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16.
Vis-a-vis.

»Die Kirchengängerin«, hieß bei den Studenten ein junges Mädchen, das man selten anders über die Straße gehen sah, als das Gebetbüchlein in der Hand auf dem Wege zur Messe. Es war ein ächt rheinisches Gesicht von jener schon an den Süden erinnernden brünetten Farbe und mit großen dunkeln Augen. Ihre wohlgebaute Gestalt verlor nicht in dem schlichten, stets sauberen Anzuge, und das einfache landübliche »Kappeshäubchen« mit ringsum gehendem breiten Flatterstrich kleidete sie besser als die meisten anderen Bürgermädchen ihre modische Stadttracht.

Veronika oder »Vrönchen« – wie sie ihr Vater, ein ehrsamer Knopfmacher und Bandwirker nannte – kümmerte sich nicht um die Studenten, so gut diese sie kannten und so viele ihr auch teilnehmend nachblickten; ja oft genug machten sie Gebrauch von dem alten Privilegium dreister Jünglinge, einem jungen Mädchen im Vorbeigehen zu besserer Orientirung recht ausführlich in das Gesicht zu schauen.

Für »Vrönchen« gab es eigentlich nur einen Studenten. Das war der still lebende junge Mann, der bei ihren Eltern im Oberstübchen zur Miethe wohnte. Wenn er nicht im Colleg war oder einen kurzen Erholungsgang machte, saß der Fleißige fast ununterbrochen über seinen Büchern und Heften. »Der bringt es zu etwas,« sagte der Knopfmacher, indem er die eingebissene Hornspitze seines kurzen Pfeifchens, das er gerne schmauchte, einen Augenblick aus dem Munde nahm, und seine Frau stimmte ihm vollkommen bei: »das soll wol sein!« Vrönchen trug dem Herrn oft sein Frühstück oder ein frugales Nachtessen hinauf. Begegnete er ihr auf dem engen Flur oder der noch schmaleren Treppe, so boten sie sich artig die Tageszeit, und manchmal an einem schönen Abend stand er auch neben ihr und ihrer Mutter, ohne Hochmuth – den kannte er nicht – ein Weilchen in der Thüre und plauderte mit ihnen, bis der Vater zurückkam, der zum Schöppchen gegangen. Hätte Vrönchen einen Bruder gehabt, der Verkehr der Geschwister würde nicht viel anders haben sein können.

Waren nun die übrigen Studenten der guten und frommen Veronika herzlich gleichgiltig, so gab es doch noch eine zweite Ausnahme, im entgegengesetzten Sinne – die Herren, welche im Hause querüber der nicht breiten Straße wohnten. Die schienen von ihren Eltern oder Vormündern auf die Hochschule geschickt zu sein, um halbe Tage lang im offenen Fenster zu liegen oder zu sitzen und Tabak zu rauchen und Ringe in die Luft zu blasen aus allen ersinnlichen Arten von Köpfen, vom einfachen braunpolirten aus Maserholz bis zum kostbaren Meerschaumkopf. Das war ein Treiben wie im Wirthshause, ein ewiges Kommen und Gehen, Thürenwerfen, Lachen und Singen mit verschrieenen Bierstimmen, oft bei rohen Trink- und Kartenspielen: » cerevisiam bibunt homines, animalia caetera fontes.« Einige der dort Verkehrenden hatten fahle Gesichter, eine Haut wie Pergament, manche trugen Schnürröcke, schwere Sporen klirrten an den hohen Stiefeln, sogenannten »Kanonen«, und die Reitpeitsche in der Hand gab ihnen das Ansehen, als seien sie in der Fakultät für Pferdedressur inscribirt. Wo diese Couleur ging und stand, waren auch stets ihre großen Doggen und Bullenbeißer, und faßten die sich mit wüthendem Zähnefletschen, Knurren und zufahrendem Beißen, so traten die Renommisten im Kreise herum oder sprangen auf Stühle, Bänke und Tische – wenn es im Zimmer geschah – mit der ernsten Miene von Kampfzeugen. Eine »Hundepaukerei« hatte nicht viel geringere Wichtigkeit für sie, wie wenn die Herren selbst aneinander geriethen. Der Lärm währte mitunter bis tief in die Nacht, nachdem schon der Pedell erschienen, und im Namen »des Akademischen« an die Ruhestunde erinnert; aber der Jubel ging dann erst recht los beim – »Ueberkneipen«, falls nicht etwa Streit entstand, droben im Zimmer selbst oder mit andern vorüberziehenden wüsten Gesellen, die »Fuchs, Licht aus!« brüllten. All das hallte aber nur wie Mißklänge eines häßlichen Traumbildes in Veronika's stilles Schlafkämmerlein. Und von der schauerlichen Scene, welche die wilden Burschen eines späten Abends aufführten, hat das gute Kind sicher nie etwas erfahren. Sie hatten auch commersirt – in ihrer Art. Eben waren die Versammelten auf den Ordnungsruf » ad loca, ad loca!« zu ihren Plätzen zurückgekehrt, so war schon wieder ein neuer Aufstand. »Musik – wurde geschrien – Musik, Musik ... die Musik muß voran!« Die Spielleute gehorchten der Weisung, obgleich die meisten dieser Künstler auch bereits »schwer zu werden« anfingen. Sie bliesen im Tempo eines Trauermarsches: »und ist dann einer unter uns geschieden«. Der Zug, nothdürftig geordnet, setzte sich in Bewegung, hinaus nach dem Hofe. Lichter flackerten in wehender Nachtluft. Ein Unglücklicher wurde zur letzten Ruhestätte geleitet, der als krasser Fuchs die Vermessenheit gehabt, durch die verkehrt aufgesetzte Mütze anzukündigen, er wolle »auf der scharfen Ecke« sitzen. In Folge dieses todesmuthigen Entschlusses hatte er nun die Pflicht, immer nur ganz volle Gläser auf einmal auszutrinken. Er erlag bald, und man trug ihn hinüber nach der »Todtenkammer«. Die düstere Räumlichkeit extemporirte aber nur die Schrecken des Orkus, für gewöhnlich war es ein Abschlag vom Holzstall. Nachdem der Leiche aus die offene Brust mit einem verkohlten Korke die Figur des Pythagoräischen Satzes gezeichnet worden – als das Symbol der Lehre vom rechten Maß in allen Dingen – wandte sich der Grabredner zum Schluß mit eindringlicher Mahnung an die Ueberlebenden: »Freunde, mir thun am meisten die armen Eltern leid! ... Doch wir, die wir keine schwachen Köpfe wie die jungen Puten haben, wollen fidel durchkneipen, bis daß es Tag ist! Denn allerdings lehrt die Moral: der Trunk ist ein Laster, aber ein süßes! Viel ärger der Geldgeiz, den wir nun noch zum Gegenstand unserer Betrachtung nehmen. Erstens: was nutzt der Mammon, den ich nicht habe – zum andern: was nutzt er, wenn ich ihn habe und nicht ausgebe – drittens: was nutzt der Mammon, der schon wieder flöten gegangen? Der edle Mensch braucht wenig baar hienieden, wenn gepumpt wird bis in die Pechhütten.« –

Veronika wünschte Niemand Böses. Allein als es ruchbar wurde, daß Rektor und Senat der ganzen Brüderschaft den nicht abzulehnenden Rathschlag ertheilt, ihre segensreichen Studien auf einer andern Universität fortzusetzen, freute sich die liebe Kleine aufrichtig, auf diese Weise das lästige vis-à-vis los zu werden. Gewarnt waren die Herren längst, oder nach ihrer eigenen Redeweise, fast alle hatten bereits das » consilium unterhauen«. Den letzten Stoß gab ihnen ein Tanzvergnügen. Das Vergnügen, das Bürger und Bürgersöhne veranstaltet, fing denn auch mit Tanz an, endete aber damit, daß dem Kleidermachermeister Herrn Piep, einem Oheim Veronika's, am lebendigen Leibe das Rückentheil seines Bratenrocks mit einem Ritsch! aufgerissen wurde, von der Taille bis zum Kragen, als sollte er geviertheilt werden. Daß es keine ganz sanfte Tour gewesen sein kann, bei der das Unglück geschah, liegt auf der Hand.

Durchaus aber begriff Veronika nicht, was die Frau Nachbarin meinen konnte, als sie mit schlauem Seitenblick zu ihrer Mutter sagte: »wer weiß, ob nicht noch Schlimmere einziehen? denn die Schlimmsten sind oft weniger zu fürchten als die Guten!«

*

 


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