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Der Sturm heulte und trieb in wildem Grimm dichte Schneemassen gegen die Fenster. Die armen Dohlen flüchteten sich in ihre Mauerritzen, und wo sich eine hinauswagte, den Hunger zu stillen, da wurde sie vom Winde übel zerzaust. Die Leute, welche gezwungen waren, über die Straße zu gehen, hatten sich tief in ihre Mäntel gehüllt und vermochten sich doch nicht gegen die schneidende Kälte zu schützen. Es war, als wollte der Winter, der bisher so sanft aufgetreten war, noch nachholen, was er versäumt, ehe ihn der Lenz zum Abzug kommandierte.
In ihrem Stüblein saß Frau Katharina, ihr jüngstes Kind Margarete neben sich. Ihr Angesicht war sehr bleich und müde, sie mochte wohl manche Nacht ohne Schlaf verbracht haben, denn die Sorge lag auf ihr wie ein Stein, die Sorge um ihren geliebten Eheherrn, der wieder einmal hinausgemußt hatte in die Welt, wieder einmal von einem Fürsten gezwungen, der arme, alte, kranke Mann, dem keine Ruhe werden sollte auf dieser Erde.
Schon im Oktober und Dezember des vorigen Jahres war er auf die Bitten der Grafen von Mansfeld in seinem Heimatsland gewesen, um als Streitschlichter und Friedensvermittler eine neue Perle einzufügen in die Krone seiner Verdienste. Jetzt hatte man ihn zum drittenmal geholt, und er hatte mit schwerem Herzen Abschied genommen, so wenig er sich das auch anmerken ließ.
Tage der Angst und Besorgnis waren auf seine Abreise gefolgt. Katharina hatte auf keinem Fleck Ruhe. Sie suchte die Einsamkeit, um ohne Störung mit ihren Gedanken bei dem geliebten Eheherrn zu weilen und geistig mit ihm zu verkehren; aber die Einsamkeit wurde ihr unheimlich, und sie suchte die Gesellschaft des Kindes auf. Wenn sie aber in den geängsteten Blicken der Margarete ihre eigne Angst sich abspiegeln sah, so sehnte sie sich wieder nach der Einsamkeit.
Wohl wußte sie den teuern Mann im Schutz ihrer drei Söhne und des Präzeptors derselben, Ambrosius Rudtfeld, aber – konnten diese ihn denn wahren vor der Unbill des Winters und ihm seine Schmerzen nehmen, die er mit aus die Reise genommen hatte? Sie seufzte, sie flehte: »Herr, wenn du es doch wolltest Frühling werden lassen um deines Knechtes willen!«
Und siehe, es ward Frühling.
Der Wind ging plötzlich herum, und das Eis brach, der Schnee zerrann unter dem milden Hauch von Welschland her.
Mit geweitetem Herzen atmete Frau Katharina die wonnige Luft, und eine über ihrem Haupte tirilierende Lerche erklang ihr wie die Stimme eines Engels, wie Gottes Antwort auf ihr Seufzen, und von ihren Lippen lallte es: »Du bist der Gott, der Wunder thut.«
Am folgenden Tage mußte sie ihrem Gebet noch zufügen: »Du giebst über Bitten und Verstehen.« Siehe, ein Brief war eingelaufen, von Halle datiert, ein Brief, bei dessen Lesen ihr das Herz in Sprüngen ging. Ach, das waren wieder die alten, lieben, scherzenden Worte, ihr Herr konnte wieder fröhlich sein! Und das Gretchen mußte herbei, sie mußte den Brief hören:
»Meiner lieben, freundlichen Käthe Lutherin in Wittenberg zu Händen.
Gnade und Friede im Herrn. Liebe Käthe! Wir sind heute um 8 Uhr zu Halle angekommen, aber nach Eisleben nicht gefahren, denn es begegnete uns eine große Wiedertäuferin mit Wasserwogen und großen Eisschollen, die das Land bedeckete, die dräuete uns mit der Wiedertaufe. So konnten wir auch nicht wieder zurückkommen von wegen der Mulda, mußten also zu Halle zwischen den Wassern stille liegen. Nicht daß uns danach dürstete zu trinken, sondern wir nahmen gut torgisch Bier und guten rheinischen Wein dafür; damit labeten und trösteten wir uns dieweil, ob die Saale wollte auszürnen. Denn weil die Leute und Fuhrmeister, auch wir selbst zaghaftig waren, haben wir uns nicht wollen in das Wasser begeben und Gott versuchen, denn der Teufel ist uns gram und wohnet im Wasser, und ist besser verwahret, denn beklaget, und ist nicht not, daß wir dem Papst samt seinen Schuppen eine Narrenfreude machen sollen. Hätte nicht geglaubet, daß die Saale einen solchen Rumor machen könnte, daß sie über Steinwege und alles so rumpeln sollte. Ich halte, wärest Du hier gewesen, Du hättest uns auch also zu thun geraten, so wären wir Deinem Rat auch einmal gefolget. Hiemit Gott befohlen! Amen.
Zu Halla am Tag St. Pauli Bekehrung Anno 1546.
Martinus Luther. Dr.«
Die Freude über diesen Brief war noch nicht verklungen, als schon ein zweiter Brief einlief, aus Eisleben gesendet.
»Meiner herzlieben Hausfrau Katharina Lutherin, Dr. Zulsdorferin, Säumärkterin und was sie mehr sein mag.
Gnade und Friede in Christo und meine alte, arme und, wie es scheint, unkräftige Liebe zuvor. Liebe Käthe! Ich bin ja schwach gewesen auf dem Weg hart vor Eisleben, das war meine Schuld. Aber wenn Du wärest da gewesen, so hättest Du gesagt, es wäre der Jüden oder ihres Gottes Schuld gewesen, denn wir mußten durch ein Dorf hart vor Eisleben, da viele Jüden inne wohnen; vielleicht haben sie mich so hart angeblasen. Denn da ich bei dem Dorf war, ging mir ein solch kalter Wind hinten im Wagen ein auf meinen Kopf durchs Barett, als wollte er mir das Gehirn zu Eis machen. Solches mag nun zum Schwindel etwas geholfen haben; aber jetzund bin ich, gottlob, wohlgeschickt, ausgenommen, daß die schönen Frauen mich so hart anfechten, daß ich weder Sorge noch Furcht habe vor aller Unkeuschheit.
Wenn die Hauptsachen geschlichtet wären, so muß ich mich daran legen, die Jüden zu vertreiben. Graf Albrecht ist ihnen feind und hat sie schon preisgegeben. Will's Gott, ich will auf der Kanzel dem Grafen helfen.
Ich trinke naumburgisch Bier, fast des Geschmacks, wie Du das von Mansfeld mir hast gelobet. Es gefällt mir wohl und machet mir Erleichterung. Auch das halbe Stübchen Rheinweins, so mir der Rat der Stadt zu jeglicher Mahlzeit verehrt, trinke ich unterweilen mit meinen Gesellen.
Deine Söhnichen sind ehegestern nach Mansfeld gefahren, weil sie Hans von Jena so demütiglich gebeten hatte; weiß nicht, was sie da machen. Wenn's kalt wäre, so möchten sie helfen frieren. Nun es warm ist, könnten sie wohl was anders thun oder leiden, wie es ihnen gefällt. Hiemit Gott befohlen samt allem Hause, und grüße alle Tischgenossen.
Den 1. Februar 1546.
Martin Luther, Dein alt Liebchen.«
Auch die folgenden Briefe vom sechsten, siebenten und zehnten, brachten günstige Nachrichten und nahmen die letzte Sorge von Katharinas Herzen ab. Luther dankt in scherzendem Ton ihr, der »heiligen, sorgfältigen Frau Katharina Lutherin, Dr. Zulsdorferin, zu Wittenberg« für ihre große Sorge um ihn, davor sie nicht habe schlafen können, und erzählt ihr: seit sie so für ihn gesorgt habe, sei hart vor seiner Stubenthür ein Feuer ausgebrochen und habe ihn verzehren wollen; ferner sei ihm im Gemach um ein kleines ein mächtiger Stein auf den Kopf gefallen, dadurch er wie in einer Mausfalle zerquetscht worden wäre. »Ich meine, wenn Du nicht aufhörest zu sorgen, so möchte uns zuletzt die Erde verschlingen und alle Elemente verfolgen. Bete Du nur und laß Gott sorgen, denn es heißt: Wirf dein Anliegen auf den Herrn, der sorget für dich.«
Und nun der folgende Brief vom 14. Februar, ach, was brachte der für Jubel in das Lutherhaus zu Wittenberg: »Der Vater kommt! Der Vater kommt!« rief die Margarete und fiel der Mutter um den Hals.
Er hat sein Werk gethan, er hat die Grafen versöhnt und schickt auch ein Gericht Forellen, eine Dankesgabe der Frau Gräfin Albrecht, und seine Leibesplage ist auch still geworden; und er ist allenthalben hoch geehrt, daß er vor lauter Wohlleben schier die Seinen in Wittenberg vergessen hätte, und er sehnet sich doch nach heim und hoffet noch diese Woche da zu sein.
»Der Vater kommt! Der Vater kommt!«
Und er kam auch, aber anders, ach so ganz anders, als des Töchterleins und des treuen Weibes Sehnsucht gehofft hatte. –
Was läuten von den Türmen die Glocken so klagend durch das Land? Was soll das bittere Weinen in den deutschen Gauen? Und was steht dort an der Thür des Lutherhauses zu Wittenberg der kurfürstliche Eilbote so zaghaft und so klaghaft? Warum wagt er sich mit dem Brief, den er der Frau Doktorin eilend überbringen soll vom gnädigen Herrn, nicht in das Haus hinein? Ach, das Herz will ihm brechen, der Frau Doktorin zu sagen, daß sie seit gestern eine Witwe sei und ihre Kinder arme Waisen!!
Da kommt es gezogen von Eisleben her, ein langer, trauriger Zug, da bringen sie den Mann Gottes, der nach seiner Vaterstadt nur gereist war, damit die Stätte seiner Geburt auch sein Sterben sehen sollte; und hinter dem aus Zinn gegossenen Sarg schwillt lawinenartig der Strom wehklagender Menschen, denn es ist, als hätten sie einen lieben guten Vater verloren und wären nun alle Waisen. Allenthalben ruft von den Zinnen der Türme der eherne Mund der teuren Leiche den Scheidegruß, in den Dörfern lassen die Bauern ihre Arbeit liegen, hüllen sich in ihr Festtagsgewand und empfangen trauernd den herankommenden Zug; aus den Stadtthoren kommt ihm Geistlichkeit, Rat, Volk und Schulen mit Sterbegesängen und Klagpsalmen entgegen.
Immer näher kommt man Wittenberg, der Stadt, deren Straßen sehr still und sehr öde sind, denn das allermeiste Volk ist zum Thor hinaus auf der Straße nach Pratau zu. Drinnen aber in ihrem Stüblein sitzt eine Witwe, die Hände welk im Schoß, die Augen rot vom Weinen, müde, ach so müde! Ihre Seele ist erschöpft, sie kann kaum noch einen Gedanken fassen, und wie eine Wohlthat Gottes hat sich eine Art dumpfe Betäubung über sie gebreitet. – Ach, sie mußte fern von ihm sein, da er ihrer am nötigsten bedurfte! Wenn sie ihn verlieren sollte nach Gottes Rat, warum gönnte ihr der Herr nicht den süßen Schmerz, ihm die letzten Liebesdienste zu thun und ihm die Augen zuzudrücken? –
So sitzt sie und weiß nicht, was um sie her vorgeht: ihre Seele ist versunken in großem, unendlichem Weh.
Da, horch! – läutet es nicht? Und strömt nicht das Volk auf der Gasse?
Sie fährt auf und greift sich mit beiden Händen an die Stirn.
Da tritt der treue Wolfgang herein, mit fahlem Gesicht, mit bebenden Knieen und reicht ihr mit mühsam zurückgehaltenem Weinen die Hand: »Der Herr Doktor kommt! Lasset uns ihm entgegen gehen!«
Katharina ließ sich willenlos von dem treuen Menschen führen, sie achtete nicht des drängenden Volks, sie sah von der ganzen Welt nichts mehr; nur einen Sarg sah sie daherkommen und hinter dem Sarg ein unabsehbares Gefolge von Grafen und Edelleuten zu Roß und Professoren und Studenten und Ratsherren, und ringsumher eine zahllose Menge von Männern, Weibern und Kindern, weinend und wehklagend.
Sie ließ sich zu dem Wägelein bringen, das hinter dem Sarg für sie geführt wurde. Darauf folgte sie ihrem lieben Herrn, dessen Angesicht ihr auf Erden zu sehen nicht mehr vergönnt war.
Der Zug ging nach der Schloßkirche durch die Thür, an welche vor neunundzwanzig Jahren die nun erkaltete Hand jene Hammerschläge gethan hatte, die durch die ganze Christenheit vernommen worden waren. Justus Jonas, der schon in Eisleben an dem offenen Sarg geredet hatte, that auch hier die Leichenpredigt über 1. Thessalonicher 4, 13-18, welche aber vor dem lauten Schluchzen und Weinen des Volks nur zum Teil verständlich war. Melanchthon hielt darauf hoch eine lateinische Rede im Namen der Universität, dann sank das letzte, was von dem Propheten Gottes übrig war, vor dem Altar der Kirche in die Erde.
Thränenlos sah Katharina dieses alles geschehen – ihr Herz war leer, sie hatte keine Thränen mehr.
Melanchthon, der Getreue, nahm sie bei der Hand und führte sie in ihr Haus, das stille, öde Haus. Er versuchte zu trösten, aber hilflos und ohnmächtig erschien ihm sein Zuspruch gegenüber einem solchen Verlust. Im Haus warteten ihrer die Kinder, Gesinde und Kostgänger, die brachen bei ihrem Anblick in neues Jammern aus.
Da kam es über sie wie Wunderhilfe Gottes: im Anschauen dieses allgemeinen Klagens und Verzagens richtete sich ihr Herz zu neuem Gottvertrauen auf, und mit himmelwärts erhobenen Armen, mit wundersam aufleuchtenden Augen rief sie: »Wenn mir gleich Leib und Seel' verschmachtet, dennoch bleibe ich stets bei dir!«