Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIII

»Lieber, geliebter Herr von Prell!

Wie Sie sich nach dem Vorangegangenen denken können, muß es nun aus sein zwischen uns. – Ja, alles hat ein Ende genommen. Wir werden uns nie mehr anders als bei Tische sehen. Wenn Sie mich fragen, ob ich sehr traurig bin, so will ich tapfer sein und sagen ›Nein‹ und hoffe, Ihnen und mir das Scheiden dadurch zu erleichtern.

Aber ob schwer oder leicht, darauf kommt es ja gar nicht an. Sondern die Hauptsache ist, daß wir mit unseren Gefühlen zu reiner Menschenhoheit heranwachsen. Wahre Entsagungsgröße muß über unserem Leben leuchten. Ja, so ist es. Entsagungsgröße erwarte ich von Ihnen. Unser ganzes künftiges Leben darf nur der Erinnerung geweiht sein. Was sollte uns auch jemals noch begegnen, das den unsäglich schönen Stunden gleichkäme, die wir einander geschenkt haben? Ich habe mit dem Glücke abgeschlossen, und das müssen Sie auch tun. Wie ich fortan in dem Wohle meines Gatten meine einzige, heilige Aufgabe erblicken werde, so fordere ich von Ihnen, daß Sie mit aller Kraft, deren Sie fähig sind, an dem Wiederaufbau Ihres Lebens arbeiten.

Das Leben ist etwas Weihevolles. Das fühle ich so recht, seit ich durch eine Freundin auf den richtigen Weg zurückgeführt bin. Und auch Sie sollen das fühlen.

Dieser Brief ist mein letzter. Schreiben Sie mir noch einmal. Ach, nur ein einziges Mal. Und stecken Sie die Antwort in das Blasrohr, das nach wie vor auf dem Balkon steht. Ach, nicht eher werde ich ruhig sein, als bis ich weiß, daß unsere Seelen sich in dem gleichen Wunsche vereinen. Leben Sie wohl, und wenn Sie zu Tisch sind, so machen Sie keine geheime Anspielung mehr auf das, was einst gewesen ist. Das würde mich bloß kränken und an Ihnen irre werden lassen.

Immerdar wird Sie in schwesterlicher Freundschaft lieben

Ihre
L. v. M.«

 

»Gnädigste Freundin und Herrin!

Die tiefe Ergriffenheit, die mich seit der Unterredung mit unserem verehrungswürdigen Fräulein andauernd beseelt, hat durch Ihre liebenswerten Zeilen womöglich noch eine Steigerung erfahren. Ich fühle einen immensen Drang, an Taten der Sühne noch nicht Dagewesenes zu erreichen. Ich bin bereit, die sieben Todsünden mit Verachtung zu strafen. Ich werde sämtliche Vorbilder vom jungen Tobias bis zur frommen Helene in mich aufzunehmen trachten und werde in der von Ihnen geforderten Entsagungsgröße jenes reine Glück zu finden suchen, das einzige, das, wie man sagt, gänzlich ohne Reue ist. Ein Vorteil, der allerdings für mich wenig in Betracht kommt, da ich diese fatale Einrichtung sowieso nur vom Hörensagen kenne.

Also, liebste und gnädigste der Frauen, leben Sie wohl. Es war sehr hübsch. Dieses kann ich mit jedem heiligen Eide bezeugen. Und falls Sie für die Zukunft Bürgschaften verlangen, so will ich ferner schwören, daß ich 1. den Alkohol verabscheuen, 2. dem weiblichen Geschlechte Fehde ansagen, 3. dem landwirtschaftlichen Lexikon eine unergründliche und nie nachlassende Liebe entgegentragen werde. Zwei Bände à 720 Seiten. Ha, wittert Ihr Morgenluft?

Noch einmal, leben Sie wohl. Der Leiter meiner Hoffnungen werde ich, nachdem ich sie zum letzten Male bestiegen habe, unter Tannenzweigen ein winterliches Grab bereiten. Wenn es an der Zeit ist, mag sie zu neuem Frühling auferstehen.

In Treuen küßt bis dahin Ihre schlanke und erquickend große Hand

Ihr
bereits heftig gebesserter

Walter von Prell.«

 

Diesen Brief fand Lilly am zweiten Morgen nach dem Geschehenen als zusammengeknäuelten Pfropfen in der Mündung des Blasrohrs, das auf dem Balkon harmlos in der Türnische lehnte.

Man kann nicht sagen, daß er ihr uneingeschränkt gefiel. Wendungen gab es darin, die an dem Ernst seiner Sinnesänderung berechtigte Zweifel aufkommen ließen. Und dennoch war das, was er beteuerte und beschwor, so klar und unzweideutig festgelegt, daß man dem Kern seiner Gesinnung wohl vertrauen durfte. Nur von seiner übermütigen Sprechweise konnte er nicht lassen. Damit mußte, wer ihn liebte, sich wohl oder übel zufrieden geben.

Sie küßte den Brief und steckte ihn in ihren Busen, damit er vor dem Zerrissenwerden dort eine Weile warm und sicher läge.

Am Nachmittag machte sie einen kleinen Streifzug um das Schloß herum und fand richtig unter dem Balkon ein längliches Häuflein frisch gepflückter Tannenzweige, aus dem ein paar Leitersprossen vertraulich zu ihr empor grüßten.

Beglückt von dieser zarten Kundgebung seines Abschiedsschmerzes lief sie in den morastigen Parkwegen umher und wunderte sich abermals, daß das Entsagen so leicht war.

Gar so leicht war es nun doch nicht.

Das merkte sie schon an den folgenden Tagen, als dem Leben Inhalt und Spannung zu fehlen begannen, als die Stunden in trostlosem Herbstgrau dahinschlichen und der Abend kam und der Morgen kam, ohne daß man wußte, warum.

Zudem fand sie an Anna von Schwertfeger nicht den Rückhalt, den sie für sich erhofft hatte. Obwohl die Freundin von ihren Verheißungen keine zurücknahm, so blieb doch eine Schattenwand um sie herum, die sich von keiner anschmiegsamen Liebe durchdringen ließ. Es war beinahe, als ob sie fürchtete, durch allzu große Vertrautheit die Schuld der Ehebrecherin auf ihr eigenes Haupt zu laden.

Viel hatte Lilly in dieser Zeit von dem Obersten zu leiden. Seine Donnerwetter brannten jetzt wie auf die anderen, so auch auf sie hernieder. Und was schlimmer war als das: der finster lauernde Blick, den sie in Momenten ruhigen Sichgehenlassens plötzlich auf sich lasten fühlte, sagte ihr, daß dahinter manch ein Gedanke saß, der nichts Gutes gegen sie im Schilde führte.

Schon fing sie an zu fürchten, daß er von ihrer Geschichte mit Prell irgendwie Wind bekommen habe. Aber die Schwertfeger wollte nichts davon wissen.

»Das würde sich ein bißchen anders äußern,« meinte sie. »Ohne ein paar zerbrochene Stühle oder Lampen ginge so ein erster Verdacht nicht ab. Aber ich glaube, die Sache liegt so: Er langweilt sich zu Hause. Er bangt sich nach dem Regiment und macht Sie, Kindchen, für diese Änderung seines Lebens verantwortlich. Gott gebe, daß er deshalb keinen Haß auf Sie wirft. Dann blieben Ihnen bloß zwei Wege: Ausreißen oder ins Wasser.«

Das sah nicht allzu tröstlich aus. Und wenig tröstlich war es auch, daß er sich noch immer weigerte, sie auf den benachbarten Gütern einzuführen. Die Schwertfeger meinte, ihre Ausbildung wäre längst fertig, keine Obersthofmeisterin würde einen Tadel an ihr finden. Aber mißtrauisch sah er sie an und verschob es von Woche zu Woche.

In allen diesen Kümmernissen hielt Lilly sich tapfer. Der Glaube an sich – und mehr noch der Glaube an ihn – gaben ihr Ruhe und Kraft.

Sie hatte sich eine genaue Tageseinteilung gemacht, in der jeder Stunde eine festgesetzte Aufgabe zufiel. Sie lernte Goethesche Gedichte auswendig, sie studierte Shakespeare auf englisch, auch Kunstgeschichte trieb sie und vertiefte sich in die Labyrinthe der französischen Revolution.

Besonders hatte ein großes geographisches Werk es ihr angetan. Darin gab es eine Menge Bilder von südlichen Häfen, von tropischen Wäldern, von nacktfelsigen Sierren und dergleichen.

Auch Italien war vertreten. Mit schlankgliedrigen Säulenhallen, die eine heiße Sehnsucht weckten, unter ihrem Dache dahinzuwandeln, – mit frommen Pilgerzügen und rätselvollen Kirchen.

Und wenn man sich im fremden Lande verirrt hatte und sich furchtsam umsah, weil man nicht mehr aus noch ein wußte, wer stand plötzlich da, blond und sommersprossig, in weiß und schwarz karriertem Herbstanzuge und machte seinen steifbeinigen Diener?: »Wie gnädigste Freundin befehlen!«

Dann schossen ihr doch wohl die Tränen in die Augen.

Ihr einziger Zeitvertreib war nun, hinter der Balkontür zu stehen und an den Ranken des wilden Weins vorbei, dessen letzte Blätter wie rote Fähnchen herum hingen, nach dem Amtshause hinüber zu schauen. Ohne daß er es ahnte, natürlich.

O, sie durfte stolz auf ihn sein. Nie ließ er sich in seinen Freistunden anders als mit dem großen landwirtschaftlichen Lexikon hinter dem Fensterbrett erblicken.

Rasch nahm sie dann ihr Geographiewerk vor, denn sie durfte sich nicht lumpen lassen.

Abends machte er zeitig die Läden zu, und so gut schlossen die dunklen Vorhänge, die er dahinter hatte anbringen lassen – früher einmal, als er noch bummelte – daß nicht der leiseste Lichtstrahl nach außen drang.

Aber Lilly zweifelte nicht im mindesten, daß die Arbeitslampe brannte bis spät in die Nacht hinein, daß er über seinen Büchern saß, wertvolle Auszüge niederschrieb und in großen, schöpferischen Ideen schwelgte.

Und sie schwelgte mit ihm. Denn sie wußte, nun konnte er nicht mehr straucheln. Wie sie seinen Schwur, so hielt er ihre Ehre in Händen. Die mußte ihm ein Talisman sein und ein Wegweiser zu neuem Leben empor.

Die ersten Wochen vergingen.

An den Sonntagen hatte er sich entschuldigen lassen, und sie wußte ihm Dank dafür. Zudem wollte ihr Glück, daß sie sich in jener verhängnisvollen Nacht eine Erkältung zugezogen hatte und daß ihr das Ausreiten vom Arzte für die gesamte Winterzeit verboten worden war. Wahrscheinlich steckte auch hier die Schwertfeger dahinter.


Eines Mittags – in der ersten Hälfte des Dezember – geschah es, daß der Oberst, seiner sonstigen Brummigkeit zum Trotz, besonders aufgeräumt bei Tisch erschien. Er graunzte in sich hinein, sah mit aufgehellten und verschmitzten Augen ins Leere, und das heimliche Lachen lief sozusagen in Schnüren an seinen Backen herunter.

Lilly wagte zu fragen, was es denn eigentlich gäbe.

Zuerst wollte er nicht mit der Sprache heraus – »Ach, Blödsinn, kümmert euch um eure Sachen!« – aber schließlich konnte er doch nicht an sich halten.

»Also denkt mal, was mir passiert ist. Im Kasino hatte mir nämlich einer der Herren gesagt, ich möchte doch mal meinem Prell bißchen mehr auf die Pfoten sehen. Denn man soll sich erzählen, daß er Nacht für Nacht in den Spelunken der Stadt rumsumpft und sogar wegen einem Weibsbild von Kellnerin in eine bösartige Schlägerei verheddert worden ist.«

Lilly fühlte, wie ein eisiges Erstarren von den Füßen her langsam nach oben kroch. Die Glieder wurden ihr taub. Sie lächelte, und dieses Lächeln schnitt in die Wangen wie ein Stein.

»Zuerst hab' ich ihn natürlich ausgelacht,« fuhr er fort. »Denn in dem einzigen Zug, der Abends hin und Nachts zurückfährt, sitz ich doch, und ich bin in letzter Zeit, wie ihr wißt, fast jeden Abend drüben gewesen. Viereinhalb Meilen hin, viereinhalb Meilen zurück macht auf die Dauer kein Gaul. Und für'n Extrazug reicht das Taschengeld nicht, das ich ihm gebe. Das sagte ich auch dem Major. Aber er bleibt dabei. Die jüngeren Herren hätten's erzählt, und es wäre doch schade, wenn man ihm schließlich auch noch die Uniform abknöppen müßte … Wie ich um eins auf den Bahnhof komme, geht mir die Geschichte doch durch den Kopf, und da grad noch Zeit ist, such' ich den ganzen Zug ab – auch die vierte. – Selbstverständlich kein Bein … Und so mach' ich's noch 'n andern Abend, und noch 'nen dritten Abend, und zum Überfluß klopf' ich hinterher auch noch bei den Inspektoren an, ob einer von ihnen den und den Schlüssel hat. Nein, ruft er von innen, er hat ihn nicht. Ganz verschlafen. Also, denk' ich, is die Geschichte doch Schwindel … Und nu hört mal gut zu: Gestern abend, wie ich hier auf dem Bahnhof ankomme und schon im Wagen sitze, fällt mir ein, daß ich meinen Regenschirm vergessen habe, denn an das Möbel kann ich mich immer noch nicht gewöhnen … Ich geh' also zurück – der Perron war schon total menschenleer, der Zug stand aber noch da – und wie ich am Gepäckwagen vorbei komme – Schiebetür offen – da seh' ich, wie auf der entgegengesetzten Seite einer auf die Schienen springt. ›Halt!‹ ruf' ich – aber er läuft und läuft – und 'rin in den Wald … Ich will noch den Packmeister aufmerksam machen, der vorne an der Lokomotive steht, da geht mir plötzlich der Prell durch den Kopf … Ich sag' zum Heinrich: ›fahr zu, als ob der Deibel dich holt‹ … und in fünf Minuten sind wir hier … Aber da überleg' ich mir, daß er das Räderrollen doch gehört haben muß vom Fußweg aus, und darum geh' ich rasch 'rauf in mein Schlafzimmer, um Licht zu machen, damit er denken soll, ich bin schon oben. Hab' ich dich dabei geweckt, Lilly?« – er blickte sie an und stutzte – »aber – wie siehst du denn aus, Lilly?«

»Ich?« sagte sie und lächelte wieder.

»Sie ist schon den ganzen Tag nicht recht wohl,« fuhr die Schwertfeger eilends dazwischen, »und überdies, ich bin auch ganz aufgeregt von Ihrer Geschichte.«

»Hm,« machte er, den schwarzgefärbten Schnurrbart rollend, und schien nur wenig Lust zu haben, den Faden wieder aufzunehmen. Aber Lilly konnte sich nicht beruhigen.

»Ich muß wissen, ich muß wissen!« rief sie ganz außer sich und klatschte dabei bittend in die Hände.

»Also gut,« sagte der Oberst, sie fester ins Auge fassend, »ich rasch wieder 'runter und vor'm Amtshaus auf Anstand … knappe fünf Minuten – da kommt er an … geduckt wie 'n Iltis … bleibt stehen – äugt nach meinem Zimmer – sieht's Licht – aha, denkt er, denn man los … Und wie er gerade den Schlüssel ins Loch steckt, hab' ich ihn beim Schlafittchen.«

Lilly brach in ein tolles Gelächter aus.

»Nein, ist das komisch, ist das komisch!« rief sie, und diesmal glaubte er ihr.

»Kommt noch komischer,« fuhr er fort. »›Wenn Sie die volle Wahrheit bekennen,‹ sag' ich, ›kriegen Sie Pardon, aber bloß dann, sonst fliegen Sie schon morgen früh …‹ Also, was hat das Luder? … Ne Frau Liebste hat das Luder … Schenkmamsell im ›goldenen Apfel‹. Wo die Unteroffiziere und die Kanzlisten verkehren. Und um bei ihr 'rumzulumpen, hat er 'nen Bahnbeamten bestochen gehabt und ist richtig als königlich preußisches Gepäckstück Abend für Abend mit mir zusammen hin und zurück gefahren … Wenn das nicht Frechheit heißt – was, Lilly?«

Eine Pause entstand. Sie fühlte ein Schwanken wie auf stürmischem Meere, ein Sausen, ein Singen, und fühlte zugleich wie unter dem Tisch die Hand der Schwertfeger die ihre mit warnendem Drucke umschloß.

»Jawohl,« sagte sie, »das ist wirklich höchst komisch.«

Der Ton, indem diese Worte gesprochen wurden, mußte wohl nicht sehr glaubhaft geklungen haben, denn eine neue Pause entstand.

Hierauf erhob sich der Oberst, nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und sagte, während von dem Drucke ihr die Ohren zu springen drohten: »Es scheint in der Tat, du hast Ruhe nötig.«

Damit machte er kehrt und schritt, ohne sich umzusehen, zum Speisezimmer hinaus.

»Jetzt aber zusammennehmen!« hörte sie die verstörte Stimme der Freundin hinter sich, »denn von nun an paßt er auf.«

Sie wollte sich an ihre Brust stürzen, wollte sich trösten und streicheln lassen, aber die Schwertfeger – als fürchte sie, von irgend wem in allzu vertraulicher Zwiesprache mit ihr betroffen zu werden – wich zur Seite und sagte in freundlich-gemessener Ablehnung: »Verzeihen Sie mir, Lillychen. Im Augenblick hab' ich zu tun.«

Damit verließ auch sie das Zimmer.

Was nun?

Lilly sah in die Runde. Auf dem Tisch standen die Reste der voreilig beendeten Mahlzeit … Die dunkeln Schnitzmöbel sandten schwarz umrandete Lichter aus dem winterlichen Halbdunkel des Raumes … Der Kronleuchter blinkte in fahlem Messingglanze.

Das alles schien wie immer, und doch war nichts mehr da. Nur eine grausame, alles verschlingende Leere, ein Abgrund, der sie mit Lockungen wie mit Haken und Zangen zu sich zog.

Sie trat ans Fenster und schaute teilnahmlos hinaus.

Das kahle Astwerk schüttelte sich im Winde, der Efeu am Geländer flatterte, selbst die herabgebogenen Rosenstämme, deren Krone die Hände des Gärtners längst unter Erdhügeln geborgen hatten, gingen zitternd hin und her. Sie alle wanden sich unter dem Griff des Herbstes, nur die toten Blätter auf dem halbverschneiten Rasen lagen still.

Was nun?

Wenn dies geschehen konnte, dann versagte alles. Dann gab es keine Hoffnung, kein Emporkommen, keine Kraft und keine Treue mehr, dann konnte man sich zu jenen Blättern auf die Erde werfen und sich sterben lassen.

Vorher aber – – – ja, was?

Hinter ihr klapperten Teller. Das bedienende Mädchen war, da niemand klingelte, ungerufen ins Zimmer getreten und räumte mit Ferdinand den Tisch ab.

Sie dachte an Käte und an jene andere, jene Dirne, in deren Armen er sie und ihren Glauben an ihn verlacht hatte.

Mit gefühllosen Beinen schleppte sie sich die Treppe hinan, zu den Räumen, wo sie zu Hause war.

Im Vorbeigehen hörte sie, wie der Oberst in seinem Schlafzimmer beinahe laufend auf und nieder schritt. Sie fühlte nicht die mindeste Angst vor ihm.

»Mag er doch laufen,« dachte sie.

Dann vernahm sie durch die geschlossene Tür, wie er befahl, daß sogleich angespannt werden solle.

»Meinetwegen kann er auch hier bleiben,« dachte sie.

Sie trat auf den Balkon hinaus.

Die Eiskälte, die ihr noch immer im Genicke saß, kroch ihr bis in die Arme, bis in die Fingerspitzen hinunter.

Dort drüben saß Walter, – wie immer in der Freistunde nach Tisch – ganz in das Studium des großen Lexikons vertieft, strich sich ab und zu in ehrbarem Eifer über das Haar und knipste, ohne aufzuschauen – so viel Zeit nahm er sich gar nicht, um Gotteswillen! – die Zigarettenasche auf einen Blumentopf.

Angesichts dieses infamen Spiels, das einzig und allein bestimmt war, sie zu täuschen, packte sie ein wilder, anklagender Zorn, der sie vollkommen sinnlos machte. Ein Stechen, ein Prickeln lief die erstarrten Arme in die Höhe. Dann war es ein schmerzendes Feuer, das in den Schläfen bohrte und vor die Augen einen roten Vorhang warf.

Sie sah nichts mehr, sie hörte nichts mehr.

Sie stürzte die Treppe hinunter, riß die Riegel der Gartentür zurück, sprang die Steinstufen hinab und jagte spornstreichs quer über den Rasen zum Amtshause hinüber.

Ob sie einer gesehen hatte oder nicht – in diesem Augenblicke war ihr alles gleich. –

Die Tür seines Zimmers flog gegen die Wand.

Nicht einmal angeklopft hatte sie.

Ein häßlicher, scharfer Geruch, wie aus einer Menagerie, drang ihr entgegen.

Dort am Fenster saß er und schoß in die Höhe.

Das graue Taglicht glitt an seinem Kopfe entlang.

»Er hat sich das Haar wieder als Bürste schneiden lassen,« dachte sie. Das flotte Leben, das er jetzt führte, verlangte das so; die Eleganz der Spelunken verlangte das so.

»Herr du mein Gott!« sagte er, die brennende Zigarette zwischen den Fingern zerbröckelnd, »das ist ja eine schöne Bescherung.«

»Warum –? Warum hast du – –?« schrie sie ihm entgegen, »du bist ein Schuft! … ein ehrenwortbrüchiger Schuft bist du!«

»Potz Donnerwetter,« sagte er und sah sich ratlos um. »Wie kommen gnädigste Baronin nu hier wieder 'raus?«

»Du hast deine Versprechungen vergessen – du hast das Heiligste, was uns verband, das hast du – ja, das hast du an eine Schenkmamsell weggeworfen … an eine Schenkmamsell, eine Person, die sich für ein Trinkgeld jedem an den Hals hängt … du bist ein ganz elender Mensch … du bist nicht wert, daß man dich hat retten wollen … du willst gar nicht gerettet sein … du willst verkommen, ja, das willst du …«

»Soweit ist ja das alles sehr gut und sehr schön,« sagte er, »und das mögen ja auch sehr betrübende und sehr unbestreitbare Wahrheiten sein, aber erklären mir gnädigste Baronin nur das eine, wie kommen Sie hier wieder 'raus?«

»Ich wüßte nicht, was mir gleichgültiger wäre,« rief sie, »ich bin hergekommen, damit du mir Rede stehst. Und das verlange ich jetzt von dir … gleich – hier – jetzt – auf der Stelle.«

»Gewiß, meine gnädigste Baronin,« erwiderte er. »Ich werde ja nicht verfehlen. Aber zuerst – – zum Himmelkreuzdonnerwetter, geh' mal vom Fenster weg!«

Dabei warf er einen kurzen, spähenden Jagdblick zum Schloß hinüber, an dessen Fenstern allerdings in diesem Augenblicke sich nichts Verdächtiges entdecken ließ.

Erschrocken, so von ihm angeschnauzt zu werden, flüchtete sie in das Innere des Zimmers zurück, das niedrig, dunkel und schlecht möbliert war, wie eine Armeleutswohnung. Der häßliche Tiergeruch machte sich jetzt noch stärker bemerkbar. Woher er stammte, wurde ihr schon im nächsten Augenblicke klar, denn als sie sich der Hinterwand näherte, schnappte plötzlich etwas nach ihrem Fuß, und zwei kleine, kreisrunde Feuer glimmten boshaft zu ihr empor.

»Wirst du wohl artig sein, Tommy!« rief er, während sie mit einem Aufschrei zurückfuhr.

Das war also Tommy, der Dritte im Bunde.

Sie drückte sich gegen die Lehne des alten, dünnbeinigen Sofas, dessen brüchige Federn unter ihren Handballen kreischten und stachen, und der Gedanke: »Was will ich eigentlich hier, was geht das alles mich an?« schoß gleichsam an ihrem Hirn vorbei.

Er schritt derweilen horchend von Tür zu Tür.

»Wäre der alte Leichtweg im Nebenzimmer noch da,« sagte er, »dann hätten wir jetzt den Tod von Basel. Aber wenn du gleich in dieser Minute vorn nach dem Hof hinaus gehst, kann man annehmen, du hast ihn was fragen wollen, und dann wird sich's vielleicht noch machen.«

Sie sah in diesen Worten nur einen schlauen Versuch, sich der drohenden Verantwortung zu entziehen, und eine neue Flutwelle der Empörung kam über sie.

»Erst sollst du dich rechtfertigen,« sagte sie. »Vorher geh' ich weder hier 'raus, noch dort 'raus.«

Und zur Bekräftigung dieses Vorhabens ließ sie sich auf das kreischende Sofa fallen, dessen Bezug zum Schutze gegen die durchstechenden Sprungfedern mit einer schmutzig-grauen, mehrfach gefalteten Pferdedecke belegt war.

Wohl oder übel mußte er nachgeben.

»Na gut, also, sieh mal – man ist doch sozusagen auch 'n Mensch, nich wahr? … und wenn man in so gemeiner Weise fallen gelassen wird – –«

»Gemeiner Weise?« stammelte Lilly. »Was stand denn Gemeines in meinem Briefe? Hab' ich dir nicht mein ganzes Herz vor die Füße geworfen, und hat dir die Schwertfeger nicht – –?«

Sie konnte nicht weiter, Zorn und Jammer erstickten sie fast.

Aber er, der offenbar anfangs nicht gewußt hatte, wo hinaus, war inzwischen über die einzuschlagende Taktik ins klare gekommen.

»Ja, das ist es ja eben,« fuhr er fort, von Sekunde zu Sekunde beleidigter werdend. »Beschließt man eine Liebe, wie die unsrige, mit so einer lauwarmen Moralpredigt? Und nu gar die Schwertfeger … Hab' ich das um dich verdient, daß du mich durch eine Dritte – eine schäbige, eklige Person – abtun läßt, wie so 'n asthmatischen alten Hund? … Muß einen da nicht die Verzweiflung packen nach dem allen, was ich für dich getan habe?«

»Was – hast du denn – für mich getan?« fragte Lilly.

»Nun – bin ich dir nicht immer ein aufopfernder Kamerad gewesen? Hab' ich dir nicht sogar die Treue für meinen alten Oberst zum Opfer gebracht? Den hochverehrten Mann, der mich doch sozusagen gerettet hat? … Das ist keine Kleinigkeit, siehst du  … Meinst du, das geht einem nicht an die Nieren? … Meinst du, daß das graue Elend dann nicht über einen kommt? … Und dann Abend für Abend hier allein 'rumsitzen, mit dem Dreckmatz, dem Tommy, denn das Biest das stinkt, sag' ich dir … Und da soll man sich nicht mal ein bißchen betäuben? … Seinen Liebesgram, den soll man nicht mal – wie sagt man? – ertöten? … nicht mal ertöten soll man ihn? … Wie du so etwas von mir verlangen kannst, das ist mir absolut schleierhaft … Da reden wir eben zwei Sprachen, liebes Kind … Da ist eine Kluft zwischen unseren Naturen … Und da beliebt es dir sogar noch, um einer solchen Affenpomade willen, unser beider Existenz aufs Spiel zu setzen … Ich gehöre sonst nicht zu den Lappmeiern, aber, weiß der Deubel, wenn ich dich nur erst hier wieder 'raus hätte!« – –

Während der langen Rede war er – die Hand im Gurt seiner Jagdjoppe – im Halbkreis um Lillys Sofaplatz herumgegangen, kleine, hüpfende Schritte machend, in denen seine sittliche Entrüstung sich kräftig kund gab.

Sie ihrerseits saß starr aufgerichtet da und wandte den Kopf mit großen, fassungslosen Augen mechanisch hinter ihm her, bald nach rechts und bald nach links.

Als er geendet hatte, holte er eine neue Zigarette aus dem Etui und klopfte sie energisch an seinem linken Zeigefinger ab.

Sie stand in ihrer ganzen Höhe auf, Sofa und Sofatisch tief unter sich zurücklassend.

»Höre, Walter,« sagte sie, »von diesem Augenblicke an wird alles zu Ende sein zwischen uns.«

»Na, is es denn das nicht längst?« fragte er.

»Ich meine – auch innerlich.«

»Ach so – innerlich!« – er zog eine kleine Grimasse – »das heißt wohl bei dir, wenn man einen im Magen hat?«

Wie sie so ihre Liebe verhöhnt und verhunzt sah, da war es mit ihrer Haltung zu Ende. Hell aufjammernd lief sie hinter dem Sofa hervor und barg ihr Gesicht irgendwo an der Wand.

»Komm vom Fenster weg!« hörte sie seine knirschende Stimme.

Ach, was ging sie das Fenster an!

Da legte er sich in seiner Angst aufs Bitten. »Komm bloß da weg,« sagte er. »Es war ja alles bloß Kaff, weiter nichts. Wieder zum Lachen hab' ich dich bringen wollen, weiter nichts. Aber komm vom Fenster weg.«

Sie rührte sich nicht.

Sich verkriechen! Bloß sich verkriechen mit all ihrer Schande!

Da fühlte sie sich unsanft von seinen Händen gepackt.

Das fehlte noch! Wo möglich sich auch noch schlagen lassen!

Sie schleuderte ihn zurück, sie rang mit ihm, sie krallte ihre Hände in seinen Hals – –

Und plötzlich – – – –

Ein Pfeifen, ein Klirren, ein Prasseln – Glasscherben stoben über sie her, und an ihnen vorüber flog ein langes, dunkles Etwas, anzuschauen wie ein Speerschaft – überschlug sich und blieb zu ihren Füßen liegen.

Zu gleicher Zeit fühlte sie, wie ein kalter Windstrom an ihrer Stirn vorüberstrich, sie aus der Betäubung des Augenblicks erweckend.

Eine der beiden oberen Fensterscheiben war ausgebrochen.

Aber nichts Lebendiges ließ sich sehen.

Nur die Balkontür drüben, die eben noch geschlossen gewesen, stand schwarz geöffnet und schickte sich gerade an, mit spiegelndem Bogen ins Schloß zurückzufallen.

»Soweit wären wir also mit Gottes Hilfe,« murmelte Walter und bückte sich, das geheimnisvolle Ding vom Boden aufzuheben, während die zersplitternden Scherben unter seinen Sohlen kreischten.

»Das Blasrohr,« stammelte Lilly.

Ja, das Blasrohr war's, das vor einer Viertelstunde noch auf ihrem Balkon gestanden hatte.

»Es is 'n Glück, daß er seine Schrotflinte nich zur Hand gehabt hat,« sagte Walter, »sonst wären wir jetzt durchlöchert wie 'n Milchsieb.«

Er wischte sich mit dem Handrücken die Stirn, auf der in hellen Tropfen der Angstschweiß stand.

Aber trotzdem war er ein tapferer kleiner Kerl und wußte sofort, was zu tun war.

Er sprang nach dem Wandschrank, unter dem das Füchslein sich eingebuddelt hatte, holte seinen Armeerevolver heraus, schob die Sicherung zurück und prüfte die Trommel.

Dann sagte er: »Jetzt geh' mal gefälligst in Leichtwegs Stube hinüber, und riegle dich dort ein … Er ladet bloß noch, dann wird er gleich da sein.«

Aber sie wollte nicht von ihm gehen. Ihr ganzer Groll gegen ihn war verschwunden.

»Laß mich bei dir, laß mich bei dir!« flehte sie, seine Schultern umklammernd.

»Geht nicht, mein Kindchen,« erwiderte er, die Stirn in die alten, herrischen Falten legend. »Was nun kommt, is Männersache.«

»Dann bleib' ich im Hausflur und empfange ihn vor deiner Tür.«

Er kaute die Lippen.

»Kommst du mir so,« sagte er, »dann is freilich nichts zu machen. Bitte, nimm Platz.«

Damit holte er den Schlüssel von draußen herein, steckte ihn ins innere Schlüsselloch und drehte ihn bedächtig zweimal in die Runde.

»Zwischen Laden und Schießen,« sagte er dann, »is zwar immer noch 'n mächtiger Unterschied, aber der Deubel kann wissen.«

Hierauf zog er seine Uhr hervor, und gespannt nach außen hin lauschend, zählte er eine halbe – eine – eineinhalb – zwei Minuten.

»Es scheint, daß er seine Patronen nicht finden kann,« sagte er, und dann sie anherrschend: »Nimm doch endlich mal Platz. Du wirst deine Beine noch brauchen heute.«

Sie sank in die eine Sofaecke, er setzte sich in die andere. Die Taschenuhr lag zwischen ihnen auf dem hügeligen Polster, und beide zählten, die Augen auf den Sekundenzeiger geheftet: zweieinhalb – drei – dreieinhalb – vier – viereinhalb – fünf Minuten.

Nichts ließ sich hören, nur der Wind fegte pfeifend durchs Gezweig.

Und dann schien es, als ob vom Hofe her ein Pferdegetrappel erscholl, das sich nach dem Tore hin verlor.

»Wen läßt er da holen?« fragte Walter. »Bis zum Kartellträger sind wir doch noch nich.«

Vor Lillys Augen spielten rote Sonnen. Die Zimmerdecke begann zu tanzen.

Und Walter zählte weiter: »Sieben – acht – achteinhalb –«

Nichts.

»Neun – neuneinhalb – zehn –« da plötzlich stieß er einen kleinen pfeifenden Laut aus und griff nach dem Revolver.

Die Haustür hatte sich kreischend in ihren Angeln gedreht, Schritte ertönten – aber nicht in dem dröhnenden Donner des rächenden Ehemanns – leise, zagend, schleppend krochen sie daher.

Dann gab es eine Weile lang nichts … Kein Laut als die Atemzüge der beiden – und noch ein anderes Atmen, das von jenseits der Tür zu kommen schien.

»Wer da?« rief Walter.

Und da erst ertönte ein Klopfen.

Leise, gebrochen, wie von zitternden, hinsinkenden Fingern.

»Wer da zum Teufel?« rief er noch einmal.

»Anna von Schwertfeger.«

Er sprang auf und öffnete.

Da stand sie – aschfahl, rot nur um den Mund herum und mit zuckenden Lidern.

»Der Oberst ist soeben zum Baron von Platow gefahren und wird in drei Stunden wieder zurück sein. Er hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, Lilly, daß er Sie dann nicht mehr auf seinem Grund und Boden zu finden wünscht.«

»Und mir läßt er jar nischt sagen?« höhnte Walter von Prell.

Die Schwertfeger, – ohne ihn zu beachten, – griff nach Lillys Hand. »Kommen Sie, es bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen packen.«

»Ja – wo soll ich denn aber hin?« fragte sie ratlos, indem sie sich emporziehen ließ.


Als sie draußen war, sah sie bereits den Wagen vorfahren, der sie erwartete.


 << zurück weiter >>