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Drittes Kapitel.
Morgengrauen.

An dem Fenster seines Erkerstübleins in dem Eckhaus am Markt zu Torgau saß der Kaufherr Leonhard Koppe, ehemaliger Ratsherr und Amtsschösser, ein Mann in der Mitte der Fünfzig, mit einem apfelrunden, klugen und behäbigen Gesicht. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und ließ seine Augen verloren ins Leere gehen. Bisweilen bewegte er sich unruhig auf seinem Sitz hin und her und strich sich mit der Hand über die Stirn. Er schien einem Gedanken nachzuhängen, mit dem er nicht ins Reine kommen konnte. Seine Ehewirtin, die Susanne, welche ab und zu ging, hatte ihn schon zu mehreren Malen gefragt, was ihm denn Krauses in Wittenberg zugestoßen sei, daß er für seine Lebensgefährtin kein freundlich Wort habe; aber sie hatte entweder gar keine Antwort bekommen, oder eine grobe, daß sie schließlich im Verdruß von dannen ging.

Jetzt klopfte der Kaufherr plötzlich an das Fenster und winkte lebhaft nach der Gasse hinunter. Bald darauf trat ein ältlicher, hagerer Mann in das Gemach, der Lichtziehermeister Wolfgang Tommitzsch, den der Leonhard freundlich willkommen hieß und neben sich auf einen Holzschemel nötigte. »Zur guten Stunde seid Ihr an meinem Haus vorübergegangen, wertester Freund und Gevattersmann. Ihr seid ein Mann guten Rates, und da ich dessen bedürftig, so habe ich Euch zu mir heraufgewinket.«

»So saget an!« erwiderte Herr Wolfgang, ohne eine Miene zu verziehen.

Leonhard Koppe knöpfte sich das Wams auf und erzählte: »Bin gestern von Wittenberg, allwo ich in Handelsgeschäften anwesend, zurückgekommen. Habe auch den lieben Doktor Martinus in der Stadtkirche predigen hören – ach, so gewaltig, daß mir die Worte noch in den Ohren gellen. Nach der Predigt aber geriet ich von ungefähr auf den Luther, da er aus der Kirche heimkehrete. Da hat er mich stracks am Wams erwischet und gesagt: ›Ei, seid Ihr es, viellieber Koppe? Eben waren meine Gedanken bei Euch, und nun schaue ich Euch plötzlich leibhaftig vor mir, als wäret Ihr vom Himmel gefallen. Solches deuchet mir Gottes Fügung und Fingerzeig, daß Ihr der Rechte seid, das Werk hinauszuführen, so mir auf dem Herzen lieget. Ist es nicht also, daß Ihr in dem Kloster zu Nimptschen bekannt seid, indem Ihr das Tuch und Wachs dahin liefert?‹ – Da ich nun solches bejahete, fuhr der Doktor fort: ›Ei, so merket auf! Sitzen dorten neun edle Jungfrauen, die haben die Nonnerei satt, wissen aber nimmer, wie sie sollen der Freiheit teilhaftig werden. Haben sich in ihrer Not, nachdem sie vergeblich die Ihrigen angeflehet, an mich gewendet, daß ich ihnen hülfe. Solches möchte ich auch wohl gern, aber mein Arm ist kurz und langet nicht von Wittenberg bis gen Nimptschen. Kann doch auch nicht selber hingehen und die Gefangenen lösen, heimlich oder mit Gewalt. So bedarf ich eines Mannes, der mir seinen Arm leihe. Bitte derhalben Euch, liebster Koppe, Ihr wollet es um Gotteswillen thun, denn Ihr des Ortes Gelegenheit wisset, habet auch einen feinen Kopf, den rechten Weg zu erklügeln, und ein gutes evangelisches Herz, Euch der Elenden zu erbarmen. Wollet Ihr es thun?‹ – Da habe ich denn ja gesagt, denn wer mag dem Luther widerstehen, so er einen mit seinen großen Blitzaugen anschauet und mit seiner liebfreundlichen Stimme bittet? War auch ordentlich stolz, daß er bei mir auf der offenen Straße stand, der große Mann, der sich weder vor dem Papst noch vor dem Teufel fürchtet, und mit mir redete als mit einem vertrauten Kumpan. – Da er aber hinweg war, da ward es mir doch schwül in der Herzgegend, denn ich merkete, daß ich einen Turm gebauet, ohne zuvor die Kosten zu überschlagen. Habe mich schon auf dem ganzen Heimweg mit diesem Gedanken getragen und sitze nun allhier und plage mich ab, wie der Handel anzustellen. Siehe, je näher ich die Sache besehe, desto schwieriger und kitzeliger erscheinet sie mir. Denn wie soll ich den Nonnen meinen Vorsatz hinterbringen, ohne daß die Äbtissin davon Witterung bekommt? Hat sie doch trotz ihrer siebenzig Jahre Augen im Kopf gleich einem Luchs und eine Nase gleich einem Fuchs. Wo es mir aber wirklich gelungen wäre, ihnen heimlich zu nahen, wie soll es möglich sein, sie unbemerkt aus dem Kloster zu entführen? So es eine einige wäre, möchte es wohl angehen, aber eine ganze Wagenladung voll? Hätte ich sie aber alle glücklich heraus, so müßten wir durch Herzog Georgs Gebiet, und dieses ist eine gefährliche Fahrt, maßen der Georg den Luther mehr hasset denn den Teufel. – Liebster Gevatter, was ratet Ihr mir?«

Der Angeredete schloß halb die Augen und wiegte nachdenklich den Kopf. Nach einer Weile schaute er auf und sagte: »Der Nonnen Not gehet mir auch an das Herz, denn jüngst erst bin ich Zeuge gewesen von der Freude meiner Schwestertochter, so mit Hilfe ihres Vetters dem Kloster zu Wurzen entronnen. So mag die Freude eines Menschen sein, der aus dem Grab wieder zum Leben auferstehet. Aus dem Tode aber einem Menschen zum Leben zu helfen, solches mag ein gutes, gottgefälliges Werk sein. Derhalben erbarmet es mich auch der neun Nonnen von Nimptschen, wiewohl mir selbige nicht bekannt; und so es nun vollends der Doktor Martinus begehret, wer könnte sich da noch wehren und sperren? So gehet nur frisch daran, Gevatter, ich aber will Euch gerne zur Seiten stehen.«

»Dafür sollet Ihr meinen wärmsten Dank haben!« rief frohlockend der Kaufherr, indem er dem Freunde die Hand schüttelte. »So Euer Kopf mir denken hilft, wird es wohl hinausgehen.«

Ruhig erwiderte der Lichtzieher: »Es ist ein gutes Werk, so wird Gott uns helfen. – Höret, Gevatter, wann habet Ihr die nächste Lieferung von Tuch und Kerzen an das Kloster?«

»Jeden Tag kann solche geschehen, denn Ostern ist nahe«, erwiderte Herr Leonhard. »Was habet Ihr damit im Sinn?«

»Was ich im Sinn habe?« gab Tommitzsch zurück. »Wie gar leicht ist es doch bei solcher Gelegenheit, den Nonnen ein Brieflein zuzustecken!«

Koppe horchte aufmerksam auf, und nach kurzer Beratung verließ der Lichtzieher des Gevatters Haus.

Schon am folgenden Mittag bewegte sich ein schwerfälliges Gefährt, mit Segeltuch überzogen, auf der Straße von Torgau nach Grimma und hielt am Abend desselben Tages vor dem Thor des Klosters Marienthron zu Nimptschen, just um die Zeit, da die Nonnen nach eingenommenem Nachtessen sich in dem Hof und Garten lustwandelnd ergingen.

Die Ankunft eines Proviantwagens von draußen aus der Welt war in dem Einerlei des Klosters immer ein Ereignis, zumal wenn der Herr Leonhard Koppe aus Torgau kam, der freundliche, gesprächsame Mann, der immer alle Taschen voll Neuigkeiten mitbrachte und so scherzhaft zu erzählen wußte – denn die Himmelsbräute hörten merkwürdigerweise für ihr Leben gern einmal einen irdischen Spaß.

Auch heute war der Torgauer Händler bald von den Klosterjungfrauen umringt und kramte unter heiterer Rede seine Ware aus. Doch war es, als ob seine Augen nach etwas suchten, und den Nonnen schien es, als wären seine Gedanken irgendwo anders, denn seine Antworten waren zerstreut und paßten manchmal gar nicht auf die Frage. Als vollends Magdalena von Staupitz, aus dem Garten kommend, herzutrat, wurde er einsilbig und deutete an, daß ihm heute das Schwätzen schwer werde.

Beim Herannahen der Staupitz hatte er dieser mit den Augen einen verstohlenen Wink gegeben, und diese hatte sich darauf schnell abgewendet, um die andern nicht die Röte sehen zu lassen, die dieser Wink auf ihren Wangen verursachte. Sie war nach dem Garten zurückgegangen, hatte sich aber in der Nähe der Thür hinter einem Fliederstrauch verborgen, von wo sie den Hof übersehen und den Wagen beobachten konnte.

Nachdem sich nun die Nonnen allmählich hinwegbegeben, näherte sie sich dem Wagen wieder und versuchte in dem Gesicht des Händlers die Deutung seines Winks zu lesen. Hinter dem Wagen, wo er von dem Kloster aus nicht gesehen werden konnte, steckte er ihr in aller Behendigkeit ein Zettelchen zu und flüsterte: »Nehmet und leset! Zur rechten Stunde werde ich an Ort und Stelle sein!«

Damit stieg er auf den Wagen, um sich in dem Stroh ein Lager zu rüsten, und die Nonne verschwand im Schatten des Klosters.


»Was ist dir, Schwester Magdalena?« fragte nach beendeter Abendhora die Äbtissin das Fräulein von Staupitz. »Bist du krank? Siehe, dein Angesicht ist bleich wie einer Toten, und in deiner Hand zittert der Rosenkranz.«

Magdalena schlug die Augen nieder und sagte leise: »Es ist als ein Fieber in mir; und mühselig war meine Andacht, denn mein Kopf ist wüst und schwer.«

»So laß dir einen Thee bereiten!« sagte die Äbtissin.

Gehorsam entwich die Nonne aus der Nähe der Gefürchteten, trank das bereitete Getränk und suchte dann ihre Zelle auf, um der Qual der teilnehmenden Fragen zu entgehen.

Droben in ihrer Klause trat ihr Katharina von Bora entgegen: »Du erschreckest mich, Schwester! Sage, was ist geschehen? Mein Herz pochet in ungestümer Angst, doch mochte ich dich drunten vor den andern nicht fragen.«

Magdalena schob tief aufatmend den Riegel vor, dann fiel sie der Schwester zitternd um den Hals: »Katharina, liebe Katharina, der Morgen grauet, der Tag der Freiheit dämmert! Luther – Luther – o du Prophet des höchsten Gottes, du Retter des deutschen Volks, du willst auch unser Engel werden?!«

Der Katharina ward es heiß in Magdalenas Armen, und ein ahnungsvoller Schauer ging durch ihr Gebein. »O rede mir nicht in Rätseln, Schwester!« rief sie. »Rette mich aus der Pein des Hangens zwischen Hoffen und Fürchten!«

Magdalena beruhigte sich allmählich und zog behutsam einen Papierstreifen aus dem Busen. »Siehe hier die Antwort auf unsre Bitte an den Doktor Martinus! Leonhard Koppe, der Händler, hat es mir heimlich zugesteckt. Es ist schwer, die Buchstaben zu entziffern, denn Herrn Koppes Hand tauget zum Schreiben wenig. Horch, wie es heißt: ›Der Doktor Martinus grüßet die neun Schwestern und will sie erretten, und zwar durch mich, den Torgauer Leonhard Koppe. So haltet Euch bereit: in der Nacht vom Karsonnabend zum heiligen Ostertag, den 4. April um die zehnte Stunde bin ich unter dem Fenster der Katharina von Bora, von wo aus die Flucht am ehesten zu bewerkstelligen. Thuet, was Euch oblieget zu der nötigen Heimlichkeit, und der Allmächtige sei Euch gnädig!‹«

Katharina wollte aufjubeln, aber Magdalena legte ihr gebieterisch die Hand auf den Mund. »Zähme deine Freude, Schwester! Wenn Gott uns einen Weg bahnen soll, so darf nicht unsre Unfürsichtigkeit ihm Steine hineinlegen. Bedenke: unser Heil und Verderben ist in unsre Hand gegeben. Wehe, wenn wir uns selbst verrieten und unsern Retter an den Pranger stellten!«

»Wie sagst du,« fiel Katharina erregt ein, »in der Osternacht? Erbarm's Gott, ist dieses nicht die allerunschicklichste Zeit?«

»Du meinest wegen der Vigilie?« fragte Magdalena und versank in stilles Sinnen. Dann that sie noch einmal einen schnellen Blick in den Brief, und freudig leuchtete ihr Auge auf. »O, gerade diese Nacht wird unserm Fürnehmen günstig sein. Um Mitternacht beginnet die Vigilie, und frühzeitiger gehet man zuvor am Abend schlafen, um noch etlichen Schlummers zu genießen. Hier aber lese ich, daß um die zehnte Stunde der Torgauer unser warten will. Ist dieses nicht fein ausgesonnen? O, in neuem Mut der Hoffnung hebet sich meine Seele, und das letzte, bange Zittern ist still.«

Von ihrem Gefühl überwältigt sank Magdalena in die Kniee – Katharina ihr nach – und aus dem tiefsten Herzen kam's herauf, als sie sprach: »Du Herr meines Lebens, du Gott meines Heils, dir danke ich, daß du ein Herz gelenket zu unsrer Erlösung, dir traue ich, daß du das angefangene Werk auch vollführen werdest, um deines Namens willen. Amen.«


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