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So war denn endlich der große Tag da, die Stunde der Abfahrt rückte heran, und wie es in solchen letzten Momenten geschieht, die ungemüthliche Spannung des Wartens ließ die Wehmuth nicht so aufkommen wie vorher, als die Trennung noch weniger unmittelbar bevorstand.
Die Familie war versammelt, Karl reisefertig, zu thun blieb nichts, kaum noch etwas zu besprechen übrig. Keiner wußte mehr recht was zu sagen, aber gänzliches Schweigen war noch viel banger, und in jedem, auch dem unbedeutendsten Wort klang ein eigener Ton an: man hörte heraus, wie gern Alle noch dem Scheidenden etwas zu Liebe gethan hätten.
Eine Hand, die etwas rauh geworden – vielleicht weil sie selten müßig im Schooß ruhte – strich doch so sanft die wallende Lockenmähne aus Karl's Stirn, und der Mutter Stimme sagte nichts dazu als: »mein einziger Junge!« Das war er noch immer. – Dann war es wieder eine Weile still, nur der Major räusperte sich und gab Karl einen bedeutungsvollen Wink: »Also, was ich dir gesagt habe!« Es bezog sich dies aus die soldatisch unumwundene Ermahnung, welche der Onkel dem Neffen schon am Tage zuvor angedeihen ließ, indem er ihn in eine Fensternische zog: »Junge, hüte dir vor Karten, Würfeln und Weibern.« Einstweilen lag nicht die entfernteste Notwendigkeit vor, Karl diese schätzenswerthe Regeldetri der Moral besonders einzuschärfen. Aber der alte erfahrne Krieger meinte, ein guter Feldherr denkt nicht blos an heute und morgen.
Der Vater stand auf. »Es ist Zeit, wir wollen gehen!« Und das sagte er etwas barscher, als schlechterdings nöthig gewesen wäre, allein dies war so seine Art, wenn er dachte: kein Anderer braucht zu wissen, daß es unter deiner linken Westenklappe unruhig wird!
Nun ging es an das Lebewohlsagen. Einige wurden einen Schein blässer, einige einen Schein röther; einer sah, ehe die Reihe an ihm war, zum Fenster hinaus, ein anderer klimperte mit seinen Schlüsseln in der Tasche oder schnellte die Finger der über einander gelegten Hände zusammen. Es sieht sich nicht gut an, wie Menschen, die zu einander gehören, die sich lieb haben, und die man auch lieb hat, sich an die Brust schließen und Abschied nehmen auf lange Zeit. Thut man es in eigener Person, nun das ist doch immer eine Handlung und das voll ausströmende Gefühl befreit sich selbst. Der Onkel Major, ein Graukopf doch noch immer ein Mann von martialischer Rüstigkeit, drückte und schüttelte Karl bei der Umarmung, daß beide Gestalten bis in die Wurzel wankten; es sah fast aus, als wollten sie ringen mit einander, und man konnte sich im Stillen des Gedankens nicht erwehren: wenn der Junge das aushält, ohne Verbiegung des Rückgrats, dann braucht sich der Regimentsarzt nicht zu bemühen, der junge Freiwillige darf unbesehen und ununtersucht dem Vaterlande die Militärpflicht leisten! Desto sanfter that es die Großmutter: »bin ich nicht mehr da, wenn du wieder kommst, so komm' und besuche mein Stellchen.«
»Ach, Großchen, du wirst schon noch da sein!«
Auch von den Kleinen reichte immer Eins nach dem Andern die Aermchen herauf und hielt das Mäulchen hin, um abgeküßt zu werden; dann aber ging gleich der Streit wieder los, wer dem Karl Shawl, Hutschachtel und Handtasche tragen dürfte; sie wußten sich's stets so einzurichten, daß für ihr Vergnügen noch etwas Apartes abfiel – oft auch da, wo den Uebrigen gar nicht spaßig zu Muthe. Kindern wird Alles, zumal alles Neue zum Fest.
Im Hintertreffen zeigten sich die Dienstboten. Flore, die Köchin, wischte mit der Schürze quer über ihr Gesicht, Augen und Nase wurden mit einem praktischen Diagonalzuge gleichmäßig berücksichtigt; sie hatte das Zimmermädchen vorgeschoben. Beide erhielten so gut wie jeder andere Hausgenosse einen freundlichen letzten Gruß: »Adieu, Mine ... Adieu, Flore!« Es ist immer wohlthuend, wenn in einzelnen erregteren Momenten des Lebens die Scheidewand fällt, die den nach Stand und Bildung Geringeren von uns trennt, und uns Alle ein und dasselbe rein menschliche Gefühl beseelt.
Selbst Pluto, der Haushund, schien zu wissen, was vorging; schmeichelnd rieb er die Schnauze an Karl's Knieen und ließ sich noch einmal das Fell krauen, wo er es am liebsten hatte – im Nacken, wo die Kopfhaut anfängt lose zu werden. Blos das Kätzlein war ausgeblieben und mochte dringende Abhaltungsgründe haben; als Flore wieder in die Küche zurückkam, war ihr erstes Wort der nicht freundliche Willkomm: »Katz' heraus!«
Es hatte eine Familienscene vor den vielen fremden Passagieren vermieden werden sollen, nun waren aber doch Alle mitgegangen, und da Flore wieder fortfuhr. Fleisch zu hacken, klang das sonst muntere Geräusch jetzt recht wehmüthig im einsam stillen Hause. Sie gedachte, wie Karl immer gut gegen sie gewesen, wenn er früher auch manchmal ungezogen und heftig nach Knabenart und das Necken nicht lassen konnte – wie sein abgelegter Rock »dem Jung'«, ihrem Willusch, so schön paßte – Flora war Wittwe – und wie der nun ja auch bald freigesprochen werden, auf die Wanderschaft, in die Fremde sollte. Er hatte ihr manche Sorge gemacht, wollte Anfangs nicht »Gut's thun«, der Meister mußte strenge durchgreifen, und sie war ja ganz einverstanden, bis auf eine kleine Verschiedenheit: »Liebster, bester Meister, schlagen Sie ihn, daß der Arm verlahmt, aber lassen Sie mir den Jung' nicht hungern: haue', dat de Schwart knackt, aber man zu esse' gebe'!« Das schlug denn an, das Essen, wie das Hauen, obschon nicht immer die Schwart knackte. Und so hatte sich auch an ihrem Willusch – die gute Flore erkannte es mit wahrer Rührung und innigem Danke gegen Gott – der Spruch bewährt, den sie einst in ihrer Jugend auf dem Dorfe so oft hörte: »schorfige Ferkel geben die besten Schweine.« Als »Gänsemargel« fing sie an, darauf diente sie beim Lehrer, dann beim Herrn Pfarrer, dann ... Ach, was der Mensch nicht Alles durchmachen muß! Dabei hackte und klopfte die alte treue Person immer weiter, und wie sie die Karbonade wandte – von der andern Seite Salz und Pfeffer einzustreuen, kehrten auch ihre Gedanken um, und mit der mütterlichen Empfindung verschmolz die warme Theilnahme für den Sohn ihrer »goldenen Herrschaft.«
»Gott behüt' uns' lieben guten jungen Herrn!« –
Karl aber saß jetzt bereits im dahin rollenden Eilwagen. Als man den Berg hinunter war, wo gehemmt wurde, zogen die Pferde wieder straffer an, in scharfem Trabe ging es fort, das Straßenpflaster der Stadt hörte auf, und bald war die Stelle erreicht, wo die Reisenden bei einer Biegung des Weges noch einmal mit letztem Blick den am Hügel aufsteigenden Ort überschauen konnten. Doch weiß der Himmel, wie es kam: die Luft war rein und klar – trotzdem zog es sich wie ein Nebel, wie ein schwimmender Schleier vor das Bild der lieben Vaterstadt, die einer ihrer Söhne nun lange nicht wieder sehen sollte!
Es mochte ihm wol etwas in's Auge gekommen sein.
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