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»Ja wol ist es ein herrlicher, aber auch ein schwerer, ein sehr schwerer Beruf,« sagte die Mutter, die mit den Kindern am Theetisch saß. Der Platz links in der Sophaecke, des Vaters Platz, war leer. »Der Handwerker, der ärmste Tagelöhner – hat der von früh bis spät im Schweiße seines Angesichts gearbeitet, so legt er Sense und Dreschflegel, Säge und Hobel, Nadel und Pfriem, Hammer und Steinramme bei Seite. Der Ackerknecht spannt sein Zugthier aus, Egge und Pflug ruhen. Der Beamte hält seine Dienststunde, nimmt die Termine wahr, besucht die Sitzungen oder schreibt zu Hause seine Akten – legt er die Feder weg, ist er sein eigener Herr. Die Schildwache auf Posten, der Steuermann an Bord wissen auf die Minute, wann die Ablösung kommt. Schirrmeister und Postillon sehen auf der längsten und beschwerlichsten Fahrt doch immer ein bestimmtes Ende ihres mühseligen Dienstes. Alle Welt hat ihren Feierabend, und der Nachtwächter schläft am Morgen aus. Nur der Arzt, gleich dem Krieger im Felde, ist keinen Augenblick sicher; Tag und Nacht, Werktag und Feiertag, bei Sommerhitze und Winterkälte, bei jedem Wind und Wetter, zu jeder Zeit muß er aufspringen, so wie etwas vorfällt. Ein jeder Kranke will doch so bald wie möglich Hilfe oder Erleichterung haben. Ein Jeder meint, sein Arzt sei nur für ihn allein da, wie der Leibarzt für den König, und selbst der hat gewiß noch seine schöne Praxis außerdem. Der stärkste, geschickteste, unermüdlichste Mann bleibt immer nur ein Mensch. Dabei ist der eine Mensch und Arzt aber immer Einer gegen Viele. Niemand kann zweien Herren dienen, der Arzt soll der Diener der ganzen Stadt sein. Jetzt ist das ja noch golden gegen früher. Wenn ich denke, was der trauteste Vater in den ersten Jahren hat durchmachen müssen, ich begreife es jetzt selbst kaum. Eine Zeit lang hat er ja zugleich drei Physikate gehabt, eins interimistisch, in zwei Kreisen aber fest angestellt, und da hat er manchmal an einem Tage zehn, zwölf bis fünfzehn Meilen fahren müssen, versteht sich, mit untergelegten Pferden – sonst wäre es auch keine Möglichkeit gewesen. Manchmal haben sie ihm nur ein Pferd und ein Paar hohe Reitstiefel geschickt, weil mit der Achse nicht durchzukommen, in dem schönen fetten Weizenboden, wo das Gold haufenweise auf den Feldern liegt – es ist nur schwer in die Tasche zu kriegen; regnet es, so bleibt man stecken, scheint die Sonne, so ist's steinhart wie auf der Tenne, man bricht Alles kurz und klein. Die Wege werden jetzt besser in Stand gehalten, und wer kann leugnen, vieles Andere ist auch besser geworden. Immer bleibt die Landpraxis gar beschwerlich. In den großen Städten haben sie ihre eigenen Equipagen, mehr Einnahmen, aber auch mehr Ausgaben und noch viel weniger von der Familie. Tante Caroline schrieb mir, nachdem ihre Kinder das Scharlachfieber gehabt. Nun das kennen wir auch nicht blos vom Hörensagen, aber Eins war mir doch neu. Sie hätten viel Angst ausgestanden um die beiden kleinsten, die fast schon aufgegeben, und doch wären sie gerade da in einem Sinn glücklicher daran gewesen, als seit Jahren. Ihr Mann hat ganze Nächte lang mit ihr am Bette der kranken Kinder gesessen, am Tage bekäme sie ihn ja fast gar nicht zu sehen. Was hat man da von einander?«
»Und all die Mühe, Aufmerksamkeit, Aufopferung wie oft werden sie mit Undank belohnt! Wie viel Geduld ist nöthig, nur um all die müßigen Klagen, all die Lappalien anzuhören, mit denen sie so oft kommen, als wäre es wunderwas.« »Mein lieber Herr Doktor,« hat einmal einer angefangen, als der Vater gerade so viel Wichtiges zu thun, er wußte nicht, wo ihm der Kopf stand – »vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich ein Pickel« – »das ist schon etwas lange her,« sagte der Vater, »haben Sie aber so lange gewartet – bitte, warten Sie noch fünfundzwanzig Jahre länger, und wenn es dann noch nicht abgetrocknet, und ich noch lebe, bin ich gerne bereit, es Ihnen auszudrücken. Jetzt habe ich keine Zeit dazu.« Am besten unsere alte Christine, wenn die ankommt, mit ihrem Funfzig-Thaler-Pfandbrief, ihr in langjährigem treuem Dienst Erspartes, und den Vater bittet, ihr die Coupons abzuschneiden – mich niemals, wie ich hoffe, nicht aus Mangel an Vertrauen in meine Redlichkeit; wahrscheinlich hält sie es für eine so ernste Operation, die kein Anderer machen kann, wie der Herr Doktor mit eigener Hand. Oder wenn die kluge Frau vom Flickschneider, der er die Medicin für die Kinder aus eigener Tasche bezahlt, die theure Arznei stehen und verderben läßt, den Kindern statt dessen sauer Bier mit schwarzem Kümmel und gestoßenen Flintensteinen eingiebt und sie, während zur Kirche geläutet wird, in den Kasten sperrt, daß die armen Bälge bei einem Haar erstickt wären – nun das ist Unverstand von rohen ungebildeten Leuten. Die sogenannten Gebildeten und Vornehmen leisten da in ihrer Art mitunter auch Erkleckliches.«
»Das Allerschwerste, sagt der trautste Vater immer, nicht helfen können, wo man so gern helfen möchte.« Ich bin schon ganz froh, wenn er beim Ausgehen so leise vor sich hinsummt, irgend eine Melodie, was ihr gespielt habt, oder auch wol eine heitere alte Weise, die ihm aus der Jugendzeit wieder einfällt, und die hier Niemand kennt. Wie neulich Frau Alborn bei mir, sagte sie: »wenn ich am offenen Fenster sitze, und ein Herr geht durch die Straße mit so einem lebhaften, wiegenden Schritt und singt und summt eifrig vor sich hin, als wäre es ein Kapellmeister, ist aber keiner – dann stirbt Niemand an dem Tage und ist mir das beste Zeichen für den Gesundheitszustand.« – Da hat sie auch ganz Recht. Wie aber das Nervenfieber zu spuken anfing, und der gute Herr Grützmacher starb, mit dem er sich so viel Mühe gegeben – konnte es aber doch nicht durchsetzen, daß Unvorsichtigkeiten vermieden wurden, als der Mann schon auf bestem Wege der Genesung – da ist der Kapellmeister, der keiner war, sehr still dahergeschritten, langsam freilich nicht. Und da sagte er auch nicht, wie er wol thut, wenn keine anderen Krankheiten sind, als der Allerweltsschnupfen und Husten im Herbst und Frühjahr oder das Drittfeiertagsfieber: »Ich muß doch schon wieder gehen, Leute zum Narren machen.« – Niemand kann bescheidener von den Grenzen seiner Wissenschaft und Kunst denken. Gerne führt er den Spruch jenes Landarztes an: »Der gescheidteste und gewissenhafteste Arzt vermag im besten Fall doch auch nicht viel mehr zu thun, als den armen Kranken die Kissen ein bischen bequemer zu legen.« – Was jetzt nur da wieder sein wird? Es wurde so dringend gemacht. Er ist heute ja schon so viel gelaufen und selbst nicht mal ganz wohl. Wenn es ihm doch nur nicht schaden möchte! Der liebe Gott erhalte euch und mir den trautesten Vater. Ach, fast bei keiner andern Thätigkeit erliegen schon in frühen Jahren verhältnißmäßig so viele den Anstrengungen ihres Berufes.«
»Ich werde aber doch Doktor,« sagte ein Knabe mit schwarzem lockigem Haar und glänzenden dunkeln Augen, der keinen Blick von der Mutter verwandt während dieser, doch vorzugsweise auf den Schattenseiten des väterlichen Berufs verweilenden Schilderung. Hatte sie die Absicht, ihn zurückzuschrecken von der Wahl des gleichen Lebensweges, so erreichte sie ihren Zweck nicht. Der Trotzkopf wurde wirklich Doktor – und weilt er, wie der Vater, jetzt schon lange nicht mehr unter uns, vielleicht sind beide doch noch nicht ganz vergessen, auch außer der Familie; vielleicht erinnert sich doch noch hie und da Jemand freundlich des alten oder jungen Doktors, der ihm einst – »die Kissen ein bischen bequemer legte«. –
»Still, Kinder! ... Aber, noch kann er ja nicht zurück sein, es ist zu weit ... Ja doch, wahrhaftig er ist es schon.«
Die Kinder eilten, dem Vater die Thür aufzumachen, der denn auch sogleich hereintrat – schweigend, mit einem zum Fragen nicht auffordernden Gesicht den Wachsstock nahm, den man ihm angezündet, in sein Zimmer hinauf ging, im bequemeren Rock wiederkam und sich in seine Sophaecke setzte, immer noch ohne ein Wort zu sagen. Aber die Mutter brach das drückende Schweigen.
»Was war denn? Tu siehst ganz verstört aus. Nimm dir's doch nicht so zu Herzen! Du reibst dich ja auf – und wem nützest du damit?«
»Ja, da soll einer nicht verstört aussehen!«
»Kamst du zu spät? Ist er todt?«
»Er denkt nicht d'ran. So wie ich nur den Fuß über die Schwelle setzte, sah ich auf den ersten Blick wie es mit ihm stand ... »Sie wollen vom Schlage gerührt sein?« »Ach, entschuldigen Sie doch nur, Herr Doktor, aber ich bin bei Gott! ganz von mir gewesen, und es kribbelte mir so im Fuß und im Bein.« Kurz, er war selbst in größter Verlegenheit, wie er sich herausreden sollte, daß ihn nicht der Schlag gerührt hatte. Dabei roch es im ganzen Hause nach Speckeierkuchen, man bekam ordentlich Appetit. Ich glaube, er hat schon wieder munter mitgegessen. Das ging mir doch über den Spaß. »Wenn es noch bei Tage gewesen wäre! Aber mich bei Nacht und Nebel für nichts und wieder nichts heraus zu sprengen und den Schloßberg herunter zu jagen. Mir war die Sache gleich verdächtig – wie sollen Sie zum Schlagfluß kommen? Und wenn Sie noch wen geschickt hätten, der einem Auskunft zu geben im Stande, nicht die stupide Magd. Es hätte ja auch was anderes Ernsthaftes sein können, wo man seinen Beistand nicht versagen darf, ohne sich hernach Vorwürfe zu machen. Sie hätten sich nur gefälligst selbst den Berg herauf bemühen sollen, da würde der eingeschlafene Fuß wol erwacht sein und das Kribbeln im Bein aufgehört haben.« Ich sage dir – der wird sich besinnen, ehe er wieder einen Schlaganfall hat.«
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