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In dichten, schweren Flocken fiel der Schnee, obwohl sich die Erde schon fußdick in den weißen Wintermantel eingehüllt hatte, und die Kälte war so streng, daß durch die dicken Eisblumen an den Fenstern den Leuten der Ausblick ins Freie versperrt war und draußen die Tritte der Wanderer knirschten, als lägen die Gassen voll Glasscherben. Blieb darum auch jeder gern am warmen Ofen sitzen, wenn ihn nicht die Not hinauszwang.
Frau Katharina war beschäftigt, einen Reisekoffer zu packen. Wieder einmal galt es für ihren lieben Eheherrn eine Reise, und eine weitere als sonst. Doch nicht die größere Entfernung war es, was ihr die Augen mit Thränen füllte – der Gedanke an ihres Gatten körperliches Leiden schnitt ihr durch das Herz und ließ sie selber die Beschwerden fühlen, die er unterwegs werde ausstehen müssen. Sie hätte sich wohl auch gern dazwischen gelegt und ihn zum Bleiben beschworen, wenn nicht der Kurfürst so dringlich gebeten hätte, Luther solle auf dem Tag der evangelischen Fürsten und Stände in Schmalkalden erscheinen und dort seine Artikel vorlesen, die er im kurfürstlichen Auftrag zur Vorlegung einer vom Papst nach Mantua ausgeschriebenen Kirchenversammlung abgefaßt hatte.
Katharina sah die Notwendigkeit dieser Reise ein, darum fügte sie sich still, aber ihren Thränen konnte sie dennoch nicht wehren, denn ihr ahnungsvolles Herz schlug stürmisch und wollte sich nimmer beruhigen. Nicht sowohl die Einsamkeit war es, was sie fürchtete, denn Luther ließ ihr zum Schutz seinen von Eisleben nach Wittenberg übergesiedelten Freund Johannes Agricola, dem er mit Weib und Kind gastlich sein Haus geöffnet hatte, bis sich eine neue Stellung für ihn finden würde. Es war vielmehr die Angst vor den Folgen der beschwerlichen Winterreise für den armen kranken Mann, was ihr den nächtlichen Schlummer verscheuchte, zumal sie ihm auch deutlich genug anhörte, daß es ihm sauer ward, sie zu trösten, als glaube er selbst nicht an eine gute Fahrt und glückliche Heimkehr.
Es war am 1. Februar des Jahres 1537, als Luther das von dem Kurfürsten Johann Friedrich gestellte Wägelein bestieg und in dichte, warme Decken gehüllt zum Elsterthor hinausfuhr.
Mit der Katharina hat da mancher wittenbergische Bürger besorgten Blickes hinter ihm dreingeschaut und heimlich dem Kurfürsten gezürnt, daß er solches Opfer von dem kranken Manne fordere, welches möglicherweise die ganze evangelische Christenheit in Trauer versetzen könne.
In angstvoller Spannung harrte Katharina von einem Tag zum andern und erschrak jedesmal durch den ganzen Körper, wenn ein Brief kam, deren täglich eine große Zahl im Hause des geistigen Führers der evangelischen Sache einliefen. Denn Luther hatte ihr das Versprechen gegeben, sobald als möglich Nachricht zu senden, besonders wenn ihm etwas Übles zustoßen sollte. Doch es verging Woche auf Woche, der Monat Februar ging dahin, und noch war kein Brief angekommen mit den bekannten großen derben Buchstaben.
Da legte sich langsam die Angst im Herzen der Frau, und sie fing an Gott zu danken für die neue Gnade.
Da, am 2. März ritt ein Eilbote in den Hof ein mit einem Schreiben von des Doktors Hand. Wieder fiel die alte Angst auf Katharinas Brust, und kaum waren ihre zitternden Hände im stande, den Brief zu öffnen. Da stand es mit entsetzlich klaren Worten geschrieben, daß ihre Ahnung sie nicht getäuscht hatte.
Der Brief war datiert aus Gotha vom 27. Februar und lautete folgendermaßen:
»Gnade und Friede in Christo! Du magst dieweil besondere Pferde mieten zu Deiner Notdurft, liebe Käthe, denn mein gnädiger Herr wird Deine Pferde behalten und mit dem Magister Philippus heimschicken; denn ich selber gestern, von Schmalkalden aufgebrochen, auf meines gnädigen Herrn eignem Wagen daher fuhr. Dessen Ursach ist aber diese: ich bin nicht über drei Tage hier gesund gewesen, und ist bis auf diese Nacht vom ersten Sonntag an kein Tröpflein Wassers von mir gelassen, hab' nie geruhet und geschlafen, kein Trinken noch Essen behalten mögen. Summa: ich bin tot gewesen und hab' Dich mit den Kindlein Gott befohlen und meinem guten Herrn, als würde ich Euch nimmer Wiedersehen; hat mich Euer sehr erbarmet, aber ich hatte mich dem Grabe beschieden. Nun hat man so hart für mich zu Gott gebeten, daß vieler Leute Thränen vermocht haben, daß mir Gott diese Nacht der Blasen Gang geöffnet, und in zwo Stunden wohl ein Stübchen von mir gangen ist, und mich dünket, ich sei von neuem geboren. Darum danke Gott und laß auch die lieben Kindlein mit Muhme Lenen dem rechten Vater im Himmel danken, denn Ihr hättet diesen Euren irdischen Vater gewißlich verloren. Der fromme Fürst hat lassen laufen, reiten, holen und mit allem Vermögen sein Höchstes versuchet, ob mir möcht' geholfen werden; aber es hat nicht wollt sein. Deine Kunst und Mittel zur Verdauung hilft mir auch nicht, Gott aber hat Wunder an mir gethan diese Nacht und thut es noch durch frommer Leute Fürbitt.
Solches schreibe ich Dir darum, weil ich meine, mein gnädigster Herr habe dem Landvogt befohlen, Dich mir entgegenzuschicken, falls ich ja unterwegens stürbe, daß Du zuvor mit mir reden oder mich sehen möchtest; welches nun nicht not ist, und magst wohl daheim bleiben, weil mir Gott so reichlich geholfen hat, daß ich mich versehe, fröhlich zu Dir zu kommen.
Heute liegen wir zu Gotha. Ich habe sonst viermal geschrieben, wundert mich, daß nichts zu Euch kommen ist.
Dienstags nach Reminiscere 1537.
Martinus Luther.«
Mit bebenden Händen und thränenden Augen hatte Katharina diesen Brief gelesen und erhob nun gegen die Muhme Lene, welche gerade zugegen war, ein lautes Klagen, daß sie ihrem geliebten Herrn habe fern sein müssen, wo er ihrer am nötigsten bedurft hätte. Und nun war es ihr ein süßer Schmerz, sich das Leiden des Gatten im einzelnen auszumalen, und ihre Phantasie nahm zu dem Bild noch schwärzere Farben als die Wirklichkeit. Vor lauter Schmerz und Wehmut darüber, daß sie an ihrem kranken Gatten nichts habe thun können, vergaß sie ganz den Dank für das, was Gott an ihm gethan, und die Muhme Lene mußte ihr das erst zu Gemüte führen.
»Vier Briefe hat er geschrieben, die nicht angekommen sind!« rief sie die Hände ringend. »O wie mag er sich gebanget haben nach der Gefährtin seines Lebens und den Kindern! Fremde Gesichter hat er um sein Lager her gesehen, fremde Hände haben sein gepfleget! O, sie mögen es treu gemeinet haben, aber die Freunde sind nicht sein Weib!«
Es wurde ihr im Haus zu eng, sie fühlte sich wie eine Gefangene, sie wünschte sich Flügel, um hinzueilen zu ihm, den ihre Seele liebte.
Es klang fast wie Vorwurf, was die Muhme Lene ihrem Ungestüm erwiderte, und doch sprach auch jetzt wieder aus ihren Worten heraus nichts anderes, als das Ferngefühl des ahnenden Gemüts: durch den Leitungsdraht der Liebe standen die Herzen der beiden Ehegatten miteinander in Verbindung, daß jedes von ihnen das Geschick des andern mitempfand; und so war denn die peinliche Unruhe der Katharina, die trotz der beruhigenden Nachricht sie quälte, nichts anderes, als das Ferngefühl des neuen Ungemachs, welches zurückkehrend ihren Mann zum andernmal an den Rand des Grabes brachte. Es war ihr, als sähe sie ihren Gatten die Hände flehend nach ihr strecken, und als hörte sie ihn rufen: »Komm herüber und hilf mir!«
Und so war es auch. In Gotha liegt der kaum Genesene wieder krank danieder, so krank, daß er nun nicht mehr an sein Leben glaubt. An seinem Bett steht Doktor Bugenhagen und reicht ihm den heiligen Leib. Herrliche Worte redet sein Mund, indem er, um verständlich zu werden, den letzten Rest leiblicher Kraft zusammenrafft. »Ich weiß gottlob, daß ich recht gethan, daß ich das Papsttum gestürmet hab mit Gottes Wort, denn es ist Gottes, Christi und des Evangeliums Lästerung. Bittet meinen lieben Philippus, Jonas, Cruziger und die andern, daß sie mir verzeihen alles, was ich wider sie gesündiget! Tröstet meine Käthe, daß sie dies geduldig hinnehme dafür, daß sie zwölf Jahre hindurch Freude mit mir gehabt. Sie hat mir treu gedienet, nicht bloß wie eine Ehefrau, sondern wie eine Magd. Gott vergelt' es ihr! Ihr aber werdet für sie und die Kinder sorgen, so gut es gehen wird; wie denn auch mein gnädiger Herr, der liebe, fromme Kurfürst in Schmalkalden zu mir gesagt hat: Sorget nicht, denn Euer Weib soll mein Weib und Eure Kinder meine Kinder sein! Dazu ich mich festiglich verlasse, denn er ist ein wahrhaftiger Mann. Grüßet von mir die Diakonen unsrer Kirche! Sie sollen in Gottes Namen getrost für das Evangelium thun, was der heilige Geist ihnen eingiebt, ich schreibe ihnen Weise und Maß nicht vor. Der barmherzige Gott wolle sie und alle stärken, daß sie bei der reinen Lehre bleiben und ihm dafür danken, daß sie von dem Antichrist erlöset sind. Ich habe sie mit ernstlichem Gebet dem Herrn befohlen und hoffe, der werde sie erhalten. Ich bin jetzt bereit zu sterben, wie Gott will. Hiernach befehle ich meine Seele in die Hände des Vaters und meines Herrn Jesu Christi, welchen ich gepredigt und bekannt hab' auf Erden.«
So sprach in Gotha der zum Tod Gerüstete, und die Worte, so matt sie auch waren, klangen doch bis Wittenberg und wurden von dem feinen Ohr der Liebe vernommen.
Immer heißer brennt in Katharinas Herzen die Angst, immer stürmischer wogt die Brust, bis sie es endlich nicht mehr ertragen kann, hier still zu sitzen: sie muß hinweg, sie muß ihm entgegen – vielleicht stirbt er nicht, wenn ihre Hand des Kranken wartet.
Und hin eilt sie auf einem gemieteten Wägelein, hin gen Altenburg zu seinem lieben Freunde Spalatin, betend und flehend ohne Unterlaß. Und siehe, mit guter Botschaft tritt ihr dieser entgegen: »Der Doktor kommt – hier hat er seine Ankunft gemeldet.« Und er liest ihr die Verse vor, welche er tags zuvor empfangen:
»Christus der Herr, mein Spalatin,
Im kranken Luther zieht dahin
Und sucht bei Dir um Herberg an,
Damit er mög' sein' Ruhe han.
Was Du dem Luther wirst erzeigen,
Das wird der Herr ihm selbst zueignen.
In des Wort man geschrieben find't,
Daß wir sein's Leibes Glieder sind.«
»Seid getrost, vielliebe Frau Doktorin«, fuhr Spalatin fort, »es gehet gut, denn Melanchthon hat noch etliche Verslein beigefüget, so aus einem fröhlichen Ton gehen.«
Die spannende Erwartung der Frau Katharina sollte nicht mehr lange aus die Probe gestellt werden: schon am folgenden Tage lag sie in den Armen ihres Gatten und stimmte mit ihm in die Wette ein Loblied nach dem andern an. Wohl war die Krankheit noch nicht ganz ausgeheilt, aber unter solcher Pflege mußte ja der Rest bald weichen, und Seligkeit war es für die Käthe, wenn der Doktor ihr still die Hand drückte und mit den Augen seinen Dank aussprach, indem er sah und fühlte, wie seine treue Käthe bemüht war, mit verdoppeltem Eifer nachzuholen, was sie ohne ihre Schuld und zu ihrem größten Schmerz hatte versäumen müssen.
So warm und weich in seines Weibes pflegende Liebe gebettet, ging es mit dem Leidenden sichtbar aufwärts, und als am grünen Donnerstag die Glocken zum Gottesdienst läuteten, da sahen die Wittenberger auf der Kanzel der Stadtkirche wieder das alte, liebe, teure Gesicht und vernahmen wieder aus des Propheten gesalbtem Mund das Wort des Lebens.