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Einige Zeit, nachdem sich die wüste Gesellschaft drüben aufgelöst, die früheren Einwohner mit Saus und Braus abgezogen und in den Zimmern menschliche Ordnung wieder hergestellt, hielten zwei neue Herren ihren Einzug. Die lebten auch flott, waren auch stets heiter und guter Dinge, aber das war doch eine ganz andere Art Heiterkeit. Es schienen recht artige junge Herren zu sein. An die sollte sich unser stiller Studiosus anschließen, dachte Vrönchen. »Es ist gewiß sehr lobenswerth, daß er so fleißig arbeitet, aber ein erlaubtes Vergnügen könnte er sich ab und zu gönnen. Wenn er mal verheirathet ist, und er sitzt dann auch immer wie festgeheftet und liest und schreibt von früh bis spät, das wäre für die Frau nicht sehr angenehm.« Die kühle Ruhe, mit der dieser ganz erklärliche Gedanke an Veronika's Seele vorüberzog, war wol der beste Beweis, daß das Bild des jungen Menschen in ihrem Herzen noch keine allzu bevorzugte Stelle einnahm.
Was aber ihr neues vis-à-vis betrifft, so bestärkte sich Vrönchen mehr und mehr in der Ansicht, es seien zwei sehr artige junge Herren. Aber merkwürdig! So gerecht dieses freundliche Urtheil war, es erhielt in seiner häufigen Wiederholung nach und nach etwas Beunruhigendes für ihr zartes Gemüth. Sie ging jetzt noch häufiger in den Dom und hielt vor dem Muttergottesbilde kniend die gefalteten kleinen Hände unter noch inbrünstigerem Gebet an ihre klopfende Brust, die sanften Züge zeigten den gleichen, rührenden Ausdruck der Unschuld wie früher – ach und doch war es anders wie früher! Nichts Arges hatte Veronika sich vorzuwerfen – dennoch ward ihr nun erst klar, wie recht der Herr Kaplan hatte, der nicht abließ, die niederdrückende Lehre einzuschärfen, des Menschen Natur sei schlecht von Grund aus. Gestärkt und erhoben, mit den besten Vorsätzen, kam die Kirchengängerin dann nach Hause, setzte sich still hin, kehrte dem Fenster den Rücken, sah nur auf ihre Arbeit und bemühte sich an lauter sehr verständige Dinge zu denken. Aber der sechzehnjährige Mädchenverstand ist, so zu sagen, durchsichtiger Arbeit, wie das Zeug der Stickerei, welche Vrönchen für einen Laden zu liefern hatte: es blicken durch seine fein gewebten Maschen oft noch andere artige Dinge hindurch, als die ihn zunächst beschäftigen. Es that zu wohl, es drang Vrönchen so warm zum Herzen: nur noch ein einziges Mal hinüber zu schauen, was sollte das wol schaden! Aber dann auch nie wieder; im ganzen Leben wollte sie es nicht mehr thun, sie wollte sich gründlich bessern, wenn sie nur noch dies eine, einzige Mal Gewißheit darüber hatte, ob er auch wieder nach ihr hinüberblickte. Das Köpfchen drehte sich – eigentlich ganz von selbst, ohne abzuwarten, wie der Streit der Neigung mit Scham und Gewissensbedenken enden würde; die langen, seidenweichen Wimpern schlugen auf – und ... Ach, er war es ja gar nicht einmal! Der Andere der beiden Herren lehnte nachlässig an der Fensterbrüstung – der, welcher sich immer so verwegen die Locken hinter das Ohr strich. Vrönchen mochte ihn auch wohl leiden, trotzdem fürchtete sie seinen Blick. Und da dies kein Anderer als unser guter Karl war, so geht deutlich genug daraus hervor, daß er inzwischen seine ehemalige Schüchternheit vor Mädchen so ziemlich abgelegt. Aber sein Stubenbursche, der blonde im Sammtrock – o der hatte so etwas Zutrauen Erweckendes, etwas so Gütiges im Blick! Lustig waren beide, doch er konnte am herzigsten lachen. Und daß er fest und stark, verstand sich bei einem Manne ja von selbst, auch wenn der Fechtmeister, der zuweilen bei Veronika's Eltern vorsprach, nicht gesagt hätte: »ja, der sieht aus wie eine Jungfer, aber er schlägt 'ne Klinge – 'ne Klinge, Vrönchen! Das ist der erste Schläger auf der ganzen Universität!«
Karl stand am Fenster und pfiff die Melodie: »Röslein, Röslein roth – Röslein auf der Haiden!« – So schöne Weisen sollte man nie pfeifen! Vrönchen mißfiel es, und plötzlich brach das Pfeifen in einer zerstreuten achtlosen Manier ab.
»Du – wenn wir noch gehen wollen, ist es die höchste Zeit!«
»Ich kann noch nicht, ich bin mitten in der Arbeit. Aber geh' doch voran, wir treffen uns auf der Kneipe.«
»Gut, sagte Karl – ich möchte den Sonnenuntergang nicht gern versäumen, er wird schön,« streifte den Rock über, warf das Käppchen auf den Scheitel und ging. Er mochte die Thüre wol etwas zu heftig in's Schloß fallen lassen. Das kleine hübsche Vrönchen bebte sichtlich, wie der harte Schall ankündigte – der Blonde war nun allein.
Der aber arbeitete ruhig weiter und schien kaum Acht zu haben, wie drüben die niedliche Hand Nadel und Faden emsig und ohne Unterlaß auf- und abführte. Jetzt fiel ein rosiger Schein auf das Blatt vor Hermann, er stand auf, um hinaus zu schauen. Goldig angeglühte Wölkchen, wie Engelsflügel, schwebten am Himmel. Karl hatte Recht gehabt. Aber Hermann's Auge kehrte rasch wieder zurück, nur – nicht – nicht ganz bis zur Erde, es blieb in mittlerer Richtung haften, als wollte er den Weg nivelliren zur Herstellung einer neuen, dem gesteigerten Bedürfniß entsprechenden Verbindung zwischen den beiden gleich hohen Stockwerken der gegenüberstehenden Häuser.
»Ach, der Gute!« dachte Vrönchen. »Er kann gewiß keinem Menschen böse werden. Wen er einmal lieb hätte, lieb für das ganze Leben – wie glücklich müßte die sein!« Und die liebe kleine Veronika legte vorsichtig den Finger auf ihren süßen Mund, als ob sie sich zu strengstem Stillschweigen verpflichtete, diesen an sich nicht feindseligen Gedanken um Himmelswillen nicht zu verrathen. Der Gute aber empfand den holden Trieb, das stolze Erzeugniß seiner Oberlippe, ein Stutzbärtchen von bescheidenen Dimensionen, zu zupfen und zu wirbeln, daß die von Hause aus, nach Art der Jünglingsbärte, schmiegsam weichen Härchen sich an beiden Enden scharf und spitz zusammendrehten. Da sagte Veronika's Mutter, die eben in das Zimmer gekommen: »Lege die Arbeit fort, du verdirbst dir nur die Augen, und machte das Fenster zu – es wird kühl!« Die Tochter fand nicht, daß es kühl würde, aber als gehorsames Kind folgte sie ohne Zögern.
Hermann dagegen schien die Ansicht der Mutter zu theilen und gleich ihr eine Abnahme der Temperatur wahrzunehmen. Als er die brave Frau erblickte, schloß auch er drüben das Fenster, blieb indessen noch eine Weile daran stehen, wie in tiefem Sinnen. Dann hob sich seine Hand und fuhr mit der Spitze eines Fingers an der Scheibe hin, wie um einen Namenszug anzudeuten. Wahrscheinlich wird es das Zeichen seiner Verbindung gewesen sein, wie ja die Mitglieder studentischer Vereine diese Zeichen, die aus einigen verschlungenen Buchstaben bestehen, überall anzubringen pflegen, wo sie hin gehören, und wo sie nicht hin gehören.
Wie schnell sich doch unter Umständen die Meinungen ändern! Vrönchen, die noch eben nicht der Mutter Abneigung gegen die erquickende Abendluft begriff, überzeugte sich jetzt mit einmal, wie sehr die Mutter Recht hatte, ja sie machte die noch feinere Wahrnehmung, daß die Fenster ordentlich beschlügen, und ihr Händchen glitt über die Scheibe, ganz so wie Hermann gethan, um sie wieder klar abzuwischen ... Oder weßhalb sonst? Sie konnte doch nicht auch ein Zeichen – der Verbindung machen wollen!
Bald darauf wurde Licht angezündet und der Vorhang heruntergelassen von der Mutter.
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