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Wittenberg war zur Zeit des sechzehnten Jahrhunderts eine elende Stadt: die Häuser meist Hütten, von Holz und Lehm gebaut und zum großen Teil mit Stroh gedeckt, die Gassen krumm und düster, das Pflaster holprig und an vielen Stellen gar nicht vorhanden, so daß bei Regenwetter oder gar im Frühjahr beim Auftauen das Fortkommen äußerst beschwerlich war. Nur einzelne wenige ragende Häuser, die schönen Kirchen, das kurfürstliche Schloß, die Universität, das Franziskaner- und Augustinerkloster nebst etlichen Privathäusern vornehmer Bürger gaben zu erkennen, daß man sich in einer Stadt befinde und nicht auf einem Dorf.
Aber auch die Gegend um Wittenberg her war von der Natur ziemlich stiefmütterlich bedacht. Luther scherzte gern:
»Ländiken,
Du bist ein Sändiken«,
denn ringsum streckte sich Sand und abermals Sand. Nur in der unmittelbaren Umgebung, namentlich nach der Morgenseite, wo die breite Elbe ihre gelben Fluten wälzt, grünte es von Bäumen, Gesträuch, sogar von Rebstöcken, und von dem Fluß getränkt, von dem Wäldlein jenseit des Wassers geschützt, blühten und sproßten hier anmutige Gärten, den Bürgern ein lieber Aufenthaltsort, besonders in der Hitze des Sommers.
Unweit des Elsterthors befand sich ein Gärtlein, dem man vor allen andern die pflegende Hand anmerkte und den Geschmack für Schönheit. In kunstvoller Anlage wechselten Gemüsebeete und Hopfenplantagen mit Blumenrabatten und Ziergesträuch. Auch ein kleiner Weiher, von einer Quelle gespeist, glitzerte durch das lispelnde Schilf, und um ein schneeweiß getünchtes Gartenhäuschen dehnte sich rings ein freier Kiesplatz, zum Tummeln für Kinder wohlgeeignet.
In der That finden wir auch hier an einem herrlichen Sommertag des Jahres 1534 eine muntere kleine Gesellschaft, die sich abwechselnd im Sande kollert und einen Streifzug in die Erdbeeren unternimmt. Den Anführer macht ein Knabe von neun Jahren, kräftig und blühend, ein Bild von Gesundheit und Lebensfrische, der mit dem ganzen Gewicht seines Ansehens als der Älteste und heute zumal als das gefeierte Geburtstagskind die Kleinern beherrscht: ein sechsjähriges, feines, zartes, sanftes Mägdlein und zwei Knaben von vier und zwei Jahren, von denen der erstere ebenso schwächlich, als der letztere vollbäckig und starkknochig ist.
Durch die weit offene Thür des Gartenhäuschens bemerken wir eine Frau mit einem Säugling auf dem Schoß, welche mit dem ganzen Hochgefühl mütterlicher Freude dem fröhlichen Treiben der Kinder zusieht und nur dann und wann mit einem Mahnwort dareinfährt, wenn die tolle Lust über die Grenze gehen und ausarten will, oder wenn der Älteste das Erstgeburtsrecht allzustark für sich ausbeutet.
Die glückselige Mutter ist Frau Katharina. Sie ist heute Nachmittag nach vollbrachter häuslicher Arbeit nach ihrem Lieblingsplätzchen gewandert, um unter Gottes freiem Himmel, umduftet von Rosen und Lilien und umsprungen von ihren Kindlein den Tag zu begehen, an welchem vor neun Jahren Gottes Gnade ihr den ersten Sohn bescherte.
Mit vollem Recht konnte Luther dem Psalmisten nachsprechen: »Mein Weib ist ein fruchtbarer Weinstock und meine Kinder wie Ölzweige um meinen Tisch her.« Fünf lebendige Sprößlinge hatte sie ihrem Gatten geschenkt, lauter liebe, herzige Kreaturen, und die Mutter selbst, sie war so kräftig und so blühend noch, als könnte ihr kein Weh etwas anhaben.
Die Kinder erheben plötzlich ein Jubelgeschrei: »Die Muhme Lene, die Muhme Lene!« und stürzen der eben in den Garten tretenden Alten entgegen, als wäre sie ein Festungsturm, der im Sturm erobert werden sollte.
Sie haben sie alle sehr lieb, die gute Muhme, die immer Zeit für sie hat und eine unermüdliche Geduld, auf ihre tausend Fragen zu antworten, die ihnen nie etwas abschlägt, die ihnen in dem Dämmerstündlein die lieben Märlein erzählt, schier so schön wie der Vater, die dem Lenchen so schöne Püpplein ankleidet und den Buben aus Pappe Landsknechte klebt, welche ganz allein stehen können, die auch dem Vater und der Mutter nichts verrät, wenn sie einmal unartig waren. Ja, sie haben sie alle sehr lieb, die Muhme Lene und geben ihr Leben für sie in uneigennütziger Liebe.
Heute aber ist in ihren zärtlichen Empfang doch ein gut Teil Eigennutz eingewickelt: die Muhme soll der Mutter das Margaretlein abnehmen, damit diese die Hände frei bekomme, mit ihnen zu spielen. Und mit dem Mütterlein spielt es sich doch gar zu schön, obgleich es nur selten einmal geschieht, denn die liebe Mutter hat immer so viel zu schaffen; oder gerade darum ist es ihnen eine besondere Lust, weil sie es nur so sparsam genießen, und es ist ihnen wie ein Fest, wenn die liebe Mutter mit ihren Kindern ein Kind wird.
Die Muhme Lene ist eine sehr kluge Person. Die Kinder sagen nichts von ihren Wünschen, aber sie merkt es doch und kommt ihnen bereitwilligst entgegen.
Nun muß die Mutter herbei und mit springen und Versteck spielen und Blindekuh mitmachen und in den gegen die Sonne gehaltenen grünen Schoten die Erbsen zählen. Und dann giebt es allemal ein übermütiges Gelächter von seiten der Knaben, wenn sie klüger und geschickter sind als die Mutter – nur das Lenchen schmiegt sich dann an sie und streichelt ihr die Hand, als wolle sie sie trösten über den erfahrenen Schimpf.
Das geht so eine ganze Weile, und die Kleinen können nimmer genug bekommen und achten der Schweißtropfen nicht, die der Mutter von der Stirn rinnen. Sie muß aber auch heute ein Übriges thun, denn es ist heute ihres Hänschens Geburtstag, und ihre Kindlein sind alle so gesund, und ihr lieber Doktor ist auch gesund und arbeitet so frisch an seinem großen Werk! Das alles stimmt sie froh und macht sie stark, daß sie sich tummeln kann wie ein Mägdlein.
Endlich aber will es ihr doch zu viel werden, und wie ein Erlöser erscheint ihr jetzt der Wolfgang, der mit einem Körblein am Arm in den Garten tritt. Er bringt die Meldung, daß der Herr Doktor wahrscheinlich erst zum Abend herauskommen könne, und schüttet aus dem Korb allerlei Eßwaren auf den Tisch, über welche die Kinder herfallen, wie die Heuschrecken über ein Erbsenfeld.
Der Johannes scheint aber noch ein besonderes Anliegen an den guten Wolfgang zu haben, denn aus seinen Augen spricht ein lüsternes Verlangen, und da der Wolfgang für die Augensprache heute gar kein Verständnis zu haben scheint, erwischt der Hans einen unbewachten Augenblick, um dem Wolfgang zuzuraunen: »Komm, Wolfgang, zum Vogelherd!«
Der Wolfgang ist aber diesmal schwierig, er denkt wohl an die Lektion, die ihm jüngst erteilt worden, da er dem Herrn Doktor mit einem gefangenen Buchfinken ein Geschenk hatte machen wollen. Der Doktor hatte ihn da hart angelassen, er habe keine Freude an gefangenen Vögeln, welche auch der Schöpfer nicht dazu geschaffen habe, daß Herr Wolfgang Sieberger sie ins Garn locke. – Doch der Johannes ist so ungestüm mit Bitten – und es ist ja heute sein Geburtstag, da muß man ihm wohl den Willen thun.
Die beiden schleichen sich meuchlings von dannen. Martin aber, der vierjährige, merkt es doch und schreit hinter den Flüchtlingen drein und will mit.
Hans wird ärgerlich auf den jüngern Bruder, der »immer mit will« und versteht doch noch gar nichts von der Sache, stört vielmehr allemal den Fang, denn er kann nicht still sitzen und lauern. Nur mit großer Mühe und mit allerlei Versprechungen wird der Martin beschwichtigt, daß er sich zurückzieht und die beiden Sünder allein schleichen läßt.
Unweit des Gartens, hart am »Speck«, dem Universitätsgehölz, ist ein stilles, lauschiges Plätzchen, von Menschen wenig betreten; da hat der Wolfgang seinen Vogelherd, denn hier giebt es der gefiederten Sänger eine schwere Menge.
Bei der Ankunft der beiden Helden stiegt ein Schwarm Distelfinken auf, und ihr Gesang klingt wie Spott und Gelächter, als verhöhnten sie den großen Garnkünstler, der immer erst zuzieht, wenn's zu spät ist, und froh sein muß, wenn er nach vierzehntägiger Jagd einmal eine dumme Goldammer oder einen dreisten Spatz erwischt hat.
Es ist richtig so: der Wolfgang macht als Vogelsteller immer schlechte Geschäfte, aber wie das zugeht, kann er sich nimmer erklären, denn er macht doch alles streng nach den Regeln der Kunst, und der Platz ist auch wie geschaffen zum Vogelfang. Es mögen wohl die Waldelfen ihm nicht gewogen sein und ihm den schönsten Fang verderben.
Auch heute wieder will's ihm gar nicht glücken, obwohl Hänschens Geburtstag ist, und schließlich reißt ihm die Geduld, daß er erbost aufspringt und einen ganz abscheulichen Fluch in den Wald hineinruft, den ihm das Echo höhnend zurückerstattet.
Sehr übler Laune traten die beiden Jäger den Rückweg an. Als sie sich dem Garten näherten, blieb Wolfgang betroffen stehen: »Der Herr Doktor!! O weh, das wird einen schönen Empfang geben und so weiter!«
Und langsamern Schritts bewegten sich die beiden Sünder vorwärts.
Luther war früher gekommen, als er hatte hoffen lassen, und hatte auf seine Frage nach dem abwesenden Hans aus Martins Reden erraten, was derselbe wieder betreibe. Sogleich hatte er sich im Häuschen an den Tisch gesetzt und einen Bogen Papier, den er immer bei sich führte, voll geschrieben.
Er empfing die beiden Heimgekehrten mit ernster, strenger Miene und hätte gar nicht nötig gehabt, zu fragen, wo sie gewesen seien, denn leserlich stand ihnen im Gesicht die Schuld geschrieben.
Der Wolfgang stammelte etwas daher, was wie eine Entschuldigung klang, Luther aber unterbrach ihn: »Setze dich hierher, Wolfgang, und du, Hans, daneben, auch ihr andern alle, daß ihr höret die Klagschrift, so jüngst bei mir eingelaufen.«
Nachdem sich alles gesammelt hatte, nahm der Doktor das Papier zur Hand und las:
»Unserm günstigen Herrn Doktor Martinus Luther, Professor und Prediger zu Wittenberg. Wir Drosseln, Amseln, Hänflinge, Stieglitze samt andern frommen, ehrbaren Vögeln, so diesen Sommer zu Wittenberg weilen, fügen Eurer Liebe zu wissen, wie wir glaubhaft berichtet werden, daß einer, genannt Wolfgang Sieberger, Euer Diener, sich ein groß, freventlich Wagnis unterstanden und etliche alte verdorbene Netze aus großem Zorn und Haß wider uns teuer erkauft habe, damit einen Finkenherd anzurichten, und nicht allein unsern lieben Freunden, den Finken, sondern auch uns allen die Freiheit in der Luft zu fliegen und auf Erden Körnlein zu lesen, die Gott uns gegeben, zu wehren vornimmt, dazu uns nach unserm Leib und Leben stehet, so wir doch gegen ihn gar nichts verschuldet noch verdienet haben. Weil denn das alles, wie Ihr Euch denken könnet, uns armen Vöglein eine gefährliche und große Beschwerung ist, so gehet an Euch unsre demütige und freundliche Bitte: Ihr wollet Eurem Diener solch Fürnehmen verweisen, oder, wo das nicht sein kann, doch ihn dahin halten, daß er uns des Abends zuvor Körner auf den Herd streue und morgens vor 8 Uhr nicht aufstehe und auf den Herd gehe; so wollen wir zufrieden sein, ja ihm danken. Wird er das aber nicht thun, sondern uns also freventlich nach unserm Leben stehen, so wollen wir Gott bitten, daß er ihm steuere, und er eines Tags auf dem Herde Frösche, Heuschrecken und Schnecken fahe an unserer Statt, und zur Nacht von Mäusen, Läusen, Flöhen und Wanzen überzogen werde, damit er unser vergesse und uns den freien Flug nicht wehre. Warum gebrauchet er denn solchen Zorn und Ernst nicht wider die Sperlinge, Elstern, Dohlen, Raben, Mäuse und Ratten, welche Euch doch viel Leides anthun, stehlen und rauben und Euch Korn, Hafer, Malz, Gerste und dergleichen aus den Häusern forttragen, welches wir nicht thun, die wir allein nach kleinen Bröcklein und einzelnen verfallenen Körnlein suchen und Euch vielfältig die Fliegen, Mücken und ander Ungeziefer wegschnappen? Wir stellen solche unsre Sache auf rechtmäßige Vernunft, ob uns von ihm nicht mit Unrecht so hart nachgestellet werde. Hoffen aber zu Gott, daß wir seinen losen, faulen Netzen glücklich entfliehen.
Gegeben in unserm himmlischen Sitz unter den Bäumen, unter unserm gewöhnlichen Insiegel und Federn.« –
Ohne ein Wort dazuzusetzen, ohne auch nur die beiden Angeschuldigten eines Blicks zu würdigen, faltete Luther das Papier zusammen und schob es in die Tasche.
Der Wolfgang saß da mit der Empfindung eines überführten Verbrechers, dem das Urteil verlesen wird, und wurde abwechselnd rot und blaß, wäre auch unter dem Lesen am liebsten entschlüpft, wenn es sich nur hätte machen lassen. – Auch der Johannes ließ ängstlich die Flügel hängen und war aus allen seinen Himmeln gestürzt – eine schöne Geburtstagsfreude!
Er wartete begierig, daß der Vater ihn zur Rede setzen möchte – des Vaters Schelten schien ihm wie eine Art Abbüßung der Strafe; er hätte wohl sogar gern einen Rutenstreich hingenommen – aber daß der Vater seiner nun gar nicht achtete und sich zärtlich scherzend zu den andern Kindern wendete, namentlich zu dem Lenchen, der immer gehorsamen, sanften, zarten Tochter, das nagte ihm am Herzen mit unerträglicher Pein. Eine härtere Strafe gab es für ihn nicht, und mit heimlichem Grauen gedachte er jenes schrecklichen Vorgangs, wo er um eines bösen Streiches willen drei Tage lang nicht vor seines Vaters Angesicht kommen durfte, wo alles Bitten der Mutter und eines dazugekommenen Freundes vergeblich war, und noch klangen ihm schneidend in den Ohren des Vaters Worte: »Ich will lieber einen toten, denn einen ungehorsamen Sohn. St. Paulus hat nicht umsonst gesagt, daß ein Bischof soll seinem Hause wohl vorstehen und gehorsame Kinder haben, auf daß andere Leute, davon erbauet, ein gut Exempel nehmen und nicht geärgert werden.«
Der Hans wollte weinen, aber die innere Angst verstopfte den Thränenkanal und versagte ihm die Wohlthat, den Schmerz zu Wasser werden zu lassen.
Bei dem Abendessen brachte er keinen Bissen hinunter: die Kehle war ihm zugeschnürt, und die väterlich freundlichen Worte, welche der Vater mit den andern redete, schnitten ihm wie zweischneidige Messer durch die Seele.
Das Lenchen aber saß still und aß auch wenig. Von Zeit zu Zeit gingen ihre Augen zu dem unglücklichen Bruder hinüber – sein Schmerz war auch ihr Schmerz. Hatte doch der Vater einmal gegen die Mutter geäußert: »Wenn man ein lebendig Bild sehen will zu des Heilands Worten: Freuet euch mit den Fröhlichen und weinet mit den Weinenden, so muß man das Lenichen ansehen. Sie hat eine feine, zarte Seele, gleich einer Äolsharfe, welche alsobald erklinget und tönet, wo ein Windhauch über die Saiten gehet.«
Als abgegessen war, drückte sich das Mägdlein an den Vater, streichelte ihm die Hand und lächelte wehmütig süß zu ihm hinauf.
»Was willst du, mein Lenichen?« fragte der Vater herzlich, indem er sie auf den Schoß nahm.
Mit holdem Erröten flüsterte das Kind: »Es ist heute Hänschens Geburtstag!« und zwei große Thränen stahlen sich in ihre wunderbar schönen, sanften, blauen Augen.
Da zog der Vater, von solcher zartsinnigen Liebe überwältigt, sein Töchterlein an sich und drückte ihr einen langen Kuß auf die weiße Stirn. Danach aber winkte er dem Hans und sprach: »Komm herzu, du Sünder, dein Mittler und Fürsprech hat mein Herz bezwungen, daß ich mich deiner erbarmen muß!«
Der Hans hätte laut aufjauchzen mögen, aber er hielt seine Herzwonne in sich verschlossen und drückte sich an sein Schwesterlein heran, indem er ihr ins Ohr flüsterte: »Lenichen, ich schenk dir auch meine Klappermühle.«
Luther aber wandte sich derweile zu seiner Frau und der Muhme Lene: »Hier möget ihr sehen, was für einen kräftigen Mittler und Fürsprech wir an unserm Herrn Jesu Christo haben, dem der himmlische Vater nichts versagen und abschlagen kann, wo er für einen Sünder bittet. Denn wenn mein Töchterlein Lenichen mein Herz stracks bezwungen hat, daß ich nicht dawider kann und den Zorn muß fahren lassen, wie viel mehr wird Christus der Herr durch sein Wort den Zorn des himmlischen Vaters brechen, daß dem Sünder nichts geschiehet! Sehet, da ich zuerst solchen Trost, aus der heiligen Schrift herausgelesen, daß wir nicht durch unsre Tugend selig werden, sondern allein durch das Verdienst und Fürsprache Jesu Christi, da ist in mir das neue Leben aufgegangen und hat in mir also rumoret, daß ich es nicht lassen konnte, ich mußte es der ganzen Welt verkündigen. – Ach, wie herzlich fröhlich bin ich und dem Herrgott dankbar, daß ich nun das große Stück Arbeit vollendet, daß die ganze heilige Schrift deutsch in die deutschen Lande ausgegangen ist! Hanget mancher Schweißtropfen daran, doch habe ich mit aller Lust und Freude daran gearbeitet, denn nun kann das Volk selber forschen und sehen, was Gottes Wort sei und wozu der Heiland in die Welt gekommen. Solches Werk achte ich als das größte meines Lebens, und wo mich nun mein Gott von hinnen fordern würde, wollte ich gerne sprechen: Herr, hie bin ich!«
Indem kam der kleine, dicke Paul auf einem Stecken dahergeritten und machte in hitzigem Eifer einen regelrechten Angriff auf den Vater, kam aber dabei elendiglich zu Falle.
Alles mußte lachen. Der Paul war auch gar zu possierlich, und der Vater hob das wilde Bürschchen auf seine Kniee, indem er sagte: »Der Paul muß ein Kriegsknecht werden und einmal wider den Türken reiten, so wird Deutschland Ruhe haben von dieser Seite her.«
Er streichelte dem muntern Knaben die Ringellocken und wandte sich dann an die Katharina: »Daß doch die Eltern die jüngsten Kinder immer am allerliebsten haben! Solches kommt aber davon, daß sie am hilfsbedürftigsten sind. Der Hans und die Lene, auch der Martin, können schon gehen und kund geben, was ihnen not sei; dessen sind die Kleinen noch nicht fähig. Dennoch aber ist gegen alle die Liebe gleich.«
Katharina reichte ihm das kleine, halbjährige Margaretchen dar und sagte mit scherzendem Vorwurf: »Dieses ist der Liebe am allerbedürftigsten, dennoch erwähnet Ihr desselben mit keinem Wort, Herr Doktor! So ist es aber: die Männer haben die Kinder erst gern, wenn sie aus dem Gröbsten heraus sind – bis dahin lassen sie sie gern den Müttern.«
Lächelnd nahm Luther seiner Frau das Gretchen ab, setzte es sich auf den Schoß und liebkoste es. Da verunreinigte das Kind den Vater, und die Mutter trat eilig herzu, indem sie sich selbst Vorwürfe machte. Luther aber wehrte ihr und sprach: »Laß nur, Käthe! O wie muß unser Herrgott so manch Murren und Unflat von uns leiden, anders denn eine Mutter von ihrem Kinde! Ob aber auch solche Unsauberkeit vorfällt, so ist es doch etwas Heiliges mit solch einem Kindlein, von denen die Schrift spricht: Ihre Engel sehen allezeit das Angesicht ihres Vaters im Himmel. Ich wollte, daß ich in des Kindes Alter gestorben wär, da wollt' ich alle Ehr um geben, die ich habe und noch bekomme in der Welt. Denn das Leben der Kindlein ist am seligsten und besten: sie haben keine zeitlichen Sorgen, sehen die greulichen Schwärmer und Rottengeister in der Kirche nicht, leiden und fühlen keine Schrecken des Todes noch der Hölle, haben reine Gedanken und fröhliche Spekulation. – O, du mein liebes Kindlein, dir und allem, was mir zugehört, ist feind der Papst, Herzog Georg und alle, so es mit dem Papst halten, auch alle Teufel. Das giebt aber dem Kindlein nichts zu schaffen, es fürchtet sich vor ihnen allen nicht, fraget nichts danach, lachet und ist guter Dinge und lässet sie zürnen, so lange sie wollen.« –
Der Abend war bereits hereingefallen, und Katharina nahm davon Veranlassung, an die Heimkehr zu gemahnen, da der Hausarzt dem Doktor den Aufenthalt im Freien in der Abendluft streng untersagt hatte. Luther schien noch keine Lust zu haben, in die enge, dumpfe Stadt zurückzukehren, doch den Bitten seiner Käthe vermochte er nicht zu widerstehen, und mit schalkhaftem Lächeln fügte er sich in den hausfräulichen Befehl, indem er sagte: »Käthe, du beredest mich zu allem, was du willst!«