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Vor dem Elsterthor, in etlicher Entfernung von Wittenberg, ist ein Brunnen, dessen Ort man noch zeigt bis auf den heutigen Tag. Er heißt der Lutherbrunnen, denn Luther ist es gewesen, der ihn im Jahre 1520 gefunden und gegraben hat. Der Bergmannssohn hatte ein sicheres Gefühl und Witterung für alles Metall und Kleinod in der Erde.
Weil es nun um den Brunnen her so gar anmutig war von Baumwerk und Rauschen der fernen Elbe und stärkender Luft, so hatte sich der Doktor Martinus im Jahr 1526 an dem Brunnen ein luftiges Häuslein errichten lassen, dessen Inneres Käthens geschickte Hand mit allerlei Zierat geschmückt und mit Gerätschaft aufs bequemste ausgestaltet hatte, so daß es gut war, hier zu weilen, und reichlicher Zuspruch von Freunden die Mühe der Frau Doktorin belohnte. Auch hat Luther in dieser friedlich feierlichen Stille gern mit Melanchthon, Cruziger und Auerhahn über der Verdeutschung des Neuen Testaments gesessen und sonderlich hier im Beisein etlicher erfahrener Bürger und Handwerker das vierte Kapitel des Evangelium Johannis vom Jakobsbrunnen übersetzt. –
Es war ein warmer, sonniger Tag im Mai des Jahres 1528. Die Natur prangte in ihrem schönsten Schmuck, die Bäume standen in dem hellsten Grün, mit den Blumen im Garten, von Menschenhand gepflegt, blühten die wildwachsenden auf dem Feld um die Wette und spendeten Bienen und Schmetterlingen die süße Kost. Auf allen Zweigen pfiff und zwitscherte es im vollen Chor durcheinander, und auch die unter dem Joch gehenden Rosse der Bauern wieherten lebenslustig in den wonnigen Frühlingstag hinein.
In dem Brunnenhäuschen vor dem Elsterthor zeigt sich uns durch die weit offen stehende Thür ein lieblich Bild. Da sitzt der Doktor Martinus mit der Laute in der Hand und musiziert. Der Lenz hat ihm das Herz gepackt, und wo draußen in der Natur alles singt und klingt, da kann der Doktor Martinus auch nicht schweigen.
Zu seiner Seite sitzt Frau Katharina, den Säugling an der Brust, in süßem Träumen halb den Tönen der Laute lauschend, halb in die Herrlichkeit der Frühlingslandschaft verloren. Wie aber der Doktor aus dem freien, frischen Phantasieren in eine bekannte Melodie einlenkte, die er eigens für sein liebes Hänschen gesetzt hatte, da summte die Käthe unter leisem Wiegen des Kopfes mit, und auch der kleine Hans, welcher mit einem von Wolfgang gedrechselten Steckenpferd am Boden spielte, schaute aufmerksam in die Höhe, denn er wußte schon, daß dieses sein Lied sei.
Der Knabe war nun zwei Jahre alt geworden und recht fröhlich aufgeblüht, konnte sich schon geschickt auf seinem Holzpferdchen tummeln und mit Worten verständlich machen, wenn es auch mitunter zum Lachen war. Das Holzpferd war sein liebstes Spielwerk, und ein Vergnügen war's, ihm zuzusehen, wie die kindliche Einbildungskraft dem toten Dinge Leben gab und es wie ein lebendes Wesen behandelte. Es hatte seinen besondern Stall, den er ihm von drei Brettern in einer Ecke gebaut; es bekam sein Futter und Streu für die Nacht, und wenn es einmal krank ward, mußte Arznei herbei, und an tröstlichem Zuspruch fehlte es auch nicht.
Mit innigem Wohlgefallen ruhten der Eltern Augen auf dem sinnigen Spiel ihres Erstgebornen, und Käthe machte gegen ihren Gemahl die Bemerkung: »Das Hänsichen wird einmal, so Gott Gnade giebt, unsres Alters Trost und Freude werden.«
Dann aber die Augen auf den Säugling an ihrer Brust senkend, fuhr sie mit besorgter Miene fort: »Wo ich jedoch unsre liebe kleine Elisabeth anschaue, muß ich flugs der Worte des heiligen Apostels gedenken: »Habet, als hättet ihr nicht! Sie ist das Kind meiner Angst, in Angst geboren und mit Angst erzogen bis hieher. Sehet, wie gar bleich das kleine Gesichtlein ist und welche Schatten um die Augen her!«
Luther neigte sich zu dem Kindlein und streichelte ihm die kleine Hand. »Liebes Weib, jenes Wort des heiligen Apostels hat seine Kraft und Geltung nicht allein im Blick auf ein schwaches Kindlein, sondern alle unsre Kinder sollen wir immer haben, als hätten wir sie nicht. Hat sie uns doch der Herr nur auf den Borg, in die Kost und Ziehe gegeben und fordert sie sich wieder, wann er will.«
Über Katharinas Gesicht legte sich ein Schatten tiefen Wehs. »Damit habet Ihr wohl recht, liebster Herr Doktor, dennoch aber siehet man sie lieber kommen als gehen, und wenn man eines soll hergeben, muß da nicht das Herz zerbrechen? Ach, du mein liebes Elisabethlein, mein herziges Kind – – – –«
Sie preßte ihre Lippen auf die kleine, bleiche Stirn, und ihre Thränen rannen heiß hernieder.
Auch dem Doktor wurde es weich im Herzen, und er war froh, daß er seinen Freund Melanchthon nebst den Reichenbachschen Eheleuten daherkommen sah.
»Dachten wir es uns doch«, rief Frau Elsa schon von weitem, »daß wir Euch am Brunnen zu suchen hätten, da wir Euch daheim nicht fanden. O wie schön ist der Maien!«
Die Freunde setzten sich in den Kreis: Frau Elsa neben die Käthe, die beiden Männer zu dem Doktor Martinus.
»Ei«, hob dieser an, »was für einen feinen Geruch habet Ihr doch, liebe Freunde, daß Ihr gerochen habet, was mir Seine kurfürstliche Gnaden abermals verehret. Ich aber kann mich auch wohl eines feinen Gefühles rühmen, sintemal ich gefühlet habe, daß heute meiner Freunde etliche zum Brunnen kommen würden. Habe derhalben des gnädigen Herrn Geschenk hierher bringen lassen.«
Damit deutete er in eine Ecke, wo ein Fäßlein stand und daneben ein großer thönerner Krug. »Soll edler spanischer Wein sein, wie der Überbringer sagte, dem Doktor Martinus zur Stärkung.«
»Es ist ein guter Herr, unser Kurfürst«, bemerkte Reichenbach, »welcher auch wohl das Rechte zu treffen vermag. So müsset aber auch Ihr, Herr Doktor, der gütigen Weisung folgen und dessen, das zu Eurer Stärkung dienen soll, allein gebrauchen.«
Luther war aber bereits an dem Fäßlein und zapfte den Krug voll. »Was wollet Ihr, liebster Reichenbach? Wie soll der Wein mir eine Stärkung sein, so ich ihn wollte für mich allein trinken? Siehe, gleichwie geteilte Freude doppelte Freude ist, also ist auch geteilter Wein doppelter Wein.«
Damit reichte er dem Syndikus den Krug, und als dieser sich trotzdem weigerte, warf ihm Melanchthon einen bedeutsamen Blick zu und sprach: »Nehmet nur, Reichenbach, der Doktor ist nun fünfundvierzig Jahre alt geworden, da bessern wir ihn in diesem Stück nicht mehr.« –
So machte nun der Krug die Runde, und das ihm angeborene fröhliche Wesen brach bei Luther in dem Gespräch mit seinen Vertrauten immer urkräftiger hervor, daß man meinte, er könne sein Lebtag nicht traurig und schwermütig sein.
Gegen den Abend gesellten sich noch andere dazu, Wittenberger Bürger, die lustwandelnd aus dem Thor gekommen waren. Luther nötigte sie alle herbei, und sie mußten seine Gäste sein. Da es an Stühlen gebrach, lagerte man sich am Boden auf ausgebreiteten Mänteln, und das Gespräch drehte sich um allerlei Dinge, Angelegenheiten der Stadt Wittenberg und des Reiches Gottes, wie es sich gerade gab, bis endlich der Wolfgang dahergehinkt kam mit warmen Tüchern für die Frau Doktorin und die Kinder, sowie für den Herrn Doktor mit der bestimmten Mahnung, heimzukehren, ehe denn es Nacht werde und so weiter.
Gehorsam leistete Luther dem Befehl seines Dieners Folge, und die Gesellschaft kehrte gemeinschaftlich in die Stadt zurück. –
Prachtvoll erblühten diesen Sommer in Luthers Garten die Erfurter Rosen und erfreuten nicht bloß das Herz dessen, der sie gepflanzt, sondern auch aller derer, die er in den Garten nötigte, Gottes Wunderwerke anzuschauen, oder denen der mitteilsame Mann ein Sträußlein ins Haus schickte. Doch größer noch als über den Garten war des Doktors Freude, wenn er in die Kinderstube trat und da die sanften Röslein erblickte, die schüchtern auf Elisabeths Wangen erblühten. Wohl lächelte der Hausarzt, Doktor Augustin Schurf, schmerzlich zu der Freude des Vaters, doch dieser sah das nicht und hoffte das Beste für des Kindleins Gedeihen.
Es war aber der Tod, der hinter diesen Rosen arbeitete. Nicht lange, so war das schöne Rot wieder verblaßt, und mit einem durch die getäuschte Hoffnung doppelt niedergebeugten Herzen standen die Eltern an dem Bett des sterbenden Kindes und sahen, wie bitter der Tod sei, denn das Kindlein kämpfte hart und schwer. Am Beten fehlte es nicht, ob es zuletzt auch nur noch ein unausgesprochenes Seufzen war, aber der Herr sprach: »Gebet mir das Kindlein wieder!«
Da es nun in den letzten Zügen lag, und Luther, seine ganze Kraft zusammennehmend, sprach: »Herr, dein Wille geschehe!« da schrie Katharina laut auf: »Ach, lieber, himmlischer Vater, ist es denn nicht möglich, daß dieser Kelch an uns vorübergehe? Siehe, er ist so bitter, und ich meine, ich könne ihn nicht trinken!«
Wie nun Luther seines Weibes großen Schmerz sah, da brachen auch aus des starken Mannes Augen die Thränen, daß er weinte wie ein Kind.
Dieser Anblick übte aber auf die Katharina eine wundersame Wirkung. Ihr war erst selber um Trost so bange gewesen, nun sie aber ihres Mannes Schmerz sah, da kam es über sie wie die Kraft Gottes, daß sie ihn trösten konnte. Und siehe, nachdem Luther Trost empfangen, vermochte er auch hinwiederum welchen zu geben, sonderlich da, wo man den Deckel des Sarges zuschlug und das liebe, kleine Engelein hinaustrug. Da ist er hinter dem Sarg dreingeschritten durch das herbeigekommene, weinende Volk, und hat am Grabe geredet, sich selbst zum Trost und allen Anwesenden zur Erbauung, und hat da recht erfahren, welch ein Schatz das liebe Gotteswort sei, welches am lebendigsten und kräftigsten wirkt, wo die Seele durch Nacht und Trauer gehen muß, gleichwie der Demant dann am hellsten funkelt, wenn er auf dunklem Grunde ruht.
Der Wolfgang hatte ein hölzernes Kreuzlein gezimmert, das setzte er auf den Grabhügel und der Vater schrieb darauf:
Hic dormit Elisabeth, filiola Martini Lutheri. Anno 1528.
Zu deutsch: Hier schläft Elisabeth, Martin Luthers Töchterlein.
Die Katharina hatte ein tiefes Gemüt, so nagte das Weh an ihr mit lange anhaltender Gewalt. Dennoch lernte sie hier einen Segen der Trübsal kennen, den sie noch nicht gekannt hatte, daß nämlich ihre Hausgenossen, das Gesinde sowohl als auch die Kostgänger, welche in dem einen Flügel des Hauses wohnten, sich mit noch viel größerer Herzlichkeit der Teilnahme und des Diensteifers an sie drängten, als wollten sie, ein jeder nach seiner Art und Vermögen, der trauernden Mutter den Verlust ersetzen. Katharina war ihnen auch von Herzen dankbar und vergalt ihnen die Liebe, wie sie nur konnte.
Besser aber als Menschen wußte der Herrgott Ersatz zu geben; denn als auf Elisabeths Grab die Maienglöcklein blühten, da stieg zum Himmel auf der glückseligen Mutter Dank: »Der Herr hat genommen, der Herr hat gegeben, der Name des Herrn sei gelobt!« Und in seinem Stüblein saß der Doktor Luther und schrieb in fliegender Eile, daß die Feder spritzte und knarrte:
»Gnade und Friede in Christo! Mein lieber Freund und Gevatter Amsdorf! Weil uns der grundgütige Gott in unserm Elend und Traurigkeit angesehen und uns für das tote Mägdlein ein lebendiges geschenket, so bitte ich Euch, Ihr wollet eilen, daß dasselbige nicht lange ein Heide bleibe, sondern gar bald durch das heilige Sakrament im Himmel angeschrieben werde als ein Erbe des ewigen Lebens.«
Nachdem die heilige Handlung vollzogen war, nahm Luther sein Töchterlein auf den Arm und sprach: »O du liebes, kleines Lenichen, sollst uns zwiefach willkommen sein: einmal um deiner selbst willen, danach aber auch um deines geschiedenen Schwesterleins willen, welches uns in dir wieder auflebet; denn wo ich dich ansehe, meine ich, ich habe mein Elisabethlein wieder.«
Danach wandte er sich zu dem Bett der Wöchnerin und beugte sich über die noch sehr schwache, marmorblasse Frau: »Du allerliebstes Weiblein, wie muß ich dir danksagen, daß du mir unter großen Schmerzen und Ängsten abermals ein Kindlein geschenket! Was wäre doch der Doktor Martinus ohne seine Käthe! Seit ich dich habe, bin ich nicht mehr arm, sondern ein reicher Mann. Hast du mich lieb, o Herr mein Gott, so schütze, erhalte und segne mir das teure Leben!«