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Der greise Winter saß am Kamine. Die Kinder, seine Enkel und Urenkel, Großneffen und Urgroßnichtchen waren hinausgesprungen: denn es hatte eben geschneit, und es sah schön aus, wie die fortziehenden Wolken das reine klare Blau des Himmels wieder frei gaben, und der gefallene Schnee so ruhig dalag, als freue er sich der vollbrachten Arbeit. Dem alten Manne sank das Kinn auf die Brust, mit dem nickenden Kopfe schwankten auch die Bilder der Gegenwart und ferner Jugendtage, so verschieden und doch so ähnlich, bunt durcheinander, und die letzteren gewannen mehr und mehr die Oberhand, je behaglicher sich der Alte von der Wärme des nahen Feuers durchdrungen fühlte.
Der alte Mann war wieder der Knabe im Hause seiner Eltern, wieder trug er von der Großmutter gestrickte wollene Fausthandschuhe an einem, über den Nacken bis zu den Händen herabhängenden Faden, mehr um der Form zu genügen, als um sie anzuziehen, und den alten hellgrünen »Flausrock« – der war ausgewachsen und die kurzen Aermel an den Ellenbogen blank abgescheuert bis auf das Gewebe, er mußte aber noch vorhalten bis Weihnachten. Andere Kinder kamen und riefen: »heraus, heraus, alle heraus! Der Schnee backt.« Schneemänner und Schneefestungen wurden gemacht, Schneebälle geworfen, die hie und da wie halbeingeschossene Kugeln an den Häusern kleben blieben, und ganze Schneeschlachten geliefert. Wieder war zum »Glitschen« überall die Bahn gegossen, und wäre sie nicht größer als dort, wo den wassertragenden Mägden die Eimer überliefen – denn wer gerne tanzt, dem ist leicht gepfiffen. Nirgends aber ging es besser als auf der großen Glitschbahn am Schulhofe: da waren die Matadore, die Nägel an den Stiefeln hatten und so recht forsch »schrammen« konnten, da glitten die Verwegensten in hockender Stellung hinab, und wenn Einer, fiel – hurrah! so fielen alle Anderen, die hinterdrein kamen, über ihn, und dann blos dieser Jubel und dies Gekrabbel, wenn sie sich wieder aufrappelten, weiß bepudert vom Schnee, wie im Zucker gewälzte Fastnachtkuchen, um sofort zu abermaligem Anlauf in die neu gebildete Reihe einzutreten.
Wieder nahmen die Eltern die Kinder mit im Jagdschlitten, den die muthig schnaubenden Pferde pfeilschnell durch die, mit tausend Demantflimmern bedeckte Ebene führten, oder dreiste Knaben sprangen bei einem fremden Schlitten, der ihnen in den Straßen begegnete, hinten auf und fuhren ein Endchen mit.
Wieder ist's des Knaben Stolz, die spiegelblank belaufenen Beschlageisen des Handschlittchens zu zeigen, wieder klingt das vorn angebundene Glöckchen, die Peitsche knallt – man hört es gleich am lauten Schall, es ist Aalshaut am Band-Ende – wieder sind die Hosen in die Stiefel gesteckt, und die vorgestreckten Hacken geben der Fahrt die Richtung – gut Steuern ist eine große Kunst – und bergab geht es erst langsam, dann schnell und immer schneller, daß es zittert und dröhnt, zuletzt sausend wie der Wind: »aus dem hellen, lichten Wege da!«
Und wieder ist es lustiger und leichter für die Jungen, die sich den Schloßberg »herunter lassen«, so zu schreien, als für alte Leute, rasch genug aus dem »hellen lichten Wege« zu gehen. Wieder fährt der berühmte »Schnellsegler« dem vornehmen Herrn gerade zwischen die Beine – ruck! sitzt der vornehme Herr mit auf dem Schlittchen, dessen Brett nicht größer als zwei Hutdeckel, kommt wohlbehalten, bis auf den Schreck, unten an – und beschwert sich wie jedes Jahr bei der Polizei. Wieder droht der Stadtdiener, er wird die Schlitten zerschlagen, und furchtbar klirrt der Säbel des kleinen, behaglich runden Mannes, aber die kleinen Knaben und die kleinen Schlitten, selbst der größte, der »Familienschlitten«, laufen doch flinker – obwol ohne Schleppsäbel und ohne Spitzbauch. Und ehe der vornehme alte Herr die Beschwerde aufgesetzt, sie abschreiben läßt und einreicht, ehe sie präsentirt, in's Journal eingetragen wird, und die Sache zum Vortrage kommt, ist – wo nicht der Winter, doch der Frost vorüber, und der Magistrat braucht sich mit keiner längern Verfügung anzustrengen als: »es thaut schon wieder – ad acta ...«
Da schlägt die Uhr, der alte Mann rührt sich im Lehnstuhle am Feuer, versinkt aber gleich wieder in seine Träumereien.
– Und es thaut doch noch nicht, aber es sind nicht mehr die kurzen Tage, in denen von drei bis vier Lichtchen in der Schule gebrannt werden; die immer längeren Februarnachmittage haben dafür ihre anderen Reize. Vorsichtig sind die Schlittschuhe unter dem Rocke gleich mit in die Klasse genommen, um ohne weitern Aufenthalt, sofort nach dem Stundenschluß, der Eisbahn zuzueilen, ja die Gedanken waren schon während der letzten Liedstrophe des Vespergebets voraus dorthin abgegangen. Endlich ist's soweit, die Freunde sind an Ort und Stelle, schnallen knieend die Riemen um und schlagen den Dorn in den Stiefelabsatz, daß die Krystallsplitterchen nur so stieben. Perfecte Schlittschuhläufer sind sie – wie sollten sie auch nicht? Sie haben die Kunst nach der bewährten Methode gelernt: »beide Eisen untergebunden und dann immer munter hingepurzelt, so lange, bis du laufen kannst!« Sie laufen vorwärts und rückwärts, lang oder kurz »auswerfend«, allein oder Hand in Hand, sie können »Holländern« und »den halben Mond machen«, überstapfen, blitzschnell sich umdrehen und springen im Laufe, sie spielen »Schlangeziehen« oder auf gut altpreußisch »Kopp un' Zagel«, wobei der Kopf der langen Reihe den Schweif in kühnem Schleuderschwunge herumreißt, – und dann geht es wieder gerade fort, geflügelten Laufs, mit wehenden Locken, die Wange vom Hauch der klaren Frostluft frisch geröthet, an unbeweglich eingefrornen Kähnen vorüber, zwischen breitbeinig dastehenden Brückenständern hindurch, die schlammiges Grün überzieht und noch vor Kurzem plätschernde Wellen bespülten, über famoses »Bieg'-Eis«, das man in beständigem Schaukeln wie auf fallender, steigender Woge befährt, und hie und da über verräterisches Blaseneis, auf dem der Stolpernde, wenn er doch nicht fällt, erst recht zeigt, wie geschickt er ist. Weiter und weiter geht der Lauf. Immer schwächer wird der Widerhall des Lärms der dichtgedrängten Schwärme, die weit hinten auf der abgesteckten Bahn zurückblieben: in immer weiterer Ferne ragen die Thürme der Stadt, vom Abendduft umflossen, der so eigenthümlich Rauheit mit lichtem Farbenspiel verbindet, lange Weidenreihen fliegen im Nu vorüber, jetzt säuselt die Luft im Rohr und im abgestorbenen Schilfe, und schon sind die entlegenen Weiher und kleinen Seen erreicht, mit ihrem noch von keinem Fuß berührten dunkelklaren Eise, das die ganze wunderbare Pflanzenwelt der Tiefe durchschimmern läßt. Hier wird Halt gemacht und nach kurzem Weilen der Rücklauf angetreten. Das wunderbare Schimmern und Leuchten, das die Dämmerung eines klaren Abends über die Winterlandschaft breitet, hat begonnen-, es ist, als ob die weite spiegelnde Fläche Grüße mit den Sternen wechselte, die, einer nach dem andern, am Himmel hervorkommen. Von Zeit zu Zeit knackt und kracht das Eis, den ganzen Tag hat es fest wie auf Balken gelegen, jetzt will es sich's auch bequem machen und seine Lage ändern. Oder will es den Knaben einen Schreck einjagen, daß sie durchbrechen könnten! Je lauter aber das Krachen – und manchmal klingt es wirklich wie ein gedämpfter Böllerschuß aus der Tiefe – desto mehr jubeln die flott dahineilenden Läufer, sie wissen, wie stark das Eis ist, sie haben es selbst gemessen an der einen offenen Stelle, wo die Frau aus dem Bauerhofe mit ihrer Kanne Wasser schöpfte. Und wäre auch ein wenig Gefahr dabei, es würde das Vergnügen eher erhöhen als vermindern: kein tüchtiger Schlittschuhläufer, der nicht einmal durchgebrochen – nur muß es zu Hause Niemand merken, daß man nasse Kleider hat, sonst setzt es Scheltworte mit Brustthee, oder es erfolgt gar ein Verbot, nicht mehr auf das Eis gehen zu dürfen, was empfindlicher wäre als jede andere, auch die härteste Strafe. –
Es ist vollends dunkel geworden, und der Knabe wieder zu Hause. Schade, daß es beim Studiren nicht ganz so flink zu gehen scheint, wie beim Eislaufe! Der Himmel weiß, es liegt nicht an seinem guten Willen. Eine köstliche, gesunde, doch der Behendigkeit des Geistes wenig förderliche Müdigkeit droht ihn zu übermannen. Die so leicht hüpfenden Hexameter Ovids lesen sich grausam schwer, als sei jeder Versfuß mit Blei ausgegossen. Die Hand schlägt rein mechanisch die Blätter des Wörterbuches um, und der Kopf vergißt alle Augenblicke, was eigentlich nachgeschlagen werden sollte, ja wenn er seiner Neigung folgen dürfte, und der Vater säße nicht dabei, er legte am liebsten das Gesicht, das glühend geröthet von der »ausschlagenden« Kälte, auf die über dem Buche gekreuzten Arme und schliefe ein, ohne nach Zeit und Stunde zu fragen.
Und er schlief wirklich, der – jetzt greise Winter. Er schlief und träumte, und wie gerne hätte er noch weiter geträumt von jenen glücklichen fernen Zeiten! Aber die Kohlen im Kamin waren erloschen, von denen er sein Jugendfeuer geborgt, und eben kamen die Kinder von draußen zurück, die vor der Thüre, stampfend und scharrend, die Füße abstrichen und mit ihrem Lärm und Lachen den leisen Schlaf des Alters verscheuchten.
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