an –, wenn sich Ihnen die richtige Entwicklung bietet. Denn ebensogut können Sie ja auch zwischen Ihren Schmökern zu Grunde gehen. Für diese Entwicklung Sorge zu tragen, möchte ich übernehmen, falls Sie den Mut haben, Ihr Schicksal in meine Hand zu legen.«
Das klang ruhig und väterlich.
Lilly spürte ein wohliges Aufatmen, eine kleine lösende Zukunftshoffnung. Sie wagte den Blick noch einmal zu erheben und sah nun über dem Gold- und Silbergeflimmer ein grelles, glasiges Auge, das seine Schärfe verloren hatte und mit gewaltsamer, gieriger Frage sich gleichsam an sie drängte.
Das Zittern und Erstarren überkam sie von neuem. Willenlos, reglos saß sie da und dachte nur: »Was hilft's? Er macht ja doch mit mir, was er will.«
Und er fuhr fort: »Ich besitze im Westpreußischen, nicht weit vom Weichselstrome, ein schönes, altes Gut, dem ich mich aus dienstlichen Gründen nur selten widmen kann … Den Vorsitz des Haushalts führt eine vornehme Dame mittlerer Jahre, ein Fräulein von Schwertfeger; doch der Name tut vorläufig nichts zur Sache. Die würde Sie, wenn Sie zu ihr kämen, mit offenen Armen empfangen, das kann ich Ihnen schon jetzt versprechen … Und dort würden Sie Gelegenheit haben, sich unter den denkbar günstigsten Bedingungen zu dem zu entwickeln, was ich jetzt schon in Ihnen voraussehe … Damit wäre Ihnen vor der Hand geholfen, und ich hätte den Vorteil, daß ich, wenn ich ab und zu heimkomme, einen Schimmer von Jugend und Schönheit in meinem Hause vorfände.«
Er war aufgestanden und ging im Eifer des Überredens mit kleinen, wippenden Schritten um sie herum. Und bei jedem Schritte klirrte und klang es an seinem Leib, wie ein leiser, feiner Reigen von Schellen und Glöckchen. Schließlich hörte sie nur noch dieses metallene Klingen und verstand kein Wort von dem, was er sagte.
Als er geendet hatte, blieb er vor ihr stehen, so nahe, daß ein Duft von Haarwasser und wohlriechendem Leder sie überströmte.
Sie drückte sich gegen die Rückwand und hatte ein unbestimmtes Gefühl, als ob er sie jetzt binden, knebeln und fortschaffen würde, irgendwohin, wo kein Helfer ihr Schreien jemals zu hören vermochte. Sie wußte, sie würde sich nicht einmal wehren, so sehr war sie in seiner Gewalt.
»Sehen Sie mich doch einmal an!« sagte er.
Sie wollte es gewiß. O, sie war ja so gehorsam. Aber sie konnte nicht. –
Da legte er einen Finger unter ihr Kinn und schob ihren Kopf nach hinten. Doch sie hielt die Augen beinahe geschlossen und sah nichts wie die rote Einfassung seines Waffenrockes.
Und dann fühlte sie sich plötzlich sinken … der Waffenrock stieg zum Himmel … ringsum war ein helles Bienensummen … und dann nichts mehr. – – – – – –
Als sie wieder zu sich kam, lag etwas Kaltes, Nasses auf ihrer Brust, und Weiberkleider, die nach Rauch rochen, streiften ihr Gesicht …
Die grüne Dämmerung war noch da …
Ein Brustharnisch hing vor ihr und sah aus wie ein blank gescheuerter Kessel.
Sie wagte nicht sich zu rühren, so wohl war ihr zu Mut.
Eine rauhe, knorrige Hand scheuerte sich an ihrer Stirn, und eine gute Stimme sagte zwei-, dreimal hintereinander: »So'n armes junges Ding! So'n armes junges Ding!«
Dann, als sie schlechterdings ein Zeichen des Wachseins geben mußte, war die feste Hand auch schon stützend in ihrem Genick, und die Stimme fragte, ob es ihr jetzt besser gehe und was für Wünsche sie habe.
»Ich will nach Hause,« sagte Lilly.
»Das geht ja wohl nu nicht an,« sagte die Stimme, »denn Er hat befohlen, er will noch mit Sie sprechen. Aber wenn man Ihnen 'n guten Rat geben kann, dann sagen Sie ›schön Dank‹ und ›adieu‹ und machen, daß Sie raus kommen. Denn hier ist nicht gut sein für so'n armes, junges Ding wie Sie.«
Lilly richtete sich auf und nestelte ihre Taille zurecht.
Vor ihr stand die Dienerin – ein braunrissiges, dickmäuliges Köchingesicht, – und fragte, indem sie ihr die Schulter tätschelte, ob sie ihr was zur Herzstärkung bringen könne – süßen Likör mit Ei oder sonst was.
»Ich will nach Hause,« bat Lilly.
»Das sollen Sie auch gleich, mein Herzchen. Ich muß ihn bloß noch reinrufen.« Damit schob sie sich hinaus.
Lilly faßte nach ihrem Hute, auf dem sie gelegen haben mußte, denn er war ganz zerbeult und zerschunden.
»Nun muß ich mir aber wirklich einen neuen kaufen,« dachte sie und versuchte auszurechnen, wie viel sie nach ihren Vermögensverhältnissen dafür anlegen konnte.
Da ging die Tür. – Er trat ein – die Köchin hinter ihm.
Lilly hatte nun gar keine Angst mehr … Alles schien weit weg, weit weg. Auch er. Es war, als ob er sie nichts mehr anginge.
»Nu wird man sie ja wohl zur Droschke bringen können,« sagte die Alte.
»Sie sind hier nicht mehr nötig,« herrschte er sie an.
Die Alte wagte noch eine stammelnde Einrede.
»Raus!« schrie er.
Da war sie auch schon draußen.
Ein mattes Zusammenschrecken, mehr war es nicht, was Lilly spürte.
»Ich bin doch neugierig, was er jetzt mit mir anfangen wird,« dachte sie. Aber die Teilnahme an ihrem eigenen Schicksal war nicht groß.
Er ging mit harten Schritten hin und her, und die silbernen Sporen an seinen Absätzen klingelten.
»Wir wollen Licht machen,« sagte er dann. »Was wir jetzt zu besprechen haben, verlangt Helle.«
Er rief dem Diener, der vorhin so schlau verstohlen gelächelt hatte. Der entzündete die Gaslampen des Kronleuchters und streifte Lilly beim Hinausgehen mit einem Blicke wilder Neugier, lächelte aber nicht mehr.
Sie saß noch immer auf dem Ruhebett, auf dem sie erwacht war, und drehte gedankenlos ihren alten Filzhut.
In der Lichtfülle, die jetzt von der Decke herniederstrahlte, sah sie den Oberst in seiner ganzen blanken Herrlichkeit immer noch schweigend auf und nieder schreiten.
Sie konnte ihm jetzt ganz ruhig ins Gesicht blicken.
»Mir ist's egal, was er machen wird,« dachte sie, »wehren kann ich mich doch nicht.«
Dann rückte er einen Stuhl vor sie hin und setzte sich – so nahe, daß seine Kniee fast die ihren berührten.
»Jetzt hören Sie mir mal zu, mein Kind,« sagte er – die Worte klangen stählern und abgehackt wie Kommandorufe, – »während Sie hier in Ihrer Ohnmacht lagen, habe ich dort drinnen über Sie nachgedacht und bin zu einem Resultat gekommen, das – nun hiervon später … Sie werden längst gemerkt haben, daß meine Empfindungen für Sie keine väterlichen sind … Je älter ich werde, desto weniger kann ich mir die sogenannte Väterlichkeit überhaupt vorstellen … Also kurz und gut: ich bin von einer Leidenschaft für Sie befallen, die mich einigermaßen außer – Kondition bringt … Wäre ich noch zehn Jahre älter, als ich schon bin – ich bin vierundfünfzig – so würde ich sagen: das ist senil. Verstehen Sie, was das heißt?«
Lilly schüttelte den Kopf.
Sie sah nun sein Gesicht so deutlich vor sich, daß sie es bis an ihr Lebensende hätte im Gedächtnis behalten können.
Die Augen, die mitten in geröteten Wulsten lagerten, brannten und bohrten wieder mit der Stechkraft, vor der sie sich sonst immer gefürchtet hatte. – Das Haar an den Schläfen starrte in grauen Strahlen über die Ohren hinweg. – Der Schnurrbart hingegen war kohlschwarz und saß wie ein auseinandergezogener Tintenfleck über dem dunkelzahnigen Munde, von dem die zwei schlaffen Falten über das glänzende Kinn hinweg bis in den Kragen des Waffenrockes hinunterliefen.
»Wie ist das merkwürdig,« dachte Lilly, »daß ich nun dieses bösen, alten Mannes Geliebte werden muß!«
Aber er wollte es so, und da war nichts zu machen.
»Wenn Sie in der Welt nach mir fragen wollen,« fuhr er fort, »so wird man Ihnen sagen, daß ich trotz meiner Jahre die Weiber zu beherrschen weiß … und zwar wahrscheinlich deswegen, weil ich sie nie besonders hoch geachtet habe … Es liegt nun aber ein Fall vor … wie soll ich sagen? – ein Fall von einer gewissen Eigenart … Ich brauche kein Hehl daraus zu machen: ich schlafe seit vielen Nächten nicht mehr … Das ist mir noch nie im Leben passiert und darf auch nicht so weitergehen … Ich habe mir daher das Wort gegeben, diesen Unfug heute mit dem Schlusse des alten Jahres zu Ende zu bringen … so oder so … Ich habe noch –« er sah nach der Uhr – »eine halbe Stunde, dann werde ich in Gesellschaft erwartet … Also, um es rasch zu machen: Es ist wahr, ich habe Sie verführen wollen, das heißt verführen ist in meinen Jahren, in denen man nichts Verführerisches mehr hat, nicht ganz das richtige Wort … Übrigens nicht hier – nicht heute … dafür bürgt Ihnen ja mein Brief. Aber verfallen waren Sie mir … darüber brauchen Sie sich gar keinem Zweifel hinzugeben.«
»Hab' ich auch gar nicht,« dachte Lilly, die das alles so ruhig mitanhörte, als läse sie in einem spannenden Buche. Und immer noch war die alte Angst nicht wiedergekehrt. Immer noch harrte sie mit matter Neugierde der Dinge, die da kommen sollten.
»Hätten Sie sich geweigert, hätten Sie mir die Zähne gezeigt, so waren Sie umso sicherer unterlegen … Darauf versteht ich mich einigermaßen … Da ist aber Ihre Ohnmacht dazwischengekommen und hat mich einen Blick in Ihr Gemütsleben tun lassen … Ich habe mir sagen müssen, daß ich meiner Eroberung doch nie froh werden würde … Edelmaterial sind Sie nun mal, und jemanden, der an Gram hinkrankt, kann ich nicht brauchen … Weinerliche Maitressen sind mir schon immer ein Greuel gewesen, denn ich liebe meine Bequemlichkeit … Ich habe da Erfahrungen gemacht, die ich nicht wiederholen möchte … Also Schluß mit diesem Mißgriff … Das, mein Fräulein, sagte ich zu mir, während Sie sich hier in den Händen meiner Köchin befanden.«
Lilly hatte ein warmes Glücksgefühl, als würde ihr eine unermeßliche Wohltat erwiesen. »Ach, wie ist das herrlich, wie ist das edel von ihm,« dachte sie, »daß er mich armes, dummes Ding in Ruhe lassen will.«
Sie warf einen verstohlenen Blick nach seinen Händen hinunter, die gelb und lang und hager in seinem Schoße lagen. Hätte sie sich nicht so sehr geschämt, sie würde sich zu einem Kusse darauf niedergebeugt haben, nur um ihm ihre Dankbarkeit zu zeigen.
Und dann tat es ihr beinahe leid, daß ein so edler Mann nichts mehr von ihr wissen wollte.
»Hierauf ging ich weiter mit mir zu Rate,« fuhr er fort, und seine Stimme klang noch stählerner, wie erhärtet im Feuer des Entschlusses. »Der betreffende Gedanke war mir nicht neu … er war mir schon öfters gekommen … Zuerst als eine Art Absurdität, dann als ein Ausweg, den ich mir für alle Fälle offen halten wollte und den ich hiemit einschlage … Schließlich – warum auch nicht? … Ehrgeiz habe ich nicht viel … Ich kenne die elende Maschinerie des Staatsdienstes zu gut … es lohnt sich nicht, sie länger als nötig mit seinem Schweiß und seinem Blut zu ölen … Die Idee des Abschiedes erschreckt mich also nicht … denn meinen Abschied würde ich natürlich nehmen müssen … Vielleicht täte ich es übrigens auch ohne das! Es gibt Morgen, an denen ich mich kaum noch auf dem Gaul halte vor dem verfluchten Hüftweh.«
»Wozu erzählt er mir nur alles das?« dachte Lilly und fühlte sich nicht wenig geschmeichelt, daß ein so hoher und vornehmer Mann so wichtige Sachen zu ihr sprach.
»Was mir fataler wäre, ist, daß eine ganze Generation aufmarschiert steht, um für den Raub, den man an ihr begangen hat, Rache zu nehmen … Freilich, fester Blick und feste Hand nutzen da manches. Man müßte es eben wagen, der eine wie der andere … Was meinen Sie dazu, mein liebes Kind?«
Lilly schwieg, beschämt darüber, daß sie noch so dumm war, ihm nicht im mindesten folgen zu können, denn das alles klang ihr wie botokudisch.
»Nun, wollen Sie – ja oder nein?«
»Ich weiß ja aber gar nicht, was,« stammelte sie.
»Mein Gott, ich frage Sie hier immerzu, ob Sie meine Frau werden wollen,« sagte der Oberst.