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Viertes Kapitel.
Freiheit.

Es war am Sonnabend vor dem heiligen Osterfest des Jahres 1523. Nach der feierlich bangen Stille des Karfreitags herrschte in dem Kloster nach beendeter Frühmesse ein reges Treiben. Schweigsam zwar ging es auch heute her, denn der Tag, an welchem der Leichnam des Herrn im Grab gelegen, forderte Ruhe und heiligen Ernst; aber die Hände der Klosterschwestern waren geschäftig, dem morgenden hohen Fest der Christenheit den würdigen Schmuck zu geben. Unter dem großen Schuppen saß eine Anzahl Nonnen und wand grüne Kränze von Moos und Zedernzweigen, mit denen sie hernach die Heiligenbilder und zumal die lebensgroße Statue der Mutter Gottes in der Kapelle zierten. Andere waren beschäftigt, den am Karfreitag alles Schmucks entblößten Altar in sein festliches Gewand zu hüllen, den weißen Seidenbehang mit goldener Stickerei, und auf die sauber geputzten Leuchter die neuen Wachskerzen zu stecken, welche Leonhard Koppe jüngst gebracht. Noch andere bauten in der Altarnische die plastische Darstellung der Auferstehungsgeschichte auf: das Grab mit den zu Boden gestürzten Hütern ringsum und dem aus der Thür heraustretenden Heiland mit der Fahne.

Unter diesen Zurüstungen verstrich der ganze Vormittag.

Beim Mittagsmahl ging es still und eintönig her, denn nur spärliche Kost erlaubte der strenge Fasttag. Den Nachmittag war das Kloster öde wie ein Grab. In ihren Zellen saßen die Nonnen, an Leib und Seele müde von den Anstrengungen der »großen Woche«, denn seit dem Palmensonntag waren sie nur wenig in das Bett gekommen und hatten die meiste Zeit in der Kapelle zubringen müssen mit Fasten, Beten, Singen, Beichten und Messehören. Mochte darum wohl manch eine sich des lieben Osterfestes nicht allein um dessentwillen freuen, daß da der Herr erstanden ist zum Heil der Welt, sondern auch um ihrer selbst willen, daß dem ermatteten und entnervten Leib sein Recht wieder werde und die Seele aus ihrer Erschlaffung zu neuer Lebenskraft erstehe. –

Der Abend dämmerte langsam herauf. Noch einmal rief das Glöcklein zur Hora und die Klostervögtin zu der dünnen, aschgrauen Fastensuppe, dann erstarb in dem Kloster der letzte menschliche Laut, und die Andachtmüden streckten sich auf ihr Lager, um im Schlummer noch etliche Stärkung zu erraffen für die letzte Anstrengung, die um Mitternacht beginnende Ostervigilie, jenen nächtlichen Gottesdienst, der in geheimnisvollem Ahnungsschauer die Seele von Stufe zu Stufe spannend aufwärts führt bis zu dem Augenblick, wo der Strahl der aufgehenden Sonne die leise Murmelnden zum Jauchzen weckt, daß im vollen Chor, von Trompeten und Pauken begleitet, ihr Lobgesang zum Himmel dringt:

Christ ist erstanden
Von der Marter Banden!
Des soll'n wir alle froh sein,
Christus will unser Trost sein.
Kyrieleis. –

Es war eine feucht kalte, unheimliche Nacht. Ein scharfer Wind aus Nordwest jagte die Wolken vor sich her über die Mondscheibe hin, deren blasses Licht gespenstige Schatten auf die Erde warf, und im Walde bogen sich knarrend die Wipfel.

Auf der von Torgau kommenden Straße bewegte sich langsam ein großer Lastwagen, mit Tonnen beladen, daher. Wenn die sich teilenden Wolken dem Mond freie Bahn ließen, wurden auf dem Gefährt drei Gestalten sichtbar, welche, tief in Decken gehüllt, schweigend nebeneinander saßen.

In der Nähe des Klosters angekommen, bog das Fuhrwerk von der Straße ab. Einer der drei Männer sprang herunter und nahm die Rosse beim Zügel.

»Wisset Ihr auch den Pfad genau, Gevatter?« fragte es leise aus dem Wagen.

»Sorget nicht!« war die Antwort. »Ich kenne hier jeglichen Weg und Steg. Nur bis zu dem Wasser noch, dann lassen wir das Geschirr im Schutz der Erlen. Du, Kaspar, bleibest bei den Rossen und sorgest für deren Notdurft, Ihr aber, Gevatter, kommet mit mir.«

Kaspar, der Brudersohn Leonhard Koppes, stieg von dem Wagen, warf den Rossen Heu vor und holte aus dem Teich einen Eimer Wasser. Währenddessen schritten die beiden andern behutsam auf das Kloster zu.

»Sehet Ihr dort die Gartenmauer?« sagte Leonhard, den Arm ausreckend. »Auf dieser krieche ich bis zur Stelle, wo sie an die Zelle der Katharina von Bora stoßet. Schauet dort, wo das Licht schimmert, das ist die Zelle. Mit großer Freude nehme ich wahr, daß alle andern Fenster dunkel sind; so ist meine Vermutung nicht irre gegangen: die Nonnen schlafen bis zur Mitternacht. – Noch ist aber nicht die zehnte Stunde; darum lasset uns die Zeit nützen, um das Kloster zu schleichen, ob nichts Verdächtiges vorhanden.«

Vorsichtig tappend machten sich die Männer auf den Weg, indem Koppe seinen Gevatter Tommitzsch bei der Hand nahm, denn dessen Füße hatten wegen des unsichern Augenlichts eine starke Neigung zum Straucheln. Der Weg führte hart am Weiher entlang und war nicht ohne Gefahr, da das Weidengebüsch des steilen Ufers sich stellenweis beschwerlich um die Beine der Wanderer schlang und überdem der Schatten der Erlen das Licht des Mondes entkräftete.

»Die Äbtissin schläft noch nicht«, sagte unmutig Koppe nach einer Weile, als sie die östliche Front des Klosters vor sich hatten. »Das alte Gespenst hat wenig Ruhe und geistert gern in der Nacht herum zum Schrecken der Nonnen. Es ist eine wunderliche Person, hat mir durch ihr Mißtrauen und schnöden Geiz schon manchen Verdruß beim Handel bereitet. In ihren eignen Augen aber ist sie eine Heilige, denn ihrer guten Werke ist eine so große Zahl, daß sie bis in den Himmel hineinreichen gleich dem babylonischen Turm. Blicket derhalben auch sehr getrost und mutig drein und fürchtet sich vor nichts, ausgenommen vor dem Käuzlein, dessen Stimme ihr also durch die Nerven schneidet, daß ihr die Sinne vergehen. Zahlet darum auch für jegliches Käuzchen-Ei, so ihr im Frühling gebracht wird, einen Goldgulden.«

Wolfgang Tommitzsch brummte etwas vor sich hin, was sich anhörte wie eine Reihe von Verwünschungen. Nach einer Weile blieb er plötzlich stehen und packte seinen Begleiter am Arm. »Gevatter, ich gehe nicht weiter mit Euch!«

»Was ficht Euch an?« fragte Koppe entsetzt.

Tommitzsch fuhr gelassen fort: »Ihr möget bei Eurer Enthebungsarbeit meiner Mithilfe wohl entraten, und bessere Dienste kann ich Euch thun, so ich umkehre und die Äbtissin unschädlich mache.«

» Was wollt Ihr?« fragte Herr Koppe mit wachsendem Befremden.

Tommitzsch beruhigte ihn: »Das Käuzlein nachzuahmen verstehe ich wohl, wie auch den Sperber und die Katze. So will ich, wenn die Zeit gekommen, unter dem Fenster der Alten das Käuzlein sein, so die Furchtlose zu fürchten macht. Inzwischen thut Ihr Euer Werk.«

»Wahrlich, Ihr seid ein kluger Ratgeber«, sagte Koppe, seinem Freunde vergnügt auf die Schulter klopfend. »Wie froh bin ich, daß ich Eure Hilfe gesuchet! Nun etliche Minuten noch, so heben wir an.«

Beide Männer reichten sich die Hände und trennten sich mit dem Wunsche glücklichen Gelingens.

Mit verdoppelter Behutsamkeit schlich Koppe an der Gartenmauer dahin, bis er zu der Stelle kam, wo wegen etlicher ausgebröckelter Steine die Ersteigung am leichtesten war. Ohne Geräusch gelangte er auf die Mauer und kroch auf derselben hin.

Zu seinen Ohren drang durch die Stille der Nacht ein kurzer Schrei, daß er zusammenschrak. Aber bald faßte er sich und murmelte, lächelnd über seinen Schreck: »Das Käuzlein!«

Noch etlichemale wiederholte sich dieser Schrei, und Koppe war inzwischen wohlbehalten zu dem erleuchteten Zellenfenster gelangt. Er richtete sich auf der Mauer empor – wehe, das Fenster war zu hoch, als daß er es mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte. Er hatte sich in der Höhe getäuscht.

Was war nun zu thun? Wie sollte er sich bemerklich machen? Zu rufen durfte er ja nicht wagen. Und wie sollte er die Nonnen von der Höhe ungefährdet herabbekommen? Es blieb ihm nichts übrig, als mit der Faust an die Wand zu klopfen. Umsonst – durch die starken Mauern wurden die Schläge nicht hörbar. Da besann er sich auf einen Schlüssel, den er in der Tasche trug; damit wiederholte er sein Klopfen, und die Schläge gaben einen hellen Klang.

Horch, in der Zelle entsteht ein Geräusch! Das Fenster thut sich leise auf, und Koppe erkennt die Umrisse eines sich herausneigenden Kopfes.

»Der Retter ist da!« ruft er im Flüsterton hinauf und vernimmt ein halblautes »Gelobt sei Gott!«

Der Kopf zog sich wieder zurück, um aber alsobald wieder hervorzutauchen, und Koppe hörte die Worte: »Harret still, bis wir den Strick an dem Gitter befestiget!«

Da erstarb ihm auf den Lippen die Klage, die er eben wollte laut werden lassen – die weibliche List hatte besser gesorgt, als die Klugheit des Mannes. –

Kaum eine Minute war verstrichen, da fiel ihm der herabgelassene Strick auf den Hut, der ihm beinahe entfallen wäre, dann noch eine Minute, und die erste Nonne stand neben ihm auf der Mauer.

»Kriechet fürsichtig fürbaß!« raunte er der Bebenden zu. »Will inzwischen stehen und die andern empfahen.«

Wieder schrie das Käuzlein, sonst regte sich außer den im Winde schwankenden Wipfeln nichts.

In überstürzender Hast glitten die Nonnen herab und krochen hinter der ersten auf der Mauer dahin bis zu der bezeichneten Stelle. Koppe folgte ihnen nach, sprang zuerst von der Mauer und half den Klosterschwestern herab.

Einer derselben entrang sich unwillkürlich ein gepreßter Freudenschrei; Koppe aber raunte ihr heftig zu: »Noch ist es nicht Zeit zum Jubilieren. Eilet leise hinter mir drein zu dem Wagen!«

Dieser war bald erreicht, und der Händler barg die Nonnen zwischen den Fässern, sie in dem Stroh so tief verhüllend, daß nichts von ihnen sichtbar blieb. Dann holte er in Eil das Käuzlein von seinem Posten herbei, setzte sich mit diesem auf und ließ die Rosse anziehen.

Dunkel, träumerisch, unheimlich, wie ein ungeheurer Sarg lag das Kloster da, kein Licht flimmerte mehr, auch die Zelle der Äbtissin war finster – das Käuzlein hatte also mit seinem Sang die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt: die Heilige hatte ohne Zweifel unter der Bettdecke Schutz gesucht gegen das markerschütternde Geschrei des Totenvogels.

Regungslos kauerten die Nonnen in ihrem Versteck – keine wagte ein Wort zu reden, allen lag wie ein Mühlstein auf dem Herzen das Nachweh der überstandenen Angst und die Furcht vor neuer Fährlichkeit.

So ging es etwa eine Stunde. Dann wurde plötzlich der Wagen angehalten, und eine blecherne Stimme rief den Fuhrmann an: »Was führet Ihr?«

Man stand auf der Grenze herzoglich sächsischen Gebiets.

»Heringstonnen!« gab kurz und bestimmt Koppe zur Antwort. »Haltet mich nicht lange auf, Freund, denn starr sind meine Gliedmaßen von der nächtlichen Kälte.«

Ein Mann kletterte an dem Wagen in die Höhe und betastete prüfend den Inhalt.

»Passieret!« rief er dem Rosselenker zu, und schnelleren Trabes eilten die Rosse weiter.

In dem Stroh fing es jetzt an zu rascheln und zu sprechen, auch Koppe und Tommitzsch gaben hier und da ein Wörtlein dazu. Die Nonnen wollten empor aus dem erstickenden Gewahrsam, aber das gestattete der umsichtige Retter noch nicht. Doch als nach etlichen Stunden im Osten sich der Himmel färbte und bald der erste Strahl der Ostersonne feurig aufblitzte, da ward es zwischen den Tonnen lebendig, und wie auf Verabredung klang es jubelnd von den Lippen der emporgerichteten Nonnen:

»Christ ist erstanden
Von der Marter Banden!
Des soll'n wir alle froh sein,
Christus will unser Trost sein.
Kyrieleis!«

Der Leonhard hatte wehrend die Arme erhoben, aber bald ließ er sie sinken und lauschte dem Gesang, der wie vom Himmel kommend ihm erschien. Er saß da mit Thränen in den Augen und duldete es auch, daß die Nonnen sich zu ihm drängten, ihm die Hände drückten und sich überboten in Danksagung, von welcher auch den beiden andern ihr gebührendes Teil abfiel.

In der Glut heiliger Begeisterung stand Katharina von Bora und rief mit himmelwärts gehobenen Händen: »Ostern! Ostern! Du Wort voll Freude und voll Lebens! Ach höre unsern Auferstehungshymnus, ewiger Erbarmer! Wir waren tot und sind nun lebendig geworden. Das Grab hat seine Beute hergeben müssen, und mit dem lichten Gold der Ostersonne grüßet uns das Leben. Hallelujah! O Welt, aus der ich floh, nimm mich wieder hin, denn Täuschung und Wahn war des Klosters Heiligkeit. Nimm mich wieder hin, o Welt, von Gottes Sonne beschienen und von wirklichen Menschen belebt; in dir will ich Gott besser dienen, als in dem Ordenskleid. Du aber, Herr der Welt, dein Reich ist groß, du wirst darinnen auch ein Plätzlein haben für die arme Katharina!«


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