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XIV

In der Entwicklung des Menschen hat jeder Frühling sein eigenes Bild und seine eigene Geschichte.

Jeder findet ihn anders, jeder wühlt neue Tiefen auf und öffnet neue verborgene Wunden. Der eine geht an ihm vorüber als ein leeres und dumpfes Spiel, weil er selber gerade dumpf und leer ist, – ein anderer quält ihn mit tausend fruchtlosen Mahnungen, weil er von der Schuld gegen sich selber nichts heimzuzahlen vermag, – ein dritter findet ihn matt und aufgeweicht wie ein Ackerfeld, das sich von Wintersnöten nicht erholen kann, – und wieder einer jubelt trügerische Befreiungs- und Erlösungshymnen ins Herz, als ob er befreien und erlösen könnte.

Der Frühling aber ist der schönste, den wir kaum gewahren vor dem Frühlingsglück in uns, dessen Keimen und Sprießen nur ein zufälliges Abbild scheint des Keimens und Sprießens in unserem eigenen Innern, und der gleichsam nur den Geleitston liefert für das gewaltige Werden, das uns Geist und Seele weitet und jeden Tag aufs neue die Grenzen unseres Wesens sprengen will.

Ein solcher Frühling war über Lilly hereingebrochen.

Alles bekam ein neues Gesicht. So krause, lachende Fratzen hatte die Morgensonne noch niemals an die Wände gemalt, in so violetten, schmachtenden Dämmer hatte noch nie ein Regentag die Welt gehüllt … Noch niemals waren Menschengesichter, mit so viel hoffender Festlichkeit geschmückt, an ihr vorbeigeglitten, noch niemals hatte in dem lärmenden Wirrwarr der Straße sich so viel tätiger Lebensjubel ansteckend offenbart.

Ja, zu tun gab es auch für sie mit einemmal unmenschlich viel.

Jede Stunde war vollgefüllt mit frohen und dringenden Geschäften. Wer ihr in den letzten Jahren gesagt hätte, daß sie noch jemals in die Lage kommen würde, mit brennenden Backen und fieberndem Hirn Namen und Jahreszahlen, Lebensgänge und Arbeitsreihenfolgen, Dichtersprüche und Fremdwörter wahllos in sich hineinzutrichtern, den würde sie nicht schlecht ausgelacht haben.

Aber sie durfte sich ja beileibe nicht lumpen lassen. Wie sie damals mit Giottos Namen Bescheid gewußt hatte, so mußte sie jederzeit einen Widerhall geben können, wenn es von ihr erwartet wurde. All die Lernbegier, die seit Jahren durch innere Einsamkeit und das Gefühl zwecklosen Mühens zurückgestaut worden war, quoll jetzt hervor. Und ihr Geist – wie ein ausgehungertes Brachland – schluckte alles hinunter, was man ihm bot, und konnte nicht satt werden. Sie brauchte nicht einmal die mindeste Mühe aufzuwenden – sie hatte nur nötig, sich vorzustellen, wie sie ihm davon erzählen würde, und es blieb sitzen ganz von selber.

Das alles betrieb sie mit größter Heimlichkeit. Denn Konrad durfte ja nicht ahnen, – ja, er hieß Konrad, Konrad hieß er! – wie funkelnagelneu ihre Weisheit aus der Werkstatt gekommen war. Auch in die Museen schlich sie nur verstohlen, weil er glauben sollte, daß sie von altersher darin zu Hause wäre. Daneben gab es manches Stück uralter Musik durchzuüben, das er für seine Zwecke zu hören wünschte. Und oft segnete sie Papas strenge Hand, die sie einst lange Nächte hindurch auf den Klavierstuhl niedergezwungen hatte.

Sie waren nun sehr viel zusammen.

Jeden zweiten Abend – das verstand sich von selbst.

In den Nachmittagsstunden vermied er es zu kommen. Die gehörten dem Freunde ihres Bräutigams. Das wußte er. Aber Mittags schlüpfte er oft einmal auf einen Sprung zu ihr herauf, brachte ihr ein Buch oder eine Blume und verlangte einen Tropfen Musik. Zum Essen blieb er nicht, so oft sie ihn auch darum gebeten hatte. Überhaupt schien er sich in ihren Räumen niemals ganz ruhig zu fühlen, er ging unaufhörlich umher, sah alsbald nach der Uhr und war wieder draußen. In den ersten Zeiten kränkte sie sich, dann fragte sie neckend, ob er glaube in Feindesland zu sein, und schließlich ließ sie ihn gewähren.

Ach, noch immer kannte sie sich nicht in ihm aus! Noch immer zeigte ihr jeder Tag neue und seltsame Seiten seines Wesens.

Er war noch sehr jung. Nicht bloß an Jahren. Mit denselben fünfundzwanzig, die er zählte, war ihr schon mancher kalte und blasierte Greis begegnet. Seine Jugend saß ihm tief innen. Er hatte eine Leidenschaftlichkeit des Denkens, wie sie ihr nie bisher in einem Menschen begegnet war. Die Ideen erschienen ihm wie greifbare Wesen, mit denen er sich auseinandersetzen mußte, Brust gegen Brust, die er festhielt und ans Herz zog oder mit dem Fuße von sich stieß, je nachdem sie sich seiner Geistesrichtung als freundlich oder feindlich erwiesen. Und Freund oder Feind waren ihm auch alle großen Denker und Schöpfer der Vorzeit. Er verkehrte mit ihnen wie mit Lehrern und Genossen, verhimmelte oder verachtete sie, ließ sich Zurechtweisungen von ihnen gefallen oder hänselte sie.

Es war in seinem Denken und in seiner Rede ein immerwährendes Fluten und Gegeneinanderprallen, eine Wirrnis von Widersprüchen, ein gewaltsames Wegbahnen, eine Art von grausamer Jagdfreude. Keiner Erscheinung, geistig oder körperlich, stand er gleichgültig oder teilnahmlos gegenüber. Allenthalben sah er Probleme, die gelöst werden mußten, Streitfragen, zu denen Stellung zu nehmen war. Er liebte oder er haßte. Dazwischen gab es kaum eine Empfindung für ihn.

Und sie folgte ihm darin mit der ganzen Inbrunst der Schülerin und der Geliebten. Barg jeden seiner Gedanken und ließ ihn Wurzel schlagen oder absterben, wie der Zufall es wollte. Es war des Reichtums zu viel. Man brauchte nicht Sorge zu tragen.

Von seinen persönlichen Verhältnissen sprach er umso weniger, – aber nicht aus Mißtrauen oder Verschlossenheit, sondern weil er sie als unwichtig betrachtete. Lilly mußte alles aus ihm herausfragen.

Die Bilder der Eltern, denen er eine schwärmerische, aber etwas gestaltlose Verehrung ins Grab nachsandte, schienen erheblich verblaßt.

An ihre Stelle war der Onkel getreten, jener reiche Selfmademan und Weltenfahrer, dessen Erbe er einstmals antreten sollte, und der ihm ja auch schon jetzt eine anspruchslose, aber von jeder Rücksicht freie Existenz ermöglichte.

Über das innerliche Verhältnis der beiden konnte sie nicht recht ins klare kommen. Manchmal schien es, als ob er den alten Herrn zärtlich liebe, ein anderes Mal drängten sich skeptische, fast bittere Urteile dazwischen, die bewiesen, daß eine tiefgehende Verschiedenheit der Naturen vergebens nach Ausgleichung gesucht hatte.

Freunde besaß er nur wenige, – alte Studiengenossen, von denen jeder seine Wege ging, – und in Familien war er gar nicht zu Hause.

So konnte er seine ganze Freiheit Lilly zu eigen geben.

In den Restaurants – am häufigsten in jener kleinen italienischen Weinstube – saßen sie beisammen, bis der Kellner die Lichter über ihnen ausdrehte, und wunderten sich noch, – sie wären ja eben erst gekommen.

Oder sie kauften sich ihr Abendessen beim Fleischer und beim Bäcker für wenige Groschen lachend zusammen und wanderten aus dem Flugstaub der Stadt in den dämmernden Tiergarten hinaus. Dort suchten sie sich eine leere Bank, die ein wenig abseits von den großen Wegen stand und doch nicht allzu verschwiegen war. Nur dann, wenn ab und zu die dunklen Liebespaare wie Schatten in der Unterwelt an ihnen vorüberglitten, fühlten sie sich geborgen. Bekamen sie Nachbarschaft, so war es auch recht. Denn bald wußten sie aus Erfahrung: Lange hielt keines der Pärchen neben ihnen aus; die brauchten alle Nacht und Einsamkeit viel dringender als sie.

Dann, wenn das lichtgrüne Blattwerk, das auf dem grauen Gezweig noch immer ganz unvermittelt saß, als habe es da eigentlich nichts zu suchen, allmählich zu einer schwarzzackigen Schattenmasse zusammenschmolz, wenn dahinter die Flammen des Abendhimmels im dunklen Purpur der Nacht erstickten, wenn die Nachtigall – manchmal nur wenige Fußbreit von ihnen – ihr Lied sang, dann saßen sie Schulter gegen Schulter geneigt und warteten die Sterne ab, die immer später und immer seltener das Zwielicht durchbrachen.

Dann schossen die Gedanken über Bilder und Musik, über nordisches Sagengeröll und italische Blütengefilde weit hinaus, – dann taten zagend und stammelnd Unendlichkeitsfragen sich auf und wurden mit den klaren, sicheren Erkenntnissen einer jungfrohen Freigeisterei prompt zugedeckt.

Was es mit dem Weltall auf sich habe und der Unsterblichkeit und der Menschenseele und mit Gott, dem Allmächtigen selber, das erfuhr Lilly jetzt ganz genau.

Oft erschien sie sich frierend und allein gelassen in einer weiten, eiskalten Wüste, in der es keinen Gottvater und kein Fortleben und noch viel weniger einen heiligen Joseph gab.

»Was du glaubst, das ist wohl gar der Atheismus?« fragte sie furchtsam.

»Wenn du es so nennen willst,« erwiderte er lachend.

So war sie also fortan eine Atheistin, – eine von denen, die nach dem Glauben der Kirche in der untersten Hölle brieten. Aber wenn er im Banne dieser Erkenntnis nicht verzweifelt war, so konnte auch sie ihn auf sich nehmen. Und der Gottverlassenheit schaute auch sie ins Auge.

Nur um den heiligen Joseph tat es ihr leid.

Wiewohl sie schon lange nicht an ihn gedacht hatte, schade war es doch, daß sie nun nie mehr im Leben sich zu ihm flüchten durfte, im Leide nicht und nicht im Glück – wenigstens nie, ohne sich vor sich selber schämen zu müssen. Jetzt grade, da sie manchmal zu ersticken glaubte vor der Überfülle des Erschauten und Gefühlten, jetzt grade hätte sie ihn so nötig brauchen können.

Denn auch die hohe Kunst, in die Konrad sie hineinschauen ließ, beschwichtigte nichts, sondern peitschte sie nur, ob auch zu immer neuen Wonnen.

Gemeinsam hörten sie alles, was die Frühlingszeit an großen Orchesterwerken noch bescherte. Die Eroica und die Brahmssche Zweite und eine Griegsche Holdseligkeit, die über alles Sagen schön war.

In den Konzertsälen standen sie inmitten des Gedränges der billigen Plätze, die sie beide liebten, die Handrücken wie zufällig aneinandergeschmiegt, und telegraphierten sich mit einem leisen Druck alles, was durch einen verborgenen Liebreiz, durch ein vielsagendes Anläuten ihre Seelen traf.

Was waren das für Stunden!

Und was für Stunden waren das, wenn sie in den Theatern hoch oben auf dem Olymp – dort konnte sie von keinem der Bande gesehen werden – an Konrads Seite saß! Jetzt, da Shakespeares zeitlose Gestalten, da Wagners lichte Märchenwirklichkeiten an ihr vorüberwandelten, erkannte sie erst recht, wie unendlich arm ihr Leben bisher gewesen war.

Auch zu den Modernen führte er sie.

Am meisten von allem, was sie sah und hörte, durchschüttelte sie Rosmersholm.

Sie mit ihrem verborgenen Verschulden war Rebekka, er in seiner ahnungslosen Reinheit war Rosmer. Sein hochgestimmtes Gefühlsleben ging, wie es dort geschah, in immer stärkerem Maße auf sie über. Wenn nun aber auch der Schmutz, der auf ihrem Dasein lagerte, sich allmählich von ihr zu ihm hinüberwälzte, mußte sie da nicht sein Dämon, seine Verderberin werden?

Dieser Gedanke war gar nicht zu ertragen. Schon während der Vorstellung weinte sie so sehr, daß die Nachbarn auf sie aufmerksam wurden und Konrad ihr den Vorschlag machte, sie hinauszuführen. Aber mit Empörung wies sie den Gedanken von sich.

Beim Heimweg schwankte sie, halb getragen von seinem Arm, noch immer schluchzend, das Flußufer entlang, das er gewählt hatte, weil es dort stiller und dunkler war.

Als sie über die Spreebrücke kamen, blieb sie stehen und konnte nicht satt werden, in die dunkle, lebendige Tiefe hinabzustarren. Er ließ sie gewähren. Als sie aber – um zu sehen, wie's tut – an den klingenden Zacken des Eisengeländers emporzuklettern begann, da zog er sie mit Gewalt von der bedenklichen Stelle.

»Was hilft es?« dachte sie. »Wenn er erst alles weiß, so muß ich ja doch da hinunter – und dann allein.«

Und noch ängstlicher als bisher war sie täglich und stündlich darauf bedacht, daß ihn so lange als irgend möglich nicht der leiseste Verdacht anwandle.

Ihrer großen Unwissenheit schämte sie sich nicht – und sie bekämpfte sie ja auch nach Kräften – aber daß der saloppe und cynische Ton, an den sie sich durch den langen Verkehr mit der »Bande« allmählich gewöhnt hatte, durch diese oder jene Redewendung gelegentlich zum Vorschein kommen würde, davor lebte sie in steter Furcht.

Die kleine, sorgsame Strenge der Wohlerzogenheit, die sie aus den Resten ihrer einstigen Seelenverfassung hervorholte, tat ihrem lässig gewordenen Wesen gut. Und so kam ihr auch etwas von der inneren »Hoheit« wieder, die sie damals beim Beginn ihrer Beziehungen zu Konrad von sich gefordert hatte. Aber diesmal nicht als eine fade und gezierte Komödienspielerei, sondern als der Ausfluß des Feinsten und Zartesten, das sie noch ihr eigen nannte.

Vieles, was so lange ihre Gedanken beherrscht hatte, wurde ihr unverständlich, vor allem der Hang, der von ihren Gefährten auf sie übergegangen war, alles, was in ihren Gesichtskreis trat, auf das Gebiet des Erotischen hinüberzuspielen.

Mit staunenden Augen sah sie jetzt hinter diesem engen Wirbel von Triebvorstellungen und müßigen Phantasien neue und immer neue unendliche Welten aufgetan. So viel Großes und Schönes, das gefühlt und genossen werden mußte, war plötzlich da, daß sie nicht einmal Zeit fand, sich des Gewesenen zu schämen.

Nur wenn sie sich daran erinnerte, wie sie ihn einst zu küssen gewagt hatte, dann rieselte ihr wohl die Scham heiß den Nacken entlang. Und die Sorge packte sie, dies wilde Sichvergessen könne als ein Makel ihres Bildes in ihm sitzen geblieben sein.

Doch nicht das leiseste Anzeichen fand sich dafür, daß er nicht ebenso wie sie an ihn, mit Achtung und Verehrung an sie dachte. Und dieser gegenseitige Respekt, der wie ein weicher, lichter Flor zu allen Zeiten zwischen ihnen hing und ihr das Angesicht des geliebten Mannes immer nur undeutlich zeigte, gleichsam hinter Nebeln von Glück und Bangigkeit verborgen, der war auch gleichzeitig das, was der eigenen Fehle Vorwurf und Schärfe nahm.

Von Liebe durfte nun nie mehr zwischen ihnen die Rede sein. Ein holdes, doch etwas befangenes Bruder- und Schwesterspiel war an ihre Stelle getreten. Auch mit dem Worte »Freundschaft« warfen sie um sich, priesen deren heiligende Kraft und machten sehr ernsthafte Gesichter dabei, als wüßten sie nicht im mindesten, was sie darunter verstanden.

Schwer blieb es freilich, Konrads körperliche Nähe zu ertragen. Die einzige Zärtlichkeit, die er sich bisweilen gönnte, war, daß er beim Nebeneinandersitzen den rechten Arm leise um ihre Schulter legte. Und obwohl sie sich gern noch viel fester an ihn geschmiegt hätte, so mußte sie ihm doch schließlich wehren, denn die Engigkeit, die ihre Brust alsdann zusammenschnürte, wuchs allgemach zur Qual.

Nie mehr wagte sie im entferntesten daran zu denken, daß sie ihn einst vielleicht zum Geliebten haben könnte. Wenn sie Nachts nicht einzuschlafen vermochte, dann malte sie sich aus, wie sie den Kopf unter seine Achsel legen und so allgemach hinüberdämmern würde, – und das bot ihr Seligkeit genug.

Kaum irgend ein verbotenes Gebiet gab es noch, das ihre Phantasien scheu umstreichen konnten. Es war, als habe die Keuschheit des jungen Mädchens, die die Altersgier ihres Mannes einst jäh zerrissen hatte, die erzitternde Seele aufs neue in ihre gnädigen Schleier gehüllt. Und auch der goldene Überfluß des Denkens und Empfindens, der Märchenglanz, den jedes Ding der Welt ausstrahlte, die lachende Wichtigkeit, die jede winzige Begebenheit erhielt, die hoffende Unruhe, die sich keine Rechenschaft gab, worauf sie hoffte, alles das war mädchenhaft, war, wie sie es in längst vergessener Zeit schon einmal erlebt hatte.

Wäre nur ein einziges Menschenkind dagewesen, das sie zum Vertrauten ihres Glücks und ihrer Sorgen hätte machen können, so würde sie sich ganz glücklich gefühlt haben.

Und dieses Verlangen, sich mitzuteilen, wuchs so sehr, daß sie es nicht mehr zu bewältigen vermochte. Schon mehr als einmal hatte sie sich darüber ertappt, wie sie im Begriffe gewesen war, Richard in ihre Heimlichkeiten einzuweihen. Das wäre dann wohl ein rasches Ende geworden. – –

Eines Tages faßte sie sich ein Herz und fuhr nach dem fernen Süden zu ihrer einstigen Wirtin, um ihr das große Erlebnis anzuvertrauen.

Die alte Freundschaft war niemals ganz eingeschlafen. Wenn man sich auch nur selten sah, so hatte Lilly durch Grüße und kleine Geschenke doch reichlich dafür gesorgt, daß sie in guter Erinnerung blieb.

Das möblierte Fräulein dieses Jahres öffnete ihr.

Frau Laue saß wie immer vor dem langen, weißen Arbeitstisch, mit den benäßten Fingerspitzen zwischen den plattgedrückten Blumenhäuflein und dem leimglänzenden Schirmlappen eifrig hin und her tippend. Sie ließ sich auch nicht stören, als Lilly sich neben sie setzte und die süße Mitbringe, ohne die sie niemals einzukehren pflegte, vor sie hin schob.

»Lassen Sie man, Kindchen,« wehrte sie ab. »Jeder Bissen mehr ist eine Blume weniger. Unsereins muß mit dem Essen warten bis zum Feierabend. Denn unsereins hat keinen, der für uns sorgt und uns hält wie eine Prinzessin. Einen einzigen Tag lang möcht' ich's noch einmal so haben wie Sie, ehe ich in die Grube runter muß … Spazierengehen vom frühen Morgen an und als Arbeit nichts wie ein paar Goldfischchen füttern.«

»Als ob das das Glück wäre!« seufzte Lilly.

»Sie wollen sich wohl noch über Ihr Schicksal beklagen?« rief Frau Laue, in Zorn geratend. »Wenn ich Sie wäre, würde ich allstündlich die Hände zum Himmel aufheben zum Dank dafür, daß er mir einen solchen Freund geschenkt hat.«

»Und Sie meinen, damit wären alle Hoffnungen erfüllt?« fragte Lilly.

»Ja, was wollen Sie denn überhaupt noch?« schalt – immer tippend – Frau Laue. »Heiraten kann er Sie doch nicht mehr, und mit dem Heiraten ist es überhaupt faul, wenn man so vielerlei durchgemacht hat wie Sie. Aber passen Sie auf, wenn Sie sich immer hübsch brav halten, setzt er Ihnen noch mal 'n Kapital aus, so daß Sie Ihr Lebtag davon zu zehren haben.«

»Also nur noch auf Pensionsberechtigung hätt' ich loszusteuern?« fragte Lilly.

»Na, was denn sonst?«

»Ich könnte mir wohl noch manchen anderen Lebenszweck denken.«

»Welchen denn? Wo denn? … Arbeiten? … Probieren Sie mal, wie das tut, wenn man jahrelang bloß immer lauter Gefühl gewesen ist … Oder 'nen neuen Liebhaber nehmen? Da könnten Sie erst recht was Gediegenes erleben … Das eine sag' ich Ihnen, Kindchen, daß Sie nie den Gedanken an irgend eine andere Mannsperson aufkommen lassen … Wenn Sie das täten, Blumen zu kleben verdienten Sie wie ich – sechzehn Stunden täglich – bis Sie verrecken.«

Und während sie rastlos ein Pflänzchen nach dem andern auf dem Leimpapiere Wurzel fassen ließ, erging sie sich weiter in wohlmeinenden Ermahnungen voll Eifer und Strenge.

Lilly erhob sich fröstelnd.

An diesem Platz war nichts mehr für sie zu hoffen. Sie schaute sich um, plötzlich ganz fremd geworden, und dachte bei sich: »Hierher komm ich nie wieder«.


Als am nächsten Morgen der unruhige Wunsch nach Herzausschütten und Sichberatensehen von neuem und quälender denn je in ihr erwachte, fiel ihre Freundin Jula ihr ein.

Die kluge und heißblütige kleine Frau hatte sich zwar schon seit einiger Zeit den gemeinsamen Streifereien fern gehalten – man wußte nun gar nicht mehr, was sie trieb, auch ihr Rotkopf wollte nicht mit der Sprache heraus – aber Lilly war sicher, daß sie ihr, wie es auch gehen mochte, das bißchen verständnisvolle Mitfreude, das ihr not tat, nicht vorenthalten würde.

Es dauerte lange, bis sie sich zu ihr fand.

Das kokette, gelbseidene Nest, das der Rotkopf ihr in der Nähe der »Linden« eingerichtet hatte, war verlassen.

Die gnädige Frau wäre vor kurzem nach einem Vorort übergesiedelt, sagte der Portier, den Lilly befragte. Sie hätte gemeint, die Gegend wäre ihr zu gefährlich, was doch gar keinen Sinn habe, denn Tag und Nacht würde die Straße nicht leer.

Lächelnd ließ Lilly sich die Adresse aufschreiben und fuhr zu Frau Jula hinaus.

In einem umbuschten Villenwinkel, dort, wo die Philosophen und die Dichter hausen, hatte sie eine kleine, sehr ernst dreinschauende Wohnung inne, die von Büchern und Schreibereien und den Büsten großer Männer überquoll.

Auch sie selbst schien sehr verändert.

Statt des wirren Gestrudels, das früher die Stirn im Bogen kraus umwölbt hatte, zogen sich zwei mit dem Eisen glatt gezogene Strähnen über die Schläfen hin und endeten in runden, die Ohren verdeckenden Biedermeierknoten, die ihr einen beängstigenden Stich ins Tugendliche gaben, obwohl sie gerade in der Welt, in der die Tugend aus Gründen der Ästhetik geringen Kurswert hat, zur Zeit als höchste Mode galten.

Wohl kam sie Lilly wie früher mit ausgestreckten Armen entgegen, aber ihre Herzlichkeit schien nicht ganz echt. Und die Wiedersehensfreude, die aus ihren Augen leuchtete, hatte etwas Zerstreutes und Verschmitztes, als wäre sie innerer Vorbehalte voll.

Ohne nach Lilly zu fragen oder ihr Aussehen irgend einer Aufmerksamkeit zu würdigen, fing sie, wie aus der Pistole geschossen, von ihren eigenen Angelegenheiten zu reden an.

»Es wird Sie überraschen, aber ich kann Ihnen nicht helfen,« sagte sie, »ich habe Ihnen gegenüber einstmals aus meinen kleinen Gewissensängsten kein Geheimnis gemacht, – eigentlich sind sie ganz überflüssig gewesen, denn was Besonderes hatte ich ja nie pekziert, –«

»Na, na,« dachte Lilly.

»– darum sollen Sie jetzt auch die erste unseres ehemaligen Kreises sein, –«

»Ehemalig?« dachte Lilly.

»– die etwas von meiner Rückkehr zu einem geordneten Leben erfährt. Also, ohne viel Umschweife: ich verheirate mich wieder.«

»Mit Ihrem Rotkopf?« fragte Lilly in freudiger Teilnahme.

»Na, das nun gerade nicht.« – Mit einem herablassenden Lächeln besah sie ihre Fingerspitzen. – »Mein Rotkopf gibt seinen Segen dazu, aber damit ist seine Rolle auch zu Ende gespielt.«

»Mit wem also sonst?« fragte Lilly, ihre Verblüffung niederkämpfend.

Nun wurde Frau Jula doch ein wenig bedenklich.

»Ja, das ist eine lange Geschichte,« sagte sie zögernd, »und um sie ganz zu verstehen, müßten Sie mehr von den Ereignissen wissen, die in den letzten zwei Jahren mein Leben ausgefüllt haben … Ist Ihnen vielleicht einmal zufällig eine Schriftstellerin Klarissa vom Winkel begegnet?«

Lilly erinnerte sich, den Namen bisweilen in strengen und altbackenen Familienzeitschriften gelesen zu haben, die ihr in Cafés und Konditoreien zum Bilderbesehen gereicht worden waren.

»Nun sehen Sie: diese Klarissa vom Winkel, die sich im Gegensatz zu den verderblichen neumodischen Liebesanschauungen als Verfechterin einer schlichten und volkstümlichen Moral einen höchst annehmbaren Ruf erworben hat, – bin ich.«

Lilly war viel zu sehr im Bann der eigenen Geschicke, um dem Humor dieses Geständnisses die nötige Würdigung schenken zu können. Nur eine lächelnde Ahnung von dem schnöden Possenspiele, welches das Leben mit uns Menschenkindern treibt, dämmerte in ihr auf.

»Sie müssen mich darum nicht etwa für eine Bekehrte halten, eine Betschwester oder so,« sagte Frau Jula fortfahrend mit einer gewissen kleinen Würde des Tones, die ihr ebenso niedlich zu Gesichte stand, wie ihr treuherziger Cynismus von ehedem. »Es hat niemals einen besonderen Tag von Damaskus in meinem Leben gegeben, vielmehr wohnten sozusagen schon immer zwei Seelen in meiner Brust; die eine, die« – sie zögerte ein wenig – »nun, die Sie ja kennen, und eine andere, die für Selbstbeschränkung und weiße Damastservietten und dergleichen zu haben war … Darum imponierte mir Ihre ahnungslose Herzenstreue, meine teuerste Lilly, schon immer so sehr. Sie besinnen sich wohl auch, daß ich Ihnen aufs dringendste anriet und einprägte, unter allen Umständen an dieser Treue festzuhalten, die für uns Frauen nun einmal die Krone des Lebens ist. Genau so sagte ich damals. Besinnen Sie sich?«

Hierauf besann sich Lilly zwar nicht, aber auf manches andere besann sie sich, das gar wenig damit in Einklang stand. Ihr wurde ganz ängstlich zu Mute. Die neue Weltanschauung, die ihre Freundin sich angeschafft hatte, schien wenig dazu angetan, um ihr in den Glücksnöten, durch die sie hergetrieben worden war, eine Quelle des Friedens zu sein.

»Doch um weiter von mir zu erzählen!« fuhr Frau Jula fort. »Durch meine Aufsätze und Novellen, die immer gleich Absatz fanden – besonders wenn ich sie selber auf die Redaktionen trug – befand ich mich alsbald auf dem besten Wege, mir ein kleines Vermögen zu erwerben. Und mein Rotkopf wurde nicht viel mehr als eine Dekoration für mich … Denn das ist ja eben das Schöne an der Tugend: für den, der's versteht, ist sie bei weitem einträglicher als die Sünde;« – dabei wischte sie sich in ihrer verschmitzten Weise mit dem roten Züngelchen die Lippen, machte aber ein ganz ehrbares Gesicht dazu, – »und bei Gelegenheit meiner Geschäftsgänge hatte ich auch das Glück, meinen demnächstigen Gatten kennen zu lernen … Mit dem ersten – dem Schauerbock da hinten – Sie wissen – liege ich endlich in Scheidung … Dieser hier ist der Herausgeber einer jüngst begründeten Hausfrauenzeitung, die für stilles, häusliches Wirken eintritt und schon sehr schöne Annoncen hat … Er ist ein Mann von hohen Geistesgaben und einer moralisch sehr gefesteten Lebensauffassung, die, wie Sie bemerkt haben werden, nicht ohne Einfluß auf mich geblieben ist.«

Dabei machte sie ein kleines Doppelkinn und verschränkte die Hände über dem Schoß.

»Und wie sind Sie mit – Ihrem – alten Freund auseinandergekommen?« fragte Lilly, die über all dem Neuen und Seltsamen ihr eigenes Anliegen schon beinahe vergaß.

»Auseinandergekommen? … Was reden Sie da bloß?« erwiderte Frau Jula und strahlte wieder in sonniger Torheit. – »Einer solchen Herzlosigkeit würde ich mich doch nicht schuldig machen … und wenn ich auch vorhin sagte, seine Rolle sei ausgespielt, so wörtlich ist das nicht gleich zu nehmen … Was sollte der arme Kerl mit seinem kranken Magen wohl machen, wenn ich ihm nicht ab und zu einen Platz an meinem Familientisch einräumen wollte? … Was sehen Sie mich so erstaunt an, Lillychen? So was ist alles zu managen … Erstens hab' ich meinem Bräutigam geschworen, daß der Rotkopf mir immer nur ein brüderlicher Freund gewesen ist – so was schwören wir Frauen ja alle und werden noch nich mal rot dabei; –«

Lilly nickte nachdenklich. Sie hätte an jenem Abend ohne Besinnen auch einen Meineid geleistet, wenn er von ihr verlangt worden wäre.

»– und zweitens, wie ich Ihnen im Vertrauen sagen will, ist er mit einem nicht unbeträchtlichen Kapital an der Gründung der Zeitung beteiligt … Die beiden Herren sind also sozusagen Kompagnons geworden … Ich habe das mit Absicht so eingerichtet, weil es mir für die Dauer der allseitigen freundschaftlichen Beziehungen als die beste Bürgschaft erschien … Machen Sie nicht so große Augen, Süßes … Das Leben besteht aus Kompromissen … Ein jeder Vogel polstert sein Nest. Und wenn Sie etwa denken, daß ich vor Enthüllungen Angst habe, – über so was zuck' ich die Achseln … Tragik ist 'ne einfache Geschmackssache. Mir schmeckt sie nich, und darum existiert sie auch nich … Ich sag' immer zu mir: ein Lächeln muß man auf der Stirn tragen, aber darunter muß sie von Eisen sein.«

Lilly spürte ein kleines Übelbefinden.

»Wenn man nur um solchen Preis die Tragik aus seinem Leben ausmerzen kann,« dachte sie, »dann ist mir das Unglück, das ich mal 'runterschlucken werde, lieber als all dies Glück.«

Sie stand auf.

Mochte diese Frau an Kraft des Geistes und des Willens noch so weit über sie hinausragen, mochte sie mit beiden Füßen schon wieder im ehrbaren Leben stehen, sie war nicht mehr dazu angetan, ihr eine Freundin zu sein.

»Jedenfalls wünsche ich Ihnen aufrichtig,« sagte sie, »daß Ihre Zuversicht sich immer bewähren möge.«

Frau Jula schlug mit der Hand in die Luft.

»Pah,« machte sie, »bei dem Mannsvolk! Wer die Welt kennt, ist ein Weiberfresser, und wer zu den ›Edlen‹ gehört, der ist 'n Trottel … Mit den beiden Klassen werd' ich immer noch fertig.«

»Es dürfte wohl auch noch eine dritte geben,« sagte Lilly gereizt, als wäre Konrad hiermit beleidigt worden.

»Möglich!« erwiderte Frau Jula mit einem Achselzucken. » Ich kenn' sie nich« – und dann beide Hände um Lillys Taille legend: »Sagen Sie mir, Kindchen, ganz im Vertrauen: wenn Sie mich so ansehen und mit früher vergleichen, finden Sie, daß ich posiere?«

»Aufrichtig gesprochen,« bekannte Lilly, »anfangs schien es mir so.«

Frau Jula seufzte.

»Ja, ja, man wächst schwer in ein Kleid hinein, das nicht für einen gemacht ist … Einen gewissen sittlichen Ehrgeiz hat wohl ein jeder – und der sogenannte Amoralist am meisten. – Aber eines möchte ich doch gerne wissen: was eigentlich das Wertvollere an mir ist, das Laster von ehemals oder die Tugend von heute.«

Dabei lächelte sie wehmütig und schlau zu Lilly empor.

Die antwortete nicht mehr. Hinter diesem kleinen, vergnüglichen Wirrsal stand ihr eigenes Glück hoch und drohend wie eine Gewitterwand.

Als sie sich auf der Straße befand, umfing das Gefühl ratlosen Alleinseins sie stärker denn je. Und doch freute sie sich, daß sie geschwiegen hatte. Sie wußte: Hätte sie das Bild des Geliebten dem schlauen Verstehen Frau Julas preisgegeben, sie würde es nur entweiht zurückerhalten haben.

Aber nun gab es wirklich und wahrhaftig keinen mehr, dem sie sich anvertrauen konnte. – – –

Ein paar Tage später, als sie gedankenlos nach täglicher Gewohnheit die Zeitung überflog, geschah es, daß ihr Auge auf einem Satze haften blieb, der mit plötzlicher Erleuchtung in ihre Seele schlug: »St. Josephskapelle – Müllerstraße – Abendandacht« und so weiter.

Ihr alter, langvergessener Freund lebte also noch immer. Er besaß sogar seine eigne Betstätte hier in dem kalten, ketzerischen Berlin.

In all diesen Jahren hatte sie keine Kirche mehr betreten. Seit sie auf Anraten der Schwertfeger unter die Evangelischen gegangen war, hatte sie sich als abtrünnig gefühlt und keinen Versuch mehr gewagt, in der Religion ihr Heil zu suchen.

Und nun war sie gar eine Atheistin geworden.

Aber als sie den Namen »St. Joseph« las, stieg es ihr warm und wohlig zum Herzen empor. Ihr wurde zu Mute wie einem, der auf langer Wanderung in fremden Ländern mitten im Getümmel unbekannten Volkes plötzlich ein liebes und heimatliches Gesicht erblickt.

Nun wußte sie, an wen sie sich wenden durfte – ohne Furcht, unverstanden, ungehört von dannen ziehen zu müssen. Und wenn die Weltweisen ihn tausendmal abgeschafft hatten, für ihr dummes, volles Herz war er noch immer da, bereit, die Beichte ihres Glückes zu empfangen.

Die Müllerstraße lag irgendwo am äußersten Ende im Norden, »so um das Franz-Josephs-Land herum«, wie der um Rat befragte Besitzer des Grünkramkellers ihr erklärte.

Durch wirre Straßenzüge ging's – von einer elektrischen Bahn zur andern – am Reichstagsgebäude – am Lessingtheater – am Stettiner Bahnhof vorüber – die endlose Chausseestraße entlang. Hinter dem fabelhaften Weddingplatze, den der Berliner als Ende der Welt betrachtet – dort fing die Müllerstraße erst an.

Von einer St. Josephskapelle hatte niemand eine Ahnung. Selbst die nächsten Nachbarn wußten kaum darum. Ja, da irgendwo auf dem Hofe, da wäre »so etwas Katholisches«.

Und endlich fand sie, was sie suchte.

Ein niedriges Fachwerkhaus zwischen blühenden Zweigen, von himmelhohen Mietskasernen dicht umdrängt … Man hätte es für einen Schuppen halten können.

Die Seitentür stand offen. Tannengirlanden sagten »Willkommen«. Ein schlichter, weißer Betsaal tat sich auf, den ein Geruch von Weihrauch, Lorbeer und frischem Fichtenholz begräbnishaft durchdunstete … Im Hintergrunde eine Nische, als blauer Sternenhimmel angetan, und hinter den Holzschranken, die den bildlosen Schrein des Hochaltars vom Saale trennten, zwei herrliche, halmschlanke Yukkabäume … Vom Chor hernieder kam ein Murmeln von leisen Orgelklängen, – der Organist wahrscheinlich, der von der beendeten Leichenfeier übrig geblieben war und noch ein wenig die Tasten träumen ließ.

Voll Spannung glitt Lillys Blick an den Wänden des Saales entlang, um die Heimstätte des Heiligen zu entdecken. Ob er auch hier wohl lächelnd mit dem Finger drohte wie der gütige, alte Onkel ihrer Mädchenjahre zu St. Annen in der Heimatstadt?

Für Nebenaltäre war nirgends ein Platz in dem bankbesetzten Raum. Aber jenes große Bild dort – in grellblankem Rahmen – mit einem Konsolbrett voll staubiger Sträußchen darunter – –

Sie sah und – erschrak.

Ihr Heiliger, ihr lieber, geliebter Heiliger war einfach lächerlich.

In frommer Verschämtheit blickte ein spitznasiges, goldgelb bebärtetes Wachspuppengesicht mit süßlichem Lächeln vor sich nieder. Auf dem linken Arme triumphierte ein rosa gekleidetes Jesuskindlein, während der rechte einen Lilienstengel sanft umschloß.

Und ihr Erschrecken ging in Mitleid über.

Wie weit, wie unerdenklich weit lag jene Welt jetzt hinter ihr, in der man solche heiligen Josephs um Huld und Wunderzeichen bat!

War am Ende jener gute, treue Warner in St. Annen ebenso komisch gewesen?

Sie wagte den Gedanken nicht auszudenken. Er sollte nicht, er durfte nicht. Eine Stätte mußte da sein, zu der in Stunden lächelnder Trauer das Erinnern heimwärts pilgerte.

Die Orgel spielte das Präludium einer schönen Scarlattischen Messe, die Lilly von alters her wohl kannte. Und da wurde es allgemach Heimat um sie her.

Sie kniete auf der hintersten Betbank nieder, schloß die Augen und versuchte sich vorzustellen, daß statt dieser blonden Fratze ihr alter Freund auf sie herniederschaute.

Ein Sprüchlein des heiligen Thomas von Aquino fiel ihr ein, das sie noch von der Kinderlehre her kannte: »Anderen Heiligen hat Gott die Macht verliehen, uns in gewissen Fällen zu Hilfe zu kommen, dem heiligen Joseph aber, uns in allen Nöten zu helfen.«

So mächtig war er einst auch in ihrem Leben gewesen.

Sie hielt Zwiesprach mit ihm über die hundert Meilen, die hundert Jahre hinweg, die sie von dem Altar in St. Annen trennten. Das letzte Mal auf dieser Erde, das fühlte sie wohl. Denn für solche Kindlichkeiten war fortan kein Platz mehr in ihrer Seele. Und weil es eben ein Abschied war, so erzählte sie ihm ohne Rückhalt das ganze große Ereignis, – wie unendlich glücklich sie geworden – wie alles, was tot in ihr gewesen, zu neuem Leben, neuem Blühen drängte, – und wie in dem ganzen weiten Weltall nur ein einziger großer Jubel klang.

Auch von der großen Täuschung, deren sie sich schuldig machte, – und der Sorge, sie entdeckt zu sehen, – und von dem süßen, ungeduldigen Zittern, für das es kein Bild und keinen Namen geben durfte, erzählte sie ihm.

Und daß sie übrigens nicht im mindesten mehr an ihn glaube, und daß sie überhaupt eine »Atheistin« geworden sei, erzählte sie ihm auch.

Dann steckte sie, versöhnlich gestimmt, den goldleuchtenden Nelkenbusch, den sie dem armen Winkelheiligen mitgebracht hatte, zu den verstaubten Sträußchen und ging mit befreitem Herzen von dannen, den Frühling anlachend, der sie anlachte.


Neben dieser Lilly, die der Sturmwind des neuen Lebens über alle Erdenschwere hinaus hoch in die Wolken hob, gab es noch eine andere, die an jedem zweiten Abend im altgewohnten Kreise durch ihre siegende Laune, ihren fröhlichen Witz, durch die ganze junge Lebendigkeit eines aufwachenden Geistes das Staunen ihrer Umgebung war.

Wenn Richard Nachmittags zum Tee kam, sah er sich immer von neuem überrascht, statt der schleppenden Trübsal, die seit langem ihre Tage beherrscht hatte, ein sprudelnd heiteres und tatkräftiges Menschenkind vorzufinden, das immer was Neues im Sinn hatte und nie einen Augenblick stille saß.

Er gewöhnte sich rasch und gern an diese Art ihres Wesens, wenn ihm auch ab und zu vor dem eigenen Nichtmitkönnen bange werden mochte, und pries die Zauberkraft des Hämatogens, das der listig schmunzelnde Doktor ihr in diesem Frühling statt des üblichen Eisens verschrieben hatte.

Vor den abendlichen Vergnügungen wiederholte sich immer die gleiche Geschichte: zuerst wollte sie erkältet oder durchaus nicht in Stimmung sein, unter Leute zu gehen; wenn sie sich aber einmal gefügt hatte und in Zug kam, dann spielte sie mit ihren Verehrern wie mit jungen Hunden und sagte den Damen Dinge ins Gesicht, die sie mit ängstlicher Hochachtung erfüllten. Manchmal saß sie wohl noch wie früher in träumendes Stillschweigen versunken, aber während sie sonst aufmunternde Neckereien wehrlos und errötend über sich hatte ergehen lassen müssen, bezahlte sie jetzt jeden Störer mit so hochmütigem und schlagfertigem Spott, daß man es alsbald geraten fand, sie in Ruhe zu lassen.

Einen Rausch angetrunken hatte sie sich in der ganzen Zeit nur ein einziges Mal. Und das an dem Tage, an dem sie – endlich! – zu dem Entschluß gekommen war, Richard von der Existenz des neuen Freundes Mitteilung zu machen.

Zwei Monate lang hatte sie mit sich im Kampfe gelegen. Tun mußte sie es einmal, das war selbstverständlich. Schon um des drohenden Gesehenwerdens willen. Aber da sie nicht wußte, in welche Form sie das Geständnis kleiden sollte, so hatte sie es immer wieder von neuem verschoben.

Da führte der Zufall eine Klärung der Sachlage herbei: Richard hatte nach seiner Gewohnheit eines Tages die Zeichnungen von einigen Vasen, die ihm zum Ankauf angeboten waren, um Lillys Urteil einzuholen, mitgebracht und beim Weggehen liegen lassen. Konrad war darüber gekommen und hatte mit ein paar raschen Bleistiftstrichen die Umrisse festgestellt, die der eigentlichen Anlage entsprachen und an denen der Künstler im weiteren Verlaufe der Arbeit vorbeigeglitten war.

Am nächsten Tage fand Richard die Bescherung und besah sie voll Staunen. Die Korrekturen wären famos, und wer die gemacht hätte? … Sich selbst als die Urheberin auszugeben, wagte sie nicht, denn der Kleinmut über ihre einstigen Stümpereien lag ihr noch in den Gliedern, und darum antwortete sie, sich ein Herz fassend: »Mein Kunstgeschichtslehrer.«

»Seit wann hast du denn einen Kunstgeschichtslehrer?« fragte er mit runden, strengen Augen.

In ihrer großen Verlegenheit legte sie sich aufs Schelten, so gut oder so schlecht sie es verstand.

Ob er denn glaube, daß sie ihr Lebtag in diesem stumpfsinnigen Müßiggehen aushalten werde? Ob es für eine unbeschäftigte junge Frau ein Verbrechen sei, an ihrer Geistesbildung zu arbeiten, und ob sie nicht eine bessere Freundin abgebe, wenn sie mit ihm und anderen klugen Leuten gleichen Schritt halten könne, als wenn sie in Klatsch und Putz und Putenhaftigkeit zu Grunde ginge?

Die Wendung von den »klugen Leuten« schmeichelte ihm.

»Das ist alles sehr gut und schön,« erwiderte er, milder gestimmt, »aber warum hast du mir nie etwas davon gesagt?«

Nun erzählte sie eine lange Geschichte.

Sie hätte vor einem Vierteljahr im »Lokalanzeiger« eine Annonce gefunden, in der ein junger Gelehrter wissensdurstigen Herren und Damen seine Dienste anbot, und sich daraufhin gemeldet. Der Betreffende wäre erschienen, die Lehrstunden hätten ihren Anfang genommen und wären allmählich zu einer Freundschaft geworden, die selbstverständlich einen rein idealen Charakter trüge; – da sie aber trotzdem vor seiner Eifersucht Bange gehabt hätte, so wäre sie zu dem Entschluß gekommen, ihm erst dann Mitteilung zu machen, wenn die Erfolge an der Lauterkeit ihres Strebens keine Zweifel mehr ließen.

Er runzelte die Brauen, und um seinen Mund zuckte ein gekniffenes Schmunzeln, das sie sich nicht recht zu erklären vermochte.

»Also ein junger Gelehrter ist dein Freund?« fragte er, und sah sie, den Kopf ganz auf die Seite legend, mit schief zwinkernden Augen an.

»Jawohl.«

»Dann wird er wohl Privatdozent werden?«

»Er ist noch nicht recht entschlossen,« erwiderte sie, »aber er wird wohl.«

»Und geistvoll und sprudelnd und überlegen ist er wohl auch?«

Sie schlug die Augen gen Himmel: »Ich habe überhaupt noch nie einen Menschen gekannt, der – –« erschrocken hielt sie inne. In ihrer Lage war es kaum geraten, der Begeisterung die Zügel schießen zu lassen.

»Hm, hm,« machte er, wie einer, der etwas längst Erwartetes bestätigt findet. Er war ganz rot im Gesicht und biß an seinen Schnurrbartenden.

»Ich wußt's ja!« rief sie, »nun bist du doch eifersüchtig.«

Ihr war zu Mute, als ob ihr ein bittres Unrecht geschähe.

Er sprach kein Wort mehr und ging finster und drohend von hinnen.

Eine Stunde später wurde von einem Dreiradfahrer der Firma »Liebert & Dehnicke« ein Paket an ihrer Türe abgegeben.

Als sie es öffnete, fiel ein Herrenanzug heraus, den sie kannte, da Richard ihn im vorigen Sommer vielfach getragen hatte.

Der Begleitbrief lautete folgendermaßen:

 

»Geliebteste Lilly! Wie ich Dir seiner Zeit versprach, bin ich stets bereit, Deinen Seelenfreunden mit alter Garderobe unter die Arme zu greifen. Damit sie gut vorwärts kommen, will ich auch für alte Stiefel gerne Sorge tragen. Du siehst hieraus, wie eifersüchtig ich bin.

Dein Richard.«

 

An demselben Abend war sie so ausgelassen, daß sie im Weine nicht Maß zu halten vermochte. Und noch niemals – selbst vor Doktor Salmoni nicht – hatte sie ihrer Nachahmungskunst in so toller Selbstvergessenheit die Zügel schießen lassen.

Zum Schluß tanzte sie hoch oben auf den aneinandergerückten Tischen einen wilden Salometanz, der gerade in die Mode gekommen war.

Zwischen zusammengebissenen Zähnen zischend, sang sie fremdartige, orientalisch klingende Melodien dazu.

»Was brummelt sie denn da?« fragte man ringsum.

Nachher wollte man es von ihr selber erfahren.

Aber sie war nicht bei Sinnen. Sie wußte von gar nichts.


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