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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Das gute Lenichen.

Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen, und die Gott lieb hat, die züchtigt er.

Durch tiefe Fluten der Angst und Not waren sie beide schon gegangen, Martin Luther und seine Käthe, er vorauf, der Held im Kampf der Geister, und sie hinterdrein, in heiliger Liebe alles mitfühlend, was den teuren Gatten, ihr anderes Ich, ins Herz traf. Aber noch sollte die Prüfung und Läuterung nicht zu Ende sein, durch den bittersten Schmerz, der ein Vater- und Mutterherz verwunden kann, sollten sie nach Gottes Ratschluß noch hindurch. –

Sie saßen einmal unter dem Birnbaum bei einander, von der Schar ihrer Kinder umgeben, und die Rede kam von ungefähr auf Isaaks Opferung. »Lieber Gott«, äußerte sich Luther, »wie mag sich ein Herzbrechen in dem Abraham erhoben haben, da er seinen einigen und allerliebsten Sohn Isaak hat sollen töten! O wie wird ihm der Gang an den Berg Moriah so sauer angekommen sein, er wird der Sarah nichts davon gesagt haben. Ich wollte wahrlich mit Gott disputieret haben, wo er mir solches vorgelegt und zugemutet hätte.«

Darauf antwortete seine Hausfrau mit starkem Seufzen: »Ich kann es nicht in meinen Kopf bringen, daß Gott so grausam Ding von uns begehren sollte, sein Kind selbst zu erwürgen.«

Luther aber kam durch solche Einrede wieder auf die richtige Fährte und sagte: »Liebe Käthe, kannst du denn das glauben, daß Gott seinen eingebornen Sohn, unsern Herrn und Heiland Jesum Christum, hat wollen für uns sterben lassen? Da er doch nichts Lieberes im Himmel und auf Erden gehabt hat, denn diesen geliebten Sohn, so lasset er ihn dennoch für uns kreuzigen und den schmählichen Tod des Kreuzes leiden. Sollte allhie die menschliche Vernunft nicht urteilen und sagen, daß sich Gott viel väterlicher, holdseliger und freundlicher erzeiget hätte gegen Kaiphas, Pilatus, Herodes und andere, denn gegen seinen eingeborenen Sohn? Abraham hat müssen glauben, daß eine Auferstehung der Toten sein würde, als er seinen lieben Sohn Isaak opfern sollte, von dem er doch die Verheißung hatte, daß durch ihn der Messias sollte geboren werden, wie die Epistel zu den Hebräern zeuget.«

Katharina mußte dem Doktor Recht geben, und doch ruhte mit schmerzlichem Blick ihr Auge auf den Kindern, und drinnen das Herz zuckte zusammen bei dem Gedanken, daß Gott ihr eines derselben abfordern könnte, wenn auch nicht auf so grausame Art. Sie zog das Lenchen, welche gerade neben ihr saß und andächtig zugehört hatte, mit stürmischer Inbrunst an ihre Brust und küßte ihr den lieblichen Mund zu wiederholten Malen. –

Dieses Gespräch wurde aber im Lauf der Zeit vergessen, und die blühende Gesundheit der Kinder, die selten einmal durch eine leichte und vorübergehende Unpäßlichkeit gestört ward, beseitigte vollends in dem Herzen der Mutter den letzten Rest von Furcht.

Und doch hatte es der Todesengel gerade auf die zarteste, holdeste, lieblichste Blume abgesehen.

Im September des Jahres 1542 war's, als das Lenchen, während sie bei einer Handarbeit zu Füßen ihrer Mutter saß, sich plötzlich im Gesicht verfärbte und über große Schmerzen in der Brust zu klagen anfing. Der schnell herbeigerufene Arzt untersuchte die Kranke mit aller Sorgfalt, konnte aber den Sitz und die Ursache der Krankheit nicht entdecken. Er verordnete zwar einen Trank, aber nur um erst zu versuchen.

Es war das rechte Mittel nicht, und das Übel wuchs mit erschreckender Schnelligkeit.

Vater und Mutter wichen nicht von des Kindes Lager und sahen sich an, als suchte einer bei dem andern Trost, und wandten sich dann in ihrer Hilflosigkeit nach oben zu dem, der allein vom Tod erretten kann, der Vater mit lautem, starkem Beten, die Mutter mit unausgesprochenem Seufzen.

Das Kind hatte viel Schmerzen und Beängstigung, aber es lag still und ergeben, es sagte nichts, es klagte nichts, man erriet es nur an den zuckenden Muskeln des marmorblassen Gesichts, das im Angesicht des Todes immer schöner und lieblicher ward, als schimmerte durch die durchsichtiger werdende Haut die Seele hindurch, die reine, lautere, engelhafte Seele.

Ach ist das ein Schmerz, wenn ein Vater, eine Mutter ihr Kind leiden sieht und möchte ihm gerne helfen und kann doch nicht, möchte ihm gern die Schmerzen abnehmen und vermag's doch nimmermehr! –

Manchmal, wenn Katharina nicht im stande war, die Thränen zurückzuhalten, wandte das Lenchen den Kopf herum, und ein halb bittender, halb tröstender Blick ihrer lieben, himmelblauen Augen sprach der Mutter zu: Weine nicht!

Als so mehrere Tage hingegangen waren, richtete sich das Kind eines Morgens mühsam auf und sagte zu dem dasitzenden Vater: »Mein Vater, mich verlanget herzlich, meinen Bruder Johannes zu sehen, denn ich habe ihn sehr lieb. Möchtet Ihr nicht nach Torgau schicken und den Herrn Magister Crodel bitten, daß er ihn auf etliche Tage aus seinem Unterricht entlasse? Er ist ja so fleißig, der gute Johannes, wird das Versäumte bald nachholen.«

Luther streichelte liebkosend die feuchtkalte Stirn und sagte dem Lenchen die Bitte zu. –

Nach zwei Tagen war der Johannes schon da. Er hatte keine Ahnung gehabt von der Ursache der Zurückberufung, denn Luther hatte in seinem Briefe an den Magister Markus Crodel, dessen Unterricht der Hans seit einiger Zeit genoß, diesem streng anbefohlen, von Lenchens schwerer Erkrankung nichts verlauten zu lassen. Um so größer aber war der Schrecken des armen Knaben, als er, zur Thür hereintretend, sein geliebtes Schwesterlein mit ganz verändertem Gesicht in dem Bett liegen sah.

Es war herzergreifend, wie die beiden Geschwister sich begrüßten, daß Katharina nicht im stande war, zu bleiben. Sie meinte, das Herz zerbräche in ihr, und Luther, der starke Mann, mußte sich zum Fenster wenden, um die Thränen in seinen Augen zu verbergen. –

Die Tage schlichen hin, und die Herzen wurden zwischen Fürchten und Hoffen hin und her geworfen. Mit angstvoller Miene hingen der Mutter Augen an dem Gesichtsausdruck des Arztes, und sie wagte nicht zu fragen, denn sie fürchtete zerschmetternde Antwort.

Wohlthuend war ihr die Teilnahme der Freunde, ja des ganzen Wittenberg, und doch war jede neue Erzählung des Krankheitsverlaufes ein neues Aufwühlen des Schmerzes.

Schon zwei ganze Wochen hindurch war sie in kein Bett gekommen. Die Liebe hatte sie stark gemacht, die Liebe, die sich selbst vergißt. Endlich aber forderte die Natur ihre Rechte: der müde Leib sank aufs Lager, und in tiefem Schlummer schenkte ihr Gott einige Stunden Vergessenheit, zeigte ihr auch im Traum ein liebliches Bild: von lichtem Glanz umflossen, wie ein Engel, schwebte ihr Lenchen auf einer Wolke, und zwei junge, schöne Gesellen kamen, sie zur Hochzeit zu holen.

Sie erzählte diesen Traum am andern Morgen ihrem Gatten und fügte hinzu: »Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Ich nehme das Traumgesicht als eine gute Vorbedeutung.«

Melanchthon, welcher gerade anwesend war, verzog in schmerzlichem Lächeln den Mund und sagte, nachdem sich Katharina entfernt hatte, zu seinem Freunde: »Deutest du den Traum auch also, liebster Martinus? Deinem Weib wagte ich nicht zu widersprechen, dir aber muß ich es sagen, was das Traumbild sei, denn von dir weiß ich, du hast das liebe Kind dem Herrn schon übergeben. Die beiden jungen Gesellen sind die lieben Engel, die werden kommen und diese Jungfrau in das Himmelreich Zu dem rechten Bräutigam heimführen.«

Luther neigte schweigend das Haupt und faltete die Hände auf der Brust. Nach einer Weile sprach er: »Ich habe sie sehr lieb und wollte sie gern behalten, wenn sie mir unser Herrgott lassen wollte; aber ist es dein Wille, lieber Gott, daß du sie dahinnehmest, so will ich sie gern bei dir wissen.«

Nachdem Melanchthon wieder gegangen war, begab sich Luther nach der Krankenstube und setzte sich an das Bett. Die Augen des Kindes waren schon am Brechen, und immer durchsichtiger wurde die Haut, als sollte die Verklärung schon anheben.

»Magdalenichen, mein Töchterlein«, sprach der Vater mit wankender Stimme, »du bleibest gerne hier bei deinem Vater und ziehest auch gerne zu jenem Vater?«

Da antwortete es leise, ganz leise aus dem Bett: »Ja, Herzensvater, wie Gott will.«

Die Mutter knieete in der entgegengesetzten Ecke am Boden und barg das Gesicht in beide Hände und weinte laut – sie konnte des Kindes Sterben nicht sehen.

Luther versuchte ihr zuzusprechen und sie aufzurichten: »Liebe Käthe, bedenke doch, wo sie hinkommt! Das Loos ist ihr gefallen aufs liebliche, ihr ist ein schön Erbteil geworden.« Aber siehe, auch ihm versagte im Anblick des nun folgenden Todeskampfes die Kraft: er sank an dem Bett nieder und weinte bitterlich. Unter dem Weinen aber rief er zu wiederholten Malen gen Himmel hinauf: »Ach Herr, erbarme dich und mach ein Ende ihrer Not!«

Da kamen leis die beiden jungen Gesellen hernieder, küßten die Himmelsbraut auf die Stirn und holten sie heim zu dem himmlischen Bräutigam. –


Drüben auf der Diele saßen die andern Kinder dicht bei einander und hatten sich bei den Händen gefaßt und wagten kein Wort zu sprechen. Da kommt eine Magd mit dick geweinten Augen und spricht: »Ach, nun habet ihr kein Lenichen mehr!«

Die Kinder schreien aus und strecken die Hände nach der Überbringerin der Trauerkunde und schauen sie an, als sollte sie das Wort wieder zurücknehmen. Und der Paul steht auf, schüttelt den Kopf und spricht in ungläubigem Trotz: »Es ist nicht wahr, sie ist nicht tot!«

»Es ist nicht wahr, sie ist nicht tot!« wiederholt das Gretchen und will hinüber zu dem Schwesterlein. Doch da kommt ihr die Mutter entgegen, und aus deren Gesicht sieht das Kind, daß es doch wahr ist. – – – – – – –

Ach, wie war es so still jetzt in dem ganzen Hause! Niemandes Hände waren an der Arbeit, aller Füße schritten leise, als schliefe das Lenchen nur und dürfe nicht gestört werden, und nicht im Lutherhaus allein, auch in ganz Wittenberg flossen die Augen von Thränen.

Mit zitternder Feder schrieb der tiefgebeugte Vater an seinen Herzensfreund Justus Jonas, der das Jahr zuvor als Superintendent nach Halle gegangen war:

»Mein herzlieber Jonas! Du sollst wissen, daß meine liebe Tochter Magdalene wiedergeboren ist zum ewigen Reich Christi. Wohl sollten wir, ich und meine Frau, nun nichts als danken und uns freuen über einen so glücklichen Heimgang und seliges Ende, dadurch sie der Macht des Fleisches, der Welt, des Türken und des Teufels enthoben ist; aber die Kraft der natürlichen Liebe ist so groß, daß wir ohne Schluchzen und Herzseufzer, ja ohne groß Herzbrechen das nicht können. Denn zu tief im Herzen sitzet uns die fromme, folgsame Tochter, die uns nicht ein einig Mal gekränket hat, ihre Blicke, ihre Worte, ihr ganzes Wesen, wie sie war im Leben und im Sterben, daß auch Christi Tod das nicht ganz verwischen kann, wie es doch sein müßte. Sie war, wie Du weißt, von einer milden, sanften Gemütsart und bei jedermann beliebt. Gelobet sei unser Herr Jesus Christus, der sie berufen, erwählet und herrlich gemacht! O daß doch mir und allen Unsrigen ein solcher Tod, ja ein solches Leben zu teil würde! Das ist das einzige, was ich mir von Gott, dem Vater alles Trostes und aller Barmherzigkeit erflehe.

Martinus Luther.«

Der Mann Gottes warf sich auf die Kniee und betete um Kraft zur Ausrichtung dessen, was mit dem geliebten Leichnam zu thun sei. Doch siehe, wie er in die Totenkammer trat, da knieete die Mutter an dem toten Kind und hatte es bereits mit einem weißen Kleid geschmückt und ihr das Haar glatt gestrichen und steckte ihr eben ein Rosmarinzweiglein in die Hand.

Ach, wie sie schön und hold dalag, die liebe Magdalena, als dürfe der Tod an ihr nichts zerstören und verwüsten, sondern müsse gleich alles verklären, wie am jüngsten Tage, wo das Grab seine Beute herausgeben muß, damit das verweslich Gesäete unverweslich auferstehe. –

Am dritten Tage lag das Lenichen, mit vielen Blumen geschmückt, im offenen Sarg, den man wegen des stark andrängenden Volkes auf dem Hof unter dem Birnbaum aufgestellt hatte. Luther trat herzu und gab ihr den letzten Kuß. »Du liebes Lenichen, wie wohl ist dir geschehen! Ach, du wirst wieder auferstehen und leuchten wie ein Stern, ja wie die Sonne. Ich bin ja fröhlich im Geist, aber nach dem Fleisch bin ich sehr traurig. Das Fleisch will nicht heran, das Scheiden vexieret einen über die Maßen sehr. Ein wunderlich Ding ist es, wissen, daß sie gewiß im Frieden und ihr wohl ist, und doch noch traurig sein.«

Das Volk drängte sich herzu und weinte sein Beileid daher. Luther dankte den guten Leuten herzlich und fügte hinzu: »Es soll euch lieb sein, denn ich habe eine Heilige gen Himmel geschickt, ja eine lebendige Heilige. O hätten wir einen solchen Tod, einen solchen Tod wollte ich auf diese Stunde annehmen.«

»Ja, Herr Doktor«, sagte einer aus dem Volk, »es ist wohl wahr, doch behält ein jeder gerne die Seinen.«

Luther erwiderte: »Fleisch ist Fleisch und Blut ist Blut! Ich bin froh, daß sie hinüber ist; keine Traurigkeit ist da, denn die des Fleisches.«

Jetzt kam, von ihrer Freundin, der Ehefrau Melanchthons geführt, die Katharina dahergewankt, dem lieben Kind das letzte Lebewohl zu sagen. Bei diesem Anblick erhob sich in dem umstehenden Volk ein lautes Weinen und Wehklagen, und der Wolfgang, der auch herzugewollt hatte, wandte wieder um – er konnte den Schmerz der Mutter nicht sehen.

Der Sarg wurde endlich zugemacht und aufgehoben. Draußen auf dem Gottesacker war dem Lenchen neben ihrem Schwesterlein Elisabeth das Ruhebett bereitet, und zum andernmal mußte der Wolfgang seine zitternden Hände zur Anfertigung eines Kreuzes zwingen, auf welches Luther die Worte schrieb:

Hier schlaf ich, Magdalenichen,
Des Doktor Luthers Töchterlein,
Und ruh' mit allen Heiligen
Mich aus in meinem Kämmerlein.
Die ich in Sünden war geboren,
Hätt' ewig müssen sein verloren,
Doch leb ich nun und hab' es gut,
Herr Christ, erlöst mit deinem Blut.

Als Luther vom Begräbnis zurückkam, sagte er: »Mein Töchterlein ist nun beschickt, beide an Leib und Seel. Wir Christen haben nichts zu klagen, wir wissen, daß es also sein muß. Wir sind des ewigen Lebens aufs allergewisseste, denn Gott, der es uns durch seinen lieben Sohn zugesaget hat, der kann ja nicht lügen.«

»Ach, Ihr seid stark und ein Mann«, seufzte Katharina, »aber eine Mutter kann so geschwind den Schmerz nicht meistern, denn schwach und zaghaft ist des Weibes Herz. Gott muß Geduld mit mir haben – ich will ja stille sein.«

»Ja, weine nur, meine allerliebste Käthe«, tröstete Luther, »denn dazu sind uns die Thränen gegeben, und Gott der Herr weiß auch, was für ein elend Gemacht wir sind, er gedenket daran, daß wir Staub sind, und hat Geduld mit uns, will aber auch selber mit seiner Kraft in unsrer Schwachheit mächtig sein. Dieses aber bedenke zu dem allen wohl: die Zeit gehet schnell; es ist nur um ein Kleines, so werden wir uns wiedersehen, und unser Herz wird sich freuen, und unsre Freude wird niemand von uns nehmen.«

Katharina faltete die Hände und hob die schweren Augen zum Himmel auf: »Ach komme bald, Herr Jesu!«


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