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Längst schon stimmte sich die Dreschmaschine für ihren Herbstgesang … Weit über den Hofplatz hinweg, durch alle Mauern hindurch, drang ihre trüb-eintönige Melodie. Darin war nichts von goldnem Segen und erstarrter Sonnenglut … Wie eine Windharfe in sturmgeschüttelten Zweigen klagte und heulte sie von Tagesanbruch bis in die Nacht hinein … Und manchmal drangen aus ihrem Innern leise, lange Schreie, als hätten die Garben, die sie zerriß und marterte, eine Stimme bekommen.
In Lillys Seele lebte wieder einmal soviel träumendes Glück, daß sie auch aus dieser Musik nur Lockung und Sehnsucht herauslas. Ihr Morgenschlummer war ganz von ihr erfüllt, und mit geschlossenen Augen lag sie lange halbwach, nur um dem immer gleichen Singsang besser lauschen zu können.
Und derweilen dachte sie an ihn.
Einen Kameraden, einen Spielgesellen haben, das war's, was ihr immer gefehlt hatte. Einen, der mit ihr jubelte und klagte, der ihr seine Torheiten beichtete und seine Sünden – alle bis in die verborgensten hinein – und dann lachende Absolution empfing. Denn was er auch verbrechen mochte, nicht er war der Schuldige, seine Jugend sündigte in ihm, dieselbe böse, süße Jugend, die ihre Seele mit Schwermut und ihren Leib mit Schauern erfüllte, die über ihnen beiden waltete als segnende und quälende Gottheit und die den einen beglückte und den andern verdarb.
Aber er mußte gerettet werden. Vor seinem eigenen Leichtsinn, aus jener verhängnisvollen Seelenverfassung heraus, die ihn in einem Netz von niedrigen Streichen zu verstricken drohte. Denn die Gerüchte über seine unwürdige Lebensführung wollten nicht schweigen. Sie hatte nur nötig, den Fuß in die Gesindestube zu setzen, um sie wie einen Guß schmutzigen Wassers über sich herfluten zu sehen.
Dem mußte ein Ende gemacht werden.
Jenes erste Eingreifen konnte nichts als der Anfang der großen Mission gewesen sein, die sie in seinem Leben zu erfüllen hatte. – Als sein guter Genius wollte sie fortan vor ihm dahergehen, die Hände erhoben gegen jede unlautere Versuchung, bis er so rein und wunschlos geworden war wie sie selbst.
So träumte sie, und die Dreschmaschine machte die Musik dazu.
Der erste Ausritt war gebilligt und gelobt worden, obgleich die Erlaubnis dazu gefehlt hatte. Andere sollten folgen. Aber Lilly weigerte sich. Sie wolle erst noch einen anständigen Galopp lernen, sagte sie, ehe sie sich dem guten Glück der fremden Wege anvertraue. Die Wahrheit war, daß sie auf ein Wiederkehren jener Stunde brannte und daß nur der Mut ihr fehlte, sie herbeizurufen.
Er war am nächsten Morgen wieder der Alte gewesen, ersterbend in eifervoller Ehrerbietung und höflich-strengem Magistertum. Sie hatte sicher geglaubt, er würde ihr ein heimliches Erkennungswort zuraunen, ein leises »Du«, ein grüßendes »Kamerad« – Gelegenheit bot sich genug –, aber nichts dergleichen geschah.
Und so blieb es auch beim zweiten und bei den nächsten Malen. An Ausreiten dachte keiner von beiden, bis der Oberst selber ein Machtwort sprach: »Nun ist's aber genug mit dem Rumhoppeln auf dem Hofkies. Macht, daß ihr 'rauskommt und laßt euch vom Feldwind durchblasen.«
»Wie Herr Oberst befehlen,« erwiderte er, die Hand an die Mütze legend, und wandte mit leichtem Anreiten ihren Gaul dem Hoftor zu.
Das Herz stand ihr stille. Sie vergaß sogar den Adieugruß, so benommen war sie von angstvoller Vorfreude.
Nun ritten sie auf demselben Wege dahin, der ihr vor acht Tagen das große Erlebnis gebracht hatte.
Die Weidengerten trieften von Morgentau, und bei jedem Berühren stäubte ein Tropfenguß hernieder.
Sie lachte und schüttelte sich.
Statt einzustimmen, lenkte er weiter dem Wegrande zu, um ihr die Mitte freizulassen.
»Ich will aber naß werden,« sagte sie.
»Wie gnädigste Baronin befehlen,« erwiderte er, stocksteif in seinem dummen, künstlichen Respekt.
Dann ritten sie schweigend weiter.
Als sie zu der Stelle kamen, wo vor acht Tagen das Große sich ereignet hatte, das all sein heutiges Benehmen Lügen strafte, wagte sie einen verstohlenen Seitenblick des Erinnerns nach ihm hin. Aber er erwiderte ihn nicht und schien ihn nicht zu bemerken. Die Mütze im Genick, das hagere, straffe Gesicht mit Tautropfen besät, der jungenhafte Körper ganz Sehne und Knochen, saß er auf seinem Gaul wie mit ihm zusammengewachsen.
»Wie hab' ich ihn doch lieb, trotz allem, den lieben, kleinen Kerl!« dachte sie und malte sich aus, wie grauenvoll verlassen sie sein würde, wenn er eines Tages von hinnen ginge. Und sonnenklar wurde es ihr, daß die heitere Spannung ihrer Seele, das ganze Vollgefülltsein ihres Daseins an dieser Stätte nur daher gekommen war, daß er immerfort und immerfort in ihrer Nähe gewesen.
In glattem Trabe ging es weiter. Näher rückten die braunen Hügelzüge, die das jenseitige Stromufer einsäumten. Dorthin schien er zu steuern, doch damit war ihr nicht gedient, denn die Stunde der Aussprache hatte geschlagen.
Heute oder nie!
Und mühsam versuchte sie sich zurechtzulegen, was alles sie ihm sagen mußte. Aber die Gedanken wollten sich nicht aneinanderfügen. Sie hatte dauernd auf ihr Pferd zu achten, auch fühlte sie sich zu untergeordnet, zu sehr in seine Hand gegeben, so lange sie im Sattel saß.
All ihren Mut zusammennehmend, bat sie: »Können wir nicht 'mal absitzen?«
Er äußerte Bedenken, aber da war sie schon unten. Er hatte gerade noch Zeit, der Stute in die Trense zu greifen.
Hierauf schalt er sie ein wenig, mußte aber schließlich tun, wie sie wollte.
Nun gingen sie nebeneinander daher, und er führte die Pferde.
Der Weg zog sich durch einen Bruch, der mit Eichen und Erlen spärlich bestanden war und auf dessen sumpfigen Stellen die Dotterblume goldtüpflig blühte, während der Igelkolben seine grünen Stachelfrüchte auf krausen Armen von sich streckte. Rostfarbener Sauerampfer hob seine alternden Stauden, und das Sumpfgras kroch in sich zusammen, nahender Herbstzeit gewärtig.
Eine Eberesche, die der Sturm niedergeknickt hatte, lag vom Wegrand aus quer über den Graben geworfen. Ihre purpurroten Büschel reifer Beeren leuchteten noch wie Flammen, die längst erloschen sein müßten und die nur ein geheimer Lebenswille weiter nährt.
»Hier möcht' ich mich niedersetzen,« sagte sie.
Er verneigte sich. »Bitte.«
»Aber Sie müssen auch kommen.«
»Ich muß die Pferde halten, gnädigste Frau.«
»Sie können sie ja an einen Ast binden.«
Er besann sich ein wenig. »Kann ich auch,« sagte er dann und knotete die Zügel um den stehengebliebenen Stumpf.
Als er sich neben sie setzen wollte, rückte sie, um ihm Platz zu machen, weiter nach der Mitte hin, so daß ihre Füße über dem Grabenwasser in der Luft hingen.
Er schob sich ihr nach, den Oberkörper in den stützenden Armen schaukelnd.
»Weiter nicht,« sagte sie, denn sie wollte ihn nicht zu nahe haben.
»Wie gnädigste Baronin befehlen,« erwiderte er und baumelte mit den Beinen.
Die fratzenhafte Steifheit seiner Sprechweise ärgerte sie von neuem.
»Wissen Sie keine bessere Anrede für mich, wenn wir allein sind?« fragte sie, ihm voll in die Augen sehend.
»Ich weiß wohl, aber ich derf nich'.«
»Und damals, da derften Sie?«
»Damals war gerade mein Geburtstag,« erwiderte er, »und da ich was Hübsches geschenkt haben wollte, hab' ich mir das zum Präsent gemacht.«
»Und heute ist mein Geburtstag,« lachte sie. »Was machen Sie mir zum Präsent?«
»Was gnädigste Baronin sich wünschen werden.«
»Sagen Sie noch einmal ›Kamerad‹ zu mir.«
»Einmal oder alle Male?«
»Alle Male.«
»Bloß Kamerad sagen, oder auch Kamerad sein?«
»Sein, sein, sein,« rief sie, »das Sein ist ja die Hauptsache.«
»Topp,« sagte er, die Rechte vorsichtig an dem sich wiegenden Stamm entlang nach ihr ausstreckend.
»Topp,« sagte sie und schlug ein.
»Da wäre denn auch gleich noch etwas zu regeln,« meinte er und räusperte sich.
»Was denn?«
»Befehlen diese Kameradschaft mit dem traulichen ›Du‹ oder ohne das trauliche ›Du‹?«
»Ohne natürlich,« erwiderte sie und glaubte damit ein schweres Opfer gebracht zu haben.
Er nahm das Verbot für bare Münze und sagte gehorsam: »Wie Kamerad es befiehlt.«
Jetzt war der Augenblick gekommen. Sie atmete tief auf und sagte: »Ich habe sowieso sehr ernsthaft mit Ihnen zu reden, Herr von Prell.«
Er schien Böses zu ahnen.
»Au,« machte er und biß sich in den behandschuhten Daumen.
Und sie begann. Von jenem Falle, so schlimm er an sich gewesen, wolle sie ganz absehen. Denn was vergeben sei, müsse auch vergessen sein. Aber wenn er glaube, daß das Leben, welches er seit seinem Hiersein führe, im Herrenhause ein Geheimnis geblieben sei, so irre er sich. Und es sei eine Schmach, daß sogar schon die Aufwaschmädchen hinter ihm herlachten, – aber was könne er Besseres verlangen, nachdem er – – und nun zählte sie das Sündenregister auf, wie es von der Gesindestube her wider ihren Willen an ihr Ohr gedrungen war.
Sie schämte sich, daß sie es tat; sie hatte auch ganz, ganz andere Dinge sagen wollen – von der Hoheit des Menschendaseins, von Entsagungsgröße, von dem Sichreinhalten für die echten Gefühle, von dem geheimen Seelenbündnis der Auserwählten auf Erden und dergleichen mehr. Aber wie sie ihn dasitzen sah, mit krummem Buckel und die großen Zehen nach innen biegend, so daß sich unter dem weichen Leder seiner Reitstiefel fortwährend runde Wülste bildeten, da fiel ihr nichts Besseres ein.
Er unterbrach sie nicht.
Auch als sie geendet hatte, schwieg er noch immer und beschäftigte sich, mit seinen Blicken ein Tierlein zu verfolgen, das in dem schwarzen Schlammwasser seine Kreise zog.
»Antworten Sie mir gar nichts?« fragte sie, »nachdem ich Ihnen so viel Schändlichkeiten vorgeworfen habe?«
»Was soll ich antworten, hoher Gerichtshof?« fragte er zurück. »Meine einzige Berühmtheit ist bekanntlich, daß ich ein Mensch ohne jeden moralischen Halt bin. Soll ich die auch noch verlieren?«
»Wenn Sie keinen Halt in sich haben,« rief sie, in Eifer erglühend, »dann will ich Ihr Halt sein, Ihr Freund, Ihr Berater, Ihr – – –«
»Pflegevater,« ergänzte er, indem er den Reim klappern ließ.
Nun erkannte sie, daß all ihr Reden ohne Eindruck geblieben war, ja, daß er sich womöglich über sie lustig machte.
»Stehen Sie auf und lassen Sie mich durch,« sagte sie; »wozu hab' ich nötig, mein Bestes an einen Unwürdigen wegzuwerfen?«
Aber er machte keine Miene, seinen Platz zu verlassen.
»Gucken Sie mal, Kamerad,« sagte er, auf die schwarz spiegelnde Fläche hinabweisend. »Drunten geht eine Wasserspinne andauernd mit den Beinen nach oben und dem Kopfe nach unten. Wenn Sie sie fragen, warum sie das tut, dann wird sie Ihnen sagen, sie weiß es nicht besser, es is mal ihre Natur so. Nu sehn Sie: Meine Natur is auch so. Was kann man dagegen machen?«
»Seine Wildheit bändigen kann man,« rief sie, ihn mit empörten Blicken anflammend. »Das Auge aufs Hohe, aufs Ideale richten kann man. Befolgen, was eine Jugendfreundin, die's gut meint, einem sagt – das kann man.«
»Und was sagt die Jugendfreundin?« fragte er schmeichelnd, indem er sich in der Handstütze näher an sie heranwiegte.
Aber sie antwortete nicht mehr. Sie hatte die Hände vors Gesicht gelegt und weinte. Weinte, daß ihr Leib in Schluchzen sich schüttelte.
»Um Gotteswillen, ruhig!« rief er, die Arme im Bogen rings um sie ausstreckend, denn auf dem schwankenden Ebereschenstamm konnte sie jeden Augenblick das Gleichgewicht verlieren. – »Sitz ruhig, Kindchen, sonst fällst du ins Wasser.«
Sie schauerte zusammen. Sie hörte von seinen Worten nur das eine, das süße, heimliche, sträfliche »Du«, nach dessen Klang sie seit acht Tagen geschmachtet hatte. –
Und dann versprach er alles. Er wird keinem Hofmädel mehr nachsteigen, – er wird nachts nicht mehr mit den Inspektoren herumsaufen, – er wird landwirtschaftliche Bücher lesen, – er wird – – o, was würde er nicht alles, nur aufhören zu weinen müßte sie.
»Geben Sie mir Ihr Ehrenwort darauf?« fragte sie, die nassen, roten Augen zu ihm erhebend.
Er gab es ohne Besinnen.
Beglückt und dankbar lächelte sie ihm zu.
»Sie sollen es nicht zu bereuen haben,« sagte sie, »ich will um Sie sein, ich will Ihnen eine Freundin sein, ich will alles, was ich nur kann.«
»Und was die ›beiden Hochmögenden‹ erlauben,« fügte er hinzu.
Heute bedrückte sie das Wort von den »beiden Hochmögenden« nicht mehr. Sie zuckte bloß die Achseln und meinte: »Ja freilich – die!«
Und dann lachten sie beide so sehr, daß sie beinahe doch noch in den Graben gefallen wären.