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Drei Jahre waren dahingegangen. Zu dem Verlust des Kindes war noch ein anderer harter Schlag gekommen, der an den Herzen riß: bald nach dem Lenchen war auch Frau Katharina, Justus Jonas' Ehewirtin, Käthens trauteste Freundin, heimgegangen, jene edle Frau, von welcher Luther gehofft hatte, sie werde seiner Witwe einmal Zuflucht, Trost und Stütze sein. Dieser neue Schlag auf die noch offene Wunde hatte die Gebeugten noch tiefer erschüttert, daß des Seufzens viel war und Luthers Haus ein rechtes Klagehaus. – Nun aber hatten die Wunden ausgeblutet, der wilde Schmerz war still geworden und hatte sich in sanfte Wehmut gelöst.
Viel aber hatte zu diesem Stillewerden die Ruhe und der ländliche Frieden Zulsdorfs beigetragen, wohin sich die beiden Ehegatten in dieser Zeit wiederholentlich geflüchtet.
So klein und bescheiden auch dieser Landsitz war – für des großen Mannes Anspruchslosigkeit war er doch ein Paradies und für Katharinas Genügsamkeit ein Königreich. Wohl hatte ihre Baulust manchen Strauß auszukämpfen mit der Unredlichkeit der kurfürstlichen Beamten, die bei den Lieferungen von Baumaterialien ihren Vorteil zu ziehen wußten, doch wurde alle diese Unannehmlichkeit reichlich ausgewogen durch die Annehmlichkeit, die ihr sonst der Reiz des Landlebens bot.
Auch heute wieder finden wir sie in ihrem »Reich« und das Gretchen bei ihr. Sie legt eben die letzte Hand an die Umkränzung der Hofthür, während die Tochter beschäftigt ist, den Weg mit weißem und gelbem Sand zu bestreuen.
Es ist ein wunderschöner Julimorgen. Die Natur lacht in ihrer wonnigsten Pracht, das Feld duftet, die reine Luft erschallt von all dem Singen der Vöglein und der Grillen, die ganze Welt atmet frei im Vollgefühl des Lebens.
»Nun mögen sie kommen!« ruft Katharina dem Gretchen zu, und ihre Augen schweifen sehnend in die Ferne.
Doch es verging Stunde auf Stunde, und die Sehnsucht der Erwartung blieb ungestillt.
Erst am Nachmittag, als Katharina gerade in dem Garten beschäftigt war mit Stachelbeeren pflücken, gab es ein Geräusch, und kurz darauf fuhr ein Wagen in den Hof ein, von welchem Katharina ihrem Gatten und dem Johannes herunterhalf.
»Gelobt sei Gott!« rief Luther, tief aufatmend, nachdem die Begrüßung ihr Ende erreicht. »Gelobt sei Gott, daß wir hier sind! Mir ist es wie einem Schiffer, der aus dem wilden Meer in den stillen, sichern Hafen eingelaufen ist. Ach du mein lieber himmlischer Vater, ich danke dir, daß du mir auch einen Hafen zugerüstet hast. Deine Gnade bleibet über mir bis an das Ende.« –
Er schaute recht trübe drein, der liebe Doktor, auch war sein Gesicht recht bleich und angegriffen.
Nachdem er sich durch ein Glas frische Milch und Schwarzbrot gestärkt, nötigte er sein Weib neben sich auf die Ruhebank, aus drei Brettern roh zusammengezimmert, die er sich auf des Arztes Rat hatte herrichten lassen.
»Gehet jetzund ein wenig hinaus, meine Kinder«, sagte er zu Johannes und Margarete, »denn ich bedarf der Stille.«
Als die beiden sich Arm in Arm entfernt hatten, faßte Luther seiner Käthe rechte Hand und schaute sie mit einem langen, bedeutsamen Blick an, daß es dieser etwas beklommen ums Herz ward. »Mein liebes, gutes Weib«, hob er nach einer Pause an, »ich habe dir viel zu sagen und einen Entschluß kund zu geben, darüber du wohl erstaunen magst. In Wittenberg ist meines Bleibens nicht fürder, ich habe die Stadt gesegnet, darinnen ich nahe an siebenunddreißig Jahre gewirket und gearbeitet.«
»Herr Doktor!« fuhr Katharina betroffen auf.
Luther beschwichtigte sie und fuhr fort: »Wohl ist mir solche Entschließung schwer geworden, aber es muß also sein. Mein Herz ist erkaltet, daß ich nicht mehr mag bleiben in einer Stadt, da des unordentlichen Wesens immer mehr wird und niemand meiner Stimme mehr achten will, da die Theologen nicht mehr fest stehen und eine Spaltung drohen, da weiter unter dem jungen Volk das alte Schwelgen und liederliche Leben hervorbricht, da die fahrenden Frauen wieder in Haufen zuströmen, auch die ehrbaren Mägdlein sich üppig kleiden und unzüchtig die Brust blößen, da auch die Juristen des bösen, unordentlichen Wesens Helfer sind durch Begünstigung der heimlichen Verlöbnisse. So wollte ich auch, du verkauftest Garten und Hufe, Haus und Hof nebst allem, das wir zu Wittenberg besitzen, und es wäre dein Bestes, wenn du allhie zu Zulsdorf verbliebest, dieweil ich noch lebe, so könnte ich dir mit meinem Sold wohl helfen, das Gütlein zu bessern, denn ich verhoffe, mein gnädiger Herr werde mir den Sold nicht weigern, bis ich sterbe. Nach meinem Tod werden dich die vier Elemente in Wittenberg doch nicht wohl leiden. Darum wäre es besser bei meinem Leben gethan, was gethan sein will. Ach, auf der Fahrt hieher habe ich mehr gehört, denn ich zu Wittenberg selbst erfahren, darum ich der Stadt müde bin und nicht wiederkehren werde, so mir Gott helfe. – Übermorgen werde ich nach Merseburg fahren zu dem lieben Fürsten Georg von Anhalt, so gegenwärtig der Administrator des Bistums ist und über die Maßen treu erfunden wird in seinem Amt, denn er nicht bloß den äußerlichen Dingen seines Regiments mit Fleiß oblieget, sondern auch des Sonntags auf die Kanzel steiget und prediget. Will also umherschweifen und lieber das Bettelbrot essen, ehe ich meine armen, letzten Tage mit dem unordentlichen Wesen zu Wittenberg martern und verunreinigen will mit Verlust meiner sauern teuern Arbeit. – Noch wissen sie in der Stadt nichts von meinem Entschluß, denn mir solcher erst unterwegens gekommen ist. So will ich hernach an Bugenhagen und den Magister Philippus schreiben, daß sie es der Stadt und Universität kund thun.«
Katharina hatte sich während dieser Mitteilung immer näher an ihren Mann geschmiegt und mit immer fröhlicheren Augen ihn angeschaut. Jetzt drückte sie seine Hand und preßte sie an ihre Brust. »Herzliebster Herr Doktor, welch eine Freude bereitet Ihr mir! Siehe, längst schon hat mir dieser heimliche Wunsch im Herzen gelegen, daß wir möchten für immer hier bleiben, wo es so stille ist und Gottes Frieden waltet. Doch ist in meiner Freude ein Fürchten und Zagen, daß man Euch die Ruhe nicht lassen wolle und Euch wieder zurückfordern in das Leid und den Streit.«
»Sorge nicht, liebes Weib«, versetzte Luther. »Es gehe, wie Gott will. Und nun will ich mich sogleich ans Schreiben geben.«
Er ließ sich Papier, Tinte und Feder bringen und gab nach einer Stunde zwei Briefe dem zurückkehrenden Fuhrmann mit. –
Es folgten nun drei stille, glückliche Tage. Wohlthätig wirkte die ländliche Abgeschiedenheit auf Luthers müden Leib. Mit Interesse sah er die Verbesserungen an, welche Käthe in ihrem »Reich« mit großem Geschick vorgenommen hatte, mit Lust und Wohlgeschmack aß er von den selbst geernteten Früchten, und sein Gemüt erheiterte sich wieder, daß er gar anfing zu scherzen und mit seinem »Herrn« Käthe manche neckische Rede zu führen. Viel Freude machte ihm auch die Biederkeit und Zutraulichkeit der Arbeiter, mit denen er in ihrer Sprache redete, und die durch solche Leutseligkeit hoch beglückt auch alle Scheu verloren vor dem Mann, von dem sie wußten, daß er mit Königen und Fürsten umging.
Nach etlichen Tagen fühlte er sich so frisch, daß er sich getrosten Mutes auf das Wägelein setzte, welches ihm Fürst Georg von Merseburg herüber geschickt hatte. Ja mit Freuden zog er mit dem fürstlichen Administrator am 2. August nach Halle, wo derselbe durch seine Hand die Ordination empfangen sollte, hielt auch in der Domkirche unter großem Zulauf des Volkes eine Predigt und begab sich dann nach Leipzig, wo man mit Sehnsucht seiner wartete, um aus seinem Mund das Evangelium zu hören.
Als er darauf nach Zulsdorf zurückkehrte, fand er seine Käthe in Thränen. Wieder einmal hatte sie ihre Ahnung nicht betrogen. Sie trat ihrem Gatten entgegen mit den Worten: »Ach liebster Herr Doktor, unsre Freude ist aus: gestern ist ein kurfürstlich Schreiben eingelaufen, daraus Ihr alles ersehen werdet.«
Luther flog mit den Augen über den Brief und las darin des Kurfürsten Schrecken und Trauer über seinen Entschluß, Wittenberg zu verlassen. Der hohe Herr gab die heiligsten Versprechungen, mit seinem landesherrlichen Ansehen dafür einzustehen, daß die Ursache der Klagen Luthers, deren Berechtigung er anerkannte, beseitigt würde, und beschwor den Flüchtling mit den inständigsten Worten, von seinem Vorhaben abzustehen, zumal dasselbe auch noch weitere üble Folgen nach sich ziehen würde, indem Melanchthon sich geäußert hätte, er könne ohne seinen Martinus nicht allein in Wittenberg bleiben, sondern müsse sich verkriechen.
Luther hatte den Brief kaum fertig gelesen, da entstand draußen auf dem Hof ein Geräusch, und als er eben zur Thür hinaus wollte, traten ihm Melanchthon und der Bürgermeister von Wittenberg, Ambrosius Reuter, entgegen. Die gaben zu dem Brief des Kurfürsten die Fortsetzung und machten's noch viel dringlicher mit Bitten und Beschwören.
Da vermochte Luther nicht länger zu widerstehen. »Wie Gott will!« sagte er ergeben und sah mit einem beschwichtigenden Blick sein Weib an, das mit Thränen in den Augen am Fenster stand. –
Wie ein Triumphzug war's, als am 16. August Luther auf einem reich mit Blumen und Kränzen geschmückten Wagen des Rats an der Seite seines Weibes und seines ältesten Sohnes zum Elsterthor einfuhr. Die besseren Elemente jauchzten dem Geliebten, dem Verehrten entgegen, von den Irregegangenen wandten viele reumütig um, und gegen die Unverbesserlichen schritten scharfe Verordnungen der Universität wie des Rates ein. Mit innerlicher Genugthuung sah Luther die Wendung zum Bessern und gab um solcher Wirkung willen seine eigne Ruhe gern preis, wie denn überhaupt in seinem ganzen Leben dies das Gesetz seines Denkens und Handelns gewesen war, sich selbst zu vergessen, sich zu opfern für das Ganze.