Christoph von Schmid
190 kleine Erzählungen für die Jugend
Christoph von Schmid

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72. Die Maus

Melcher war ein Taglöhner, der in einem Seitengäßchen, nicht weit vom Posthause, wohnte; da er sich sehr gut auf das Kutschieren verstand, so nahm ihn der Postmeister zum Postknecht an. Allein bald wurde Melcher bei seinem Herrn verklagt, daß er ihm Haber stehle. Erst gestern nacht, hieß es, habe er sich heimlich mit einem Sack voll Haber nach Hause geschlichen.

Der Postmeister ging sogleich in Melchers Haus und stellte ihn zur Rede. Herr, sprach Melcher, durchsucht mein ganzes Haus; wenn ihr ein Körnlein Haber findet, so will ich meinen Dienst verlieren. Der Postmeister suchte, von Melcher begleitet, auf dem Dachboden und in allen Kammern nach – und fand nichts.

Als beide wieder in Melchers Stube traten, sagte Melcher: Dem Herrn Postmeister kann ich es nicht verdenken, daß er die Sache untersuchte; aber die falschen Leute, die mich verleumdeten, müssen mir meine Ehre wieder geben. Dabei schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß die Stube zitterte. Aber sieh – plötzlich fing es an, Haberkörner auf den Tisch herabzuregnen. Melcher hatte den gestohlenen Haber zwischen den Brettern der Stubendecke und des Dachbodens versteckt. Eine Maus hatte die Stubendecke durchnagt, und auf den Faustschlag waren die Körner durch das Loch herabgefallen. – Melcher wurde totenblaß, konnte den Diebstahl nicht mehr leugnen und mußte den gelben Rock für immer ausziehen. Da entstand das Sprichwort:

Sei noch so schlau bei bösen Taten,
Ein Mäuslein kann die List verraten.


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