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Neunundzwanzigstes Kapitel.
Erlösung.

Die Stadt Wittenberg hat keine gesunde Lage. Die Dünste, welche der weiten, breiten Elbniederung entsteigen, mögen vielleicht dem Gras der Auen förderlich und den Rohrdommeln dienstlich sein – den Menschen sind sie um so unzuträglicher, Und der Wallgraben, welcher hart um die Stadt läuft, thut auch sein Möglichstes, die Luft zu verderben – in frühern Zeiten natürlich noch kräftiger, als heutzutage.

Mehrere Male, so lange Luther in Wittenberg wohnte, war neben andern Seuchen und epidemischen Krankheiten die Pest eingefallen und hatte schrecklich gehaust; im Sommer des Jahres 1552 kam sie noch einmal und abermals mit grausamem Wüten.

Wieder war es wie allemal: der Würgengel hatte zwei Vorreiter und Wegbereiter: die Angst und den Schrecken. Die Menschen hatten nichts gelernt, die Erfahrung hatte sie nicht gewitzigt. Man hätte sich doch erinnern sollen, daß Angst und Schrecken die wirksamsten Helfershelfer der Krankheit seien, und daß man sich am besten schütze durch ein ruhiges, gefaßtes Gemüt. Aber wenige nur waren von der erforderlichen Seelenruhe und Festigkeit des Herzens, so daß der Seuche wieder reichliche Opfer fielen. Auch das war abermals die entsetzliche Folge derselben, daß in der allgemeinen Not die Liebe erstarb und die Selbstsucht in ihrer abschreckendsten Gestalt hervortrat. Die Kinder konnten ihre erkrankten Eltern allein liegen und ohne Hilfe elendiglich sterben lasten; die Totenknechte konnten hartherzig an einem Leichnam vorübergehen und ihn unbeerdigt lassen; auch half der Aberglaube mit seinen sinnlosen Zaubertränken nur zu reichlicherem Sterben, und der Neid trug in teuflischer Verworfenheit den Krankheitsstoff in die noch unberührten Häuser.

Viele Bürger suchten das Heil in der Flucht, und der Verkehr fing an zu stocken. Auch die Universität lag still und öde, denn vom Kurfürsten war der Befehl gekommen, nach Torgau überzusiedeln.

Katharina war es von ihrem seligen Gatten noch gewohnt, in ruhigem Vertrauen sich dem Herrn zu befehlen und zu helfen, so viel sie vermochte. Gott gab ihr Gelegenheit, feurige Kohlen zu sammeln auf das Haupt vieler, die kein Herz für sie gehabt hatten, da es ihnen ein Leichtes gewesen wäre, ihr zu helfen in der Not.

Fünf Wochen hatte der Würgeengel in der Stadt sein Wesen gehabt und war an Katharinas Hause schonend vorübergegangen. Da kehrte er auch bei ihr ein, indem er zwei der Kostgänger jäh dahinraffte. Auch jetzt noch fürchtete sie sich nicht, wenigstens nicht für sich selbst – hatte sie doch Lust abzuscheiden, um bei Christo zu sein und ihrem lieben Herrn Doktor; jedoch um ihre Kinder war ihr bange, und um sich ihnen zu erhalten, um an ihnen noch die Mutterpflichten zu erfüllen, faßte sie endlich den Entschluß, die Stadt zu verlassen und sich ebenfalls nach Torgau zu begeben.

Nach ihrer raschen Art folgte dem Entschluß die Ausführung auf dem Fuß. Eines Morgens hielt ein großer Wagen, mit Segeltuch überspannt, vor der Thür des Lutherhauses, der nahm das notdürftigste Gerät auf und die Witwe mit ihren Kindern (außer dem noch in Königsberg studierenden Johannes).

Mit Wehmut hafteten Katharinas Augen auf der Stätte, da ihr an der Seite des Gatten so viel Glück und nach seinem Hinschied so viel Leid widerfahren war. Es hängt der Mensch mit tausend Fäden an der Heimat, und nicht die Freude allein, sondern auch die Trübsal, die er erfuhr, übt die magnetische Kraft, die ihm das Scheiden schwer macht.

Es war der Katharina über die Maßen traurig zu Sinn. Sie meinte, sie müsse bleiben, sie dürfe die Stätte nicht lassen, zu der sie gehörte, sie könne anderwärts sich nicht mehr anwurzeln. Heiße Thränen rannen ihr von den Augen, und zaudernd stand sie an der offenen Hofthür, bis der Fuhrmann ungeduldig ward und mit fast harten Worten zum endlichen Aufbruch mahnte, zumal auch die Pferde unruhig wurden und mürrisch am Gesträng rissen.

Der Weg ging durch das Elsterthor an dem Garten vorbei, dessen dichtes grünes Strauchwerk die Witwe an so manches trauliche Stündlein erinnerte, das sie im Kreis der Ihrigen hier hatte verleben dürfen. Dann tauchte in einiger Entfernung von der Landstraße das Brunnenhäuslein auf, in welchem ihr seliger Herr mit seinen Freunden so gerne geweilt und in heiterer Zwiesprach wie in ernster Arbeit gesessen hatte. Es war ihr, als nähme sie Abschied von dem Leben, als diese Zeugen ihres vergangenen Glücks hinter ihr verschwanden.

Sie versank in dumpfes Träumen, und die Kinder, welche ihre inwendigen Gedanken aus ihrem Gesicht lasen, wagten nicht, sie zu stören, wagten nicht einmal zu schluchzen, so schwer ihnen auch das Herz war. Nur der Fuhrknecht hatte kein Gefühl für ihre Not und fluchte in allen Tonarten auf die Gäule drein, die heute gar nicht gehorchen und sich zu ruhigem Schritt gewöhnen wollten. Manchmal prallte der eilende Wagen gegen einen im Weg liegenden Stein, daß alle Insassen erschreckt zusammenfuhren.

Auch die in sich versunkene Katharina wachte endlich aus ihrem Brüten auf und sah mit Ängsten auf die immer wilder werdenden Pferde.

Als man an einem Dorfe vorüberkam, lief ein Hund daher und bellte den Pferden nach. Da war der Knecht nicht mehr im stande, sie zu zügeln. Sie wurden scheu und rasten mit Pfeilgeschwindigkeit die Landstraße dahin.

Die Katharina überfiel eine Todesangst. Sie wußte selbst nicht, was sie that, als sie plötzlich aufstand und vom Wagen sprang. Das geschah an der unglücklichsten Stelle, die sie hätte wählen können: es war hier gerade ein sehr hohes Ufer und ein Wassergraben daneben. Die Herabspringende schlug hart gegen einen Stein und glitt das Ufer hinab in den Graben.

Mit Hilfe eines herbeigeeilten Bauern gelang es dem Fuhrmann, die Rosse zum Stehen zu bringen, und nun wurde die Unglückliche aus dem Wasser gezogen, der es wegen der erfahrenen Betäubung nicht möglich gewesen war, sich aufzurichten.

Man hob sie durchnäßt auf den Wagen, und die Kinder suchten durch aufgelegte Kleider die Fröstelnde zu erwärmen.

Nach zwei Stunden kam man endlich in Torgau an. In einem Haus auf der Schloßgasse unweit der Klosterkirche war ihr Quartier bestellt worden. Der Hauswirt war ein Freund Luthers und ein braver Mann, Kaspar Grünewald mit Namen. Von ihm kann man rühmen, was einst der Herr der Magdalena zum Lob sagte: Er hat gethan, was er konnte. Es war ihm wie eine Dankesschuld, die er dem Heimgegangenen Freunde abtrug, daß er der Witwe desselben in seinem Haus ein Unterkommen gab und in der treuesten Pflege mit ihren Kindern wetteiferte.

Katharina mußte sofort zu Bett gebracht werden: der Schreck und die Erkältung unterwegs hatten sie entkräftet und ihr ein hitziges Fieber zugezogen.

Der zu Rat gezogene Arzt schüttelte bedenklich den Kopf, und auch er that, was er konnte, den schwachen Lebensfunken wieder anzufachen. Es war, als wetteiferte jetzt alles, der Witwe des göttlichen Segenspenders die versäumte Liebe nachzuholen und den erwiesenen Undank zu vergüten.

Und der Kranken that es wohl. Ihr Mund floß über von herzinniger Danksagung, und wo ihr die zunehmende Leibesschwäche die Kraft zum Reden versagte, da sprachen die Augen mit ihren stillen Thränen und die Hände mit ihrem stummen Druck.

Auf ihren Wangen blühten die schönsten roten Rosen, und in durchsichtiger Lilienweiße schimmerte die Haut. Man hielt sie gar nicht für krank; man meinte auch, sie habe nie in ihrem Leben schöner ausgesehen. Dazu leuchtete aus ihren Augen ein ganz eigner Glanz, und ihr ganzes Wesen hatte so etwas Sanftes, Weiches, Friedliches und Himmlisches bekommen, daß man sich in ihrer Nähe angeweht fühlte wie von der Lust der zukünftigen Welt. Auch waren ihre Gedanken jetzt mehr droben als auf der Erde. Sie sprach viel von ihrem seligen Gatten, nicht allein im Wachen, sondern auch im Traum, ja manchmal redete sie mit ihm, als stände er gegenwärtig bei ihr. –

Der Winter kam mit seinen Schneeflocken und Eisblumen, mit seinen langen Nächten und der stillen, ahnungsreichen Adventszeit. »Nun komm, der Heiden Heiland«, sang es in den Kirchen, und auf den Straßen wiederholte es unter den Fenstern der Bürger die Kurrende.

Die Kranke vernimmt die fröhlichen, lieblichen Klänge, und ihre Wangen röten sich höher, ihre Augen leuchten seliger – sie singt leise mit: »Nun komm, der Heiden Heiland!« Dann falten sich ihre Hände, und wie von neuer Kraft erfüllt betet ihr Mund: »Herr, mein Heiland, du stehest vor der Thür und klopfest an. O komm herein, du werter Gast, dessen meine Seele mit Schmerzen harret! Denn ich habe Lust, abzuscheiden und bei dir zu sein, welches auch viel besser wäre. Ach, nur ein selig Ende gieb mir und einen sanften Hinschied aus diesem Jammerthal! Laß dir auch meine armen Kinderlein zu Gnaden befohlen sein, daß ihr keines verloren gehe, sondern alle zumal dereinst vor deinem Thron erscheinen und mit uns im Verein selig deinen Ruhm verkündigen. Ach Herr, siehe auch gnädiglich an deine arme Kirche, daran der Papst und alle Gottlosen reißen und wüten, daß das Licht der evangelischen Wahrheit wieder erlösche, so du durch deinen Knecht, den seligen Doktor Martinus hast lassen aufgehen in den deutschen Landen. Laß dich erbarmen aller, so um das Evangelii willen Schmach und Verfolgung leiden, und stärke sie zu rechtem Mut des Bekenntnisses, auf daß dein Name durch sie verherrlicht werde. Lob und Preis sage ich dir auch, daß du des lieben, frommen Kurfürsten Not angesehen und sein Gefängnis endlich gewendet hast, daß man schon auf Erden an ihm sehen mag, wie du zu Ehren bringest die, so um deines Namens willen geduldet und dich bekannt haben vor den Menschen. Ich bitte dich, du wollest ihm ein stilles, friedliches Alter bescheren und ihn dereinst seliglich heimnehmen. – Ach, du lieber Herr, ich danke dir auch jetzund für alle Trübsal, dadurch du mich geführet, damit du mich zu deiner Herrlichkeit hast bereiten wollen. Du hast mich nie in meinem Leben verlassen noch versäumet, du hast mir allezeit dein Antlitz leuchten lassen, und wo ich zu dir rief, da antwortest du mir von deinem Heiligtum. Siehe, so will ich auch jetzo deine Hand erfassen und wie Jakob sprechen: Herr, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Ich will an meinem Herrn Jesu kleben bleiben, wie eine Klette am Kleid. Amen. Ach hilf, lieber Herre Gott! Amen.«

Sie hatte diese Worte mit mehrfacher Unterbrechung leise gesprochen. Jetzt ward sie still und lag erschöpft mit gefalteten Händen, die Augen weit aufgethan und nach oben gekehrt, als warte sie des kommenden Herrn.

Die Umstehenden wagten sich nicht zu bewegen, von aller Lippen flüsterte stilles Gebet.

So gingen mehrere Stunden hin, und die Nacht fiel herein.

Es wurde Licht geschlagen und im Ofen frisches Feuer gemacht, denn es war ein bitter kalter Tag, der zwanzigste Dezember des Jahres 1552.

Als der Seiger die neunte Abendstunde schlug, sah sich die Mutter nach ihren Kindern um, deren Angesicht von dem vielen Wachen und Seufzen und Härmen ganz fahl und verfallen war. »Ach möchtet ihr nicht schlafen und ruhen, meine herzgeliebten Kinder?« fragte sie mit leiser, kaum vernehmlicher Stimme. »Siehe, ich bin auch müde.«

Damit wandte sie sich, von dem Gretchen unterstützt, nach der Wand herum, schloß die Augen und atmete ganz ruhig.

Schweigend saßen die Kinder um das Lager her und hüteten der Mutter süßen Schlummer, noch einmal in ihrem Herzen der Hoffnung Raum gebend, es könne ein Schlaf der Genesung sein. So verging wohl eine Stunde.

Da erhob sich Margarete, schlich auf den Zehen zu dem Bett und beugte sich über ihr Mütterlein. Sie lauschte und lauschte – da war kein Atem mehr zu hören: die fromme Dulderin war längst daheim bei ihrem Herrn.

 

Halle a. S., Buchdruckerei des Waisenhauses

 


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