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Zwölftes Kapitel.
Neues Leben.

»Siehe, Wolfgang, wie gar schön das Gesäete und Gepflanzte kommt!« sagte an einem heitern, sonnigen Juninachmittag des Jahres 1526 Luther zu seinem Famulus, dem lahmen Wolfgang Sieberger, der eben in den Garten gehinkt kam. »Dieses hier sind die Erfurter Rettige und Zwiebeln von meinem lieben Freund Lange, und jenes dort die Gurken und Melonen, so mir der Nürnberger Wenzel Link gesendet. Auch die Röslein aus Altenburg machen mir viel Freude; wollen just die Knospenhülle sprengen und verraten schon die Farbe ihres Kleides. Wie wird Frau Käthe sich erfreuen, so ich ihr die erste bringe! – Aber, wie schmutzig ist doch dein Wams, Wolfgang! Hast etwan wiederum den Mägden im Stall geholfen? Wahret Eure Ehr und Reputation, gelahrter Herr Famulus!«

Der Wolfgang säuberte mit der flachen Hand seine Kleidung von dem angehängten Stroh und gab mit gewichtiger Betonung zur Antwort: »Wo ich nicht den Mägden geholfen, wären wir jetzund um ein Saugferkelein ärmer, denn eines der sieben, so vergangenen Montag die Sau geworfen, hatte sich in seinem jugendlichen Leichtsinn aus dem Stall verirret und war in einen Sumpf geraten, darinnen es zu ersticken drohete.«

Luther lachte hell auf. »Ei, wie ist der Doktor Martinus nun ein Bauer worden und die Frau Käthe eine Bäuerin und Herr Wolfgang Sieberger ein Knecht! Hätte mir solche Ehr und Würde nimmer träumen lassen. Wenn ich, aus dem Hörsal oder von der Kanzel kommend, in den Hof eintrete, da es sonsten so still und feierlich war als auf einem Kirchhof, da quieket und grunzet und blöket und gackert und schnattert es von allen Seiten um mich her, daß mir angst und weh wird, und denke: Ei, was werden die alten frommen Äbte und Mönche in ihren Gräbern sagen, wo sie in den heiligen Räumen solch wüsten, weltlichen Lärm vernehmen! Item, wo ich mich will im Gärtlein ergehen und an die lieben Blümlein riechen, da summet es um mich her von Bienen, und hat mich schon unterschiedlich eine solche kleine Gewappnete schmecken lassen, wie spitzig ihr Schwertlein sei. Item, wie lebet und webet das stille Kloster gegenwärtig von menschlichen Wesen! Wo ich hintrete, stoße ich auf eine Magd, und will mir des Gesindes schier zu viel werden. Fehlete nur noch, daß ich von Abraham dem Jüden einen Gaul kaufte und trottete im Kittel hinter dem Pflug her.«

Der Wolfgang hatte mit lächelndem Kopfschütteln zugehört und antwortete: »Ehrwürdiger Herr Doktor, Ihr scherzet und spottet des bäuerlichen Wesens in Eurem Haus und so weiter, und hättet doch alle Ursach, den Hut zu ziehen vor derjenigen, so solches alles in Stand und Wesen gebracht, denn ohne solches würde es übel mit Euch stehen und so weiter.«

»Wie meinest du das, Wolf?« fragte Luther aufmerksam.

»Wie ich das meine?« versetzte Wolfgang und hinkte dem Doktor etliche Schritte näher. »Das ist sehr geschwind zu sagen und mit Zahlen zu verdeutlichen und so weiter. Wie viel beträgt Euer Jahrgehalt, den Euch der gnädige Kurfürst seit Eurer Vermählung verwilliget? 200 Gülden. Wie viel aber ist in dem verflossenen Jahr aufgegangen? Nahe an 500 Gülden, eingeschlossen die drei Becher, so für fünfzig Gülden verpfändet worden.«

»Wolfgang!« fuhr Luther betroffen auf, »was ist das für eine sonderbarliche Rechnung?«

»Sie stimmet auf das Haar«, fuhr der Famulus mit steigendem Eifer fort, »maßen ich nach Eurer Weisung und Auftrag genau Buch geführet und so weiter. Und so Ihr wollet bedenken, wie viel fremde Gäste das Jahr über an Eurem Tisch gesessen, wie viel tägliche Kostgänger von den Studenten, wie viel arme Fahrende, wie viel ausgetretene Mönche und Nonnen und sonstige Gäste von dem Eurigen gezehret, nicht zu gedenken der vielen Geschenke und Gaben, so Eure bodenlose Freigebigkeit mit offener Hand ausgestreuet an Fremde sowohl, als auch an Eure armen Verwandten, ingleichen zu Hochzeits- und Patengeschenken, so Ihr ohne Unterlaß veranlasset werdet zu geben; – so Ihr solches alles bedenket und so weiter, so wird es Euch klar werden, daß die 200 Gülden kaum vier Monate ausreichen und so weiter. Euer Beutel ist immer offen und aller Hand darin. Wahrlich, Ihr wäret jetzund ein Bettler und säßet im Schuldturm und so weiter, wo nicht die Frau Doktorin so fürtrefflich Haus gehalten und für Hilfsquellen gesorget hätte, daraus immer wieder nachquillet, was not ist und so weiter. Darum ich allezeit mit tiefster Ehrfurcht zu der lieben Frau Doktorin aufschaue, wie sie bei aller Sanftmut und Milde so einen scharfen, umsichtigen Geist und mannhaft Wesen hat, wie sie, obschon so viel auf ihrer Schulter lieget, doch nimmer müde wird und so weiter, sondern allezeit einen fröhlichen Mut hat und alles auch mit sicherer, geschickter Hand angreifet und so weiter, daß es eine Freude ist, ihr zuzuschauen. – Würde aber all das bäuerliche Wesen nicht von nöten sein, wo der Herr Doktor seine Vorlesungen auf der Hochschule nicht umsonst und um einen Gotteslohn hielte, sondern sich dafür bezahlen ließe und so weiter, als doch die andern Professoren alle thun; noch größere Summen aber würde der Herr Doktor sammeln, wo er wollte annehmen, was ihm die Buchdrucker für seine Bücher und sonderlich für seine Übersetzung der Bibel anbieten und so weiter. Würde gar bald ein Krösus werden und aller Sorge der Nahrung los und ledig sein.«

Luther machte eine unwillige Bewegung, und seine Brauen hoben sich, daß die Augen noch größer wurden und einen fast drohenden Ausdruck bekamen. »Pfeifest du abermals aus diesem Ton, Wolfgang? Du bist mir ärgerlich. Habe ich dir nicht schon wiederholentlich gesagt, daß ich das Wort Gottes nicht um Geld gebe? Diese Schmach will ich vor der Welt und allen meinen Freunden nicht haben, daß sie zu mir sagen: er hat um Geldes willen das Evangelium geprediget und das Wort Gottes verkaufet, um ein reicher Mann zu werden und alle Tage herrlich und in Freuden leben zu können. Umsonst habt ihr's empfangen, umsonst gebet es auch, spricht der Herr. Ist es doch dem Manne, der für mich gestorben, sauer genug geworden; so will ich es mir auch sauer werden lassen und von der Welt meine Arbeit nicht belohnet haben.« –

Wolfgang, der mit dem Doktor auf sehr vertraulichem Fuß stand und sich manches herausnehmen durfte, wagte ihn hier zu unterbrechen. »Wohl, Herr Doktor, solches alles lasset sich hören. So Ihr aber für Euch selbst nichts begehret und der irdischen Schätze verachtet, seid Ihr nicht gehalten, für die Euren zu sorgen und ihrer Zukunft zu dienen durch Sammlung eines Vermögens?«

»Dieses werde ich nicht thun«, fiel Luther mit aller Entschiedenheit ein, »denn sonst verlassen sie sich nicht auf Gott und ihre Hände, sondern auf ihr Gold und lassen das Herz daran hängen.«

Kopfschüttelnd wendete sich der Wolfgang um und ging langsam nach dem Hof zurück, indem er ein murmelndes Selbstgespräch anhob, wie es seine Gewohnheit war: »Ein wunderbarer Mann und so weiter! Wie groß und hoch ist sein Sinn, und wie klein, wie erbärmlich stehet unsereins neben ihm! Ich habe solchen Menschen noch nie gesehen! Für andere kann er bitten und betteln, daß es einen Stein erbarmen möchte und so weiter – für sich selber aber begehret er nichts, ob er es gleich so nötig hat, denn er immerdar »im Register der Armut« bleiben wird, wie er selber jüngst sagte. Wie viele haben durch seine Fürsprache von dem Kurfürsten bekommen, dessen sie begehrten, er selber aber bittet nicht allein gar nichts für sich, sondern wehret auch noch denen, so beim Kurfürsten fürgeben, der Luther leide Mangel. Mag darum überhaupt niemand mit Geschenken an ihn herankommen, denn er nimmt nichts, ohne von seinen Vertrautesten nach langem Bitten; so er es aber nimmt, teilet er es unter die Armen oder mit seinen Freunden, wie jüngst erst die 200 Gülden, so ihm von seiner kurfürstlichen Gnaden verehret worden, und die andern 100 Gülden, so ihm der Doktor Bugenhagen von einem Unbekannten übermittelt. Denke auch mit Schmerzen an den schönen Rehbock, so ihm aus dem kurfürstlichen Forst zugesendet worden. Hätten wohl drei, vier Tage davon zehren mögen, aber da müssen immer gleich die Freunde herbei und mitschmausen, denn anders ist es dem Doktor kein Wohlgeschmack und so weiter. Ist mir auch herzlich leid um das schöne Trinkgeschirr aus Glas und Zinn, das Ehrengeschenk des gnädigen Herrn, daran Frau Käthe ihre sonderliche Lust schauet und dessen sie sich bedienet, aus dem Ratskeller den vom Rat verehrten täglichen Tischwein holen zu lassen. Das Kleinod soll nun auch noch seine Straße ziehen zu dem Pfarrer Agricola in Eisleben, so bei seinem letzten Besuch seine Bewunderung und Gefallen daran gehabt und so weiter. Habe es wohl vernommen, wie der Doktor dem Gast zugeraunet: ›Ich schicke es dir, ehe es einen andern Herrn bekommt, denn meine Käthe strebet ihm sehr nach, daß sie es für sich allein behalte zur eitlen Augenlust‹. War mir ein heimlich Vergnügen, zu sehen, wie der Doktor das Gefäß nicht finden konnte, da er es durch einen Boten entsenden wollte dem Agricola zum Geburtstag, denn Frau Käthe hatte es mittlerweile auf die Seite gebracht. – Doch was mag ihr dieses helfen? Hat doch der Doktor, wie ich selbst gelesen, an den Eislebener geschrieben, er könne zu seinem Leidwesen für jetzund sein Wort nicht halten, doch solle er Geduld haben, bis die Käthe ins Wochenbett käme, da wolle er das Ding schon wieder an sich bringen. – Wie wunderbar ist doch der liebe Doktor und gar nicht mit dem Maß der andern Sterblichen zu messen und so weiter! Derhalben ist es aber als Gottes weise Fügung zu erkennen und zu preisen, daß ihm solch ein Weib bescheret worden, so durch ihre häusliche Tugend, ihre Sparsamkeit, Pünktlichkeit, Arbeitsamkeit, Umsicht und Erfahrung mit dem wenigen haushält, ja aus wenigem viel zu machen verstehet. Das ist des Doktors Glück, daß er ein Weib bekommen von entgegengesetzter Art, denn er selber ist; so giebt es einen feinen, guten Klang und so weiter.«

Der gute Wolfgang war während dieses Selbstgesprächs zu dem Stall gelangt, wo die Drehbank stand, an welcher der Doktor mitunter zu arbeiten pflegte, wenn er sich mit geistiger Arbeit übernommen hatte. Er hörte Schritte hinter sich und gewahrte beim Umschauen den Luther, wie er auf den Stall zukam.

»Laß uns ein wenig drechseln, liebster Wolf«, sagte Luther, »und das neue Handwerkszeug versuchen, so mir gestern Freund Link aus Nürnberg zugesendet. Auch ist meine Seele heute unlustig zu anderer Arbeit. Ist mir so gar eng und bang um die Brust, daß mir das Atemholen mühsam von statten gehet.«

Wolfgang langte das Arbeitszeug hervor, und die Männer fingen, nachdem sie den Rock abgethan, zu drechseln an.

Noch aber hatten sie nicht viel zu stände gebracht, da stürzte eine Magd herbei mit hochgerötetem Gesicht und Thränenspuren in den Augen. »Herr Doktor!« stieß sie jäh hervor, »Herr Doktor – – –«

Luther schaute von der Arbeit auf. »Was giebt es, Dorothea?« Und in schneller Ahnung färbten sich auch seine Wangen von der Glut freudigen Erschreckens.

Die Magd konnte sich nur durch Zeichen verständlich machen, und Luther verstand diese stumme Sprache, eilte hemdsärmelig über den Hof und stand in wenigen Augenblicken vor dem Bett seines treuen Weibes, welches ihm das Köstlichste bescheret hatte, was eine Frau ihrem Manne bescheren kann. Da lag es auf dem Bett und schaute seinen Vater mit großen Augen an, ein Knäblein zart und schön. Vor einer Stunde war die Katharina noch ganz wohlgemut und ahnungslos im Garten gewandelt – nun hatte ihr Gott der Herr ohne großes Weh und so geschwind, daß sie es kaum fassen konnte, ihren ersten Sohn beschert.

In überströmender Vaterfreude nahm Luther das teure Liebespfand auf seine Arme und herzte es und schaute ihm in die Augen und herzte es wieder: »O du mein lieber himmlischer Vater!« sprach er mit lauter, tief aus dem Herzen kommender Stimme, »wie ist denn der arme Bruder Martinus solches Segens würdig? Siehe, es ist eitel unverdiente Gnade, so mich tief in den Staub beuget, daß ich immer möchte weinen. – O du mein liebes Kindlein, sollst mir von Herzen willkommen sein! Siehe, jetzund schon wallet dir mein Herz entgegen, da du doch noch gar nichts gethan, was meine Liebe reize und herfürlocke. Da mag ich wohl verstehen, wie Gottes Liebe gegen uns arme Kreaturen eine zuvorkommende ist, als der nicht wartet, bis wir ihn lieb haben und schön mit ihm thun, sondern es nicht lassen kann, er muß den Anfang machen und uns entgegen kommen. – Kindlein, du sollst Johannes Zu deutsch: Gottesgnade, Gotthold. heißen, auf daß ich, so oft ich deinen Namen rufe, der Gnade Gottes gedenke, so uns heute widerfahren. Auch um deines Großvaters willen sollst du diesen Namen führen, denn ich sehe ihn, wie bei der Kunde von deiner Geburt seine alten müden Augen wieder erwachen und seine verwelkten Lippen den Namen des Herrn preisen.«

Danach zu seiner Frau gewendet fuhr er fort: »Du liebe, gute Käthe, wie hast du mich so reich gemacht und wie entzündest du in meinem Herzen immer brünstigere Liebe! Siehe, mein Leben gäbe ich gerne her, wo es not wäre um deinetwillen. – Nun aber dränget es mich, zu eilen, daß ich den Pfarrer herbeihole und die Männer, so dem armen Heiden zum Christentum helfen sollen.«

Er that das Mäntelchen um, setzte das Barett auf und schritt eilig von einem Haus zum andern, unterwegs den ihm Begegnenden die frohe Mär verkündend und deren Segenswünsche entgegennehmend. Schon nach einer Stunde, nachmittags 4 Uhr, standen um das artig geschmückte Kindlein die Taufzeugen Kranach, Bugenhagen und Jonas nebst dem Täufer, dem Diakonus Magister Georg Rörer, denn so heischte es die Sitte jener Zeit, daß die Kindlein unmittelbar nach ihrer Geburt getauft wurden. –

Ein neues Leben ging durch dieses Kindes Ankunft im Hause Luthers auf. Das Wort »Kind« ist ein Bindewort, es bindet noch viel inniger zusammen, was schon am Altar verbunden worden war zu ehelicher Liebe. In dem Kinde sieht der Vater sein eigen Bild und die Mutter desgleichen; es gehört ihnen beiden, es ist ein gemeinschaftliches Gut und eine sichtbare Mahnung, daß sie zusammengehören zu untrennbarer Lebensgemeinschaft.

Hatte Luther seine Käthe bisher geliebt und geehrt, nun neigte sich sein Herz noch viel inniger ihr zu, und die Käthe, welche solchen Zuwachs der Liebe wohl empfand, nahm oft das Kind auf den Schoß und sprach zu ihm mit feucht schimmernden Augen: »Du liebes, kleines Würmelein, weißt noch nichts und kannst noch nichts, und doch muß dir deine Mutter schon Dank sagen, denn du hast einen großen Segen mit ins Haus gebracht.«

Es erhob sich auch wohl ein lebhafter Wettstreit zwischen der Käthe und der Muhme Lene, einer Base der Frau Doktorin, welche Luther nach ihrem Austritt aus dem Kloster zu sich in das Haus genommen hatte. Jede der beiden Frauen wollte das größere Recht haben auf die Pflege des Kindes: die Käthe, weil sie die Mutter sei und das Kind mit Schmerzen geboren habe, die Muhme aber, weil sie doch etwas thun müsse, um ihren Dank abzustatten denen, die ihres hilflosen Alters sich erbarmt.

Wer aber dem Doktor Martinus in der Kinderstube zusah, wie er mit seinem Hänschen spielte und scherzte, der fragte sich: Wie, ist das der Mann, dessen Wort die Welt aus den Angeln hebt und dessen Name in aller Munde ist, was Christ heißt, der Held von Worms, der Prophet des höchsten Gottes? Ist das der Mann, vor welchem Könige und Fürsten sich neigen und den der Papst mit allen Bischöfen mehr fürchtet, als den Türken? Wie kann der große Mann so klein werden mit den Kleinen! Wie spricht er mit dem Kinde in der Kindersprache! Wahrlich, ein rechter, wahrhafter Sprachmeister! Nicht allein der alten Israeliten und Griechen und Römer Sprache versteht er – auch mit den Vöglein weiß er zu plaudern, und die Mundart der Kinder ist ihm so geläufig, daß einem das Herz lacht, wenn man zuhört. – Man fragt sich auch: Wo nimmt der Mann, dem ein so großes Werk oblieget wie keinem König oder Papst, die Zeit her, mit seinem Söhnlein zu spielen und das Gedeihen desselben zu beobachten, daß er in seinen Briefen an die Freunde allerlei zu berichten weiß von seinem lieben Hänsichen, wie er schon anhebe zu zahnen und in der Stube umherzuhocken und zu lallen und mit lieblichen Beleidigungen zu schelten? Da sitzen sie, die sich Gelehrte nennen, wenigstens neun unter zehn auf ihrer Studierstube in ihre Bücher vergraben, und die Bücher sind ihre Kinder, denen ihre ganze Kraft, ihre ganze Zeit, ihr ganzes Herz gehört, und daß sich drüben in der Familienstube die Frau Doktorin mit ihren lebendigen Kindern plagt, das kümmert sie nicht, es ist ihnen zu gering, sich der Kleinen anzunehmen und von der Höhe ihres geistigen Lebens herunterzusteigen zu dem Abc menschlicher Entwickelung, finden auch keine Zeit dazu und haben, wenn sie es bei zwingender Gelegenheit doch einmal versuchen, etwa so viel Geschick dazu, wie ein Ziegenbock zum Lautenschlagen, also daß die Frau Doktorin, die manchmal über den sich einspinnenden Herrn Doktor ungehalten war, hernach sich sagt: Mag er bei seinen Büchern bleiben, ich will's lieber allein machen! – Martin Luther war auch ein Gelehrter, vor dem sich manch einer verstecken muß, der Wunder denkt, wer er sei: aber er war mehr als das, er war ein universaler Geist, er war ein Genius, nach allen Seiten groß, groß auch da, wo er klein ward mit den Kleinen.

Das Hänschen muß aber auch ein gar herziges Kind gewesen sein, denn alle Welt hatte es lieb, und oftmals muß der Vater danken für schönes Spiel- und Naschwerk, das dem Kleinen beschert worden: kann auch selbst nimmer von einer Reise heimkommen, ohne seinem lieben Hänsichen einen Jahrmarkt mitzubringen.

Es ist uns noch ein Brief bewahrt geblieben, den Luther von der Feste Koburg aus im Jahr 1530 an sein vierjähriges Söhnlein geschrieben hat, ein goldenes Kleinod der Erziehungsweisheit und ein herrliches Probestück von der Fertigkeit des großen Mannes in der Kindersprache. Dieser Brief soll als sonderlicher Zierat unser zwölftes Kapitel beschließen.

»Gnade und Friede in Christo, mein herzliebes Söhnichen! Ich sehe gern, daß Du wohl lernest und fleißig betest. Thue also, mein Söhnichen, und fahre fort; wenn ich heimkomme, will ich Dir einen schönen Jahrmarkt mitbringen. Ich weiß einen hübschen lustigen Garten, da gehen viele Kinder innen, haben güldene Röcklein an und lesen schöne Äpfel unter den Bäumen und Birnen, Kirschen, Spillinge und Pflaumen, fingen, springen und sind fröhlich, haben auch schöne kleine Pferdlein mit güldenen Zäumen und silbernen Sätteln. Da fragte ich den Mann, des der Garten ist, wes die Kinder wären? Sprach er: Es sind die Kinder, die gerne beten, lernen und fromm sind. Da sprach ich: Lieber Mann, ich habe auch einen Sohn, heißet Hänsichen Luther; möchte er nicht auch in den Garten kommen, daß er. auch solche schöne Äpfel und Birnen essen möchte und solche feine Pferdlein reiten und mit diesen Kindern spielen? Sprach der Mann: Wenn er gerne betet, lernet und fromm ist, soll er auch in den Garten kommen, Lippus Melanchthons Sohn Philipp. und Jost Jonas' Sohn Justus. auch, und wenn sie alle zusammen kommen, so werden sie auch Pfeifen, Pauken, Lauten und allerlei Saitenspiel haben, auch tanzen und mit kleinen Armbrüsten schießen. Und er zeigte mir dort eine feine Wiese im Garten, zum Tanz zugerichtet, da hingen eitel güldene Pfeifen, Pauken und feine silberne Armbrüste. Aber es war noch sehr frühe, daß die Kinder noch nicht gegessen hatten; darum konnte ich des Tanzens nicht erharren und sprach zu dem Mann: Ach, lieber Herr, ich will flugs hingehen und das alles meinem lieben Söhnlein Hänsichen schreiben, daß er ja fleißig bete, wohl lerne und fromm sei, auf daß er auch in diesen Garten komme; aber er hat eine Muhme Lene, die muß er mitbringen. Da sprach der Mann: Es muß ja sein; gehe hin und schreibe ihm also! Darum, liebes Söhnlein Hänsichen, lerne und bete ja getrost und sage es Lipsen und Josten auch, daß sie auch lernen und beten, so werdet ihr auch miteinander in den Garten kommen. Hiemit sei dem lieben Gott befohlen und grüße Muhme Lehne und gieb ihr einen Kuß von meinetwegen.

Dein lieber Vater Martinus Luther.«

So konnte der Mann schreiben, der auf der Feste Koburg mit seinem Rat und Gebet die Seinigen stärkte, da es sich auf dem Reichstag zu Augsburg darum handelte, vor Kaiser und Reich den Glauben der Evangelischen zu bekennen und für die Reformation das Recht der Existenz zu erwirken.


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