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Noch einmal müssen wir sagen: Du bist ein verborgener Gott, und wunderlich ist's, wie du regierest. »Ach Herr, wie lange!« seufzte die arme Witwe. Aber Gottes Antwort lautete: Meine Stunde ist noch nicht gekommen, du sollst noch weiter durch ein finsteres Thal gehen – aber in dem finstern Thal will ich dein Stecken und Stab sein.
Es gehörte wahrlich ein hoher Grad von Gottvertrauen dazu, auf solchen Ruinen wieder Mut zum Leben zu fassen. Wenn es das zertrümmerte Haus allein gewesen wäre! Das ließ sich allenfalls wieder Herrichten. Aber wohin die Witwe sonst ihre Augen richtete, allenthalben sah sie zerbrochene Stützen. –
Der Krieg – ach dieses Ungeheuer hatte weithin gewütet und eine ganze Hölle von Satanassen aus seinem schwarzen Schlund gespieen. Schwer lasteten auf dem ausgesogenen und zertretenen Land die Steuern und Abgaben, und mit Seufzen pflügte der Bauer sein Feld, indem er sich sagte, daß andere die Frucht seines Schweißes essen würden. Mit Seufzen gedachte Katharina jetzt an ihr liebes Zulsdorf. Der schöne Traum, den sie einstens dort geträumt, war in nichts zerronnen. Ihr lieber Eheherr hatte einen andern Ruheplatz gefunden, es war ihr nicht vergönnt worden, in Zulsdorfs Stille dem Geliebten die letzten Tage seines Lebens mit ihrer liebenden Pflege zu versüßen. Aber auch ein Witwensitz sollte Zulsdorf ihr nicht werden: ihre Kinder hielten sie an Wittenberg gefesselt – wie hätte sie sonst für deren Unterricht sorgen sollen? Sie hatte auch in stiller Ergebung diesen Herzenswunsch geopfert und hoffte nun in Zulsdorf wenigstens eine Nahrungsquelle zu haben; aber auch diese Hoffnung wurde ihr zu nichte – durch den Krieg. Wertlos wurde unter des Krieges Wüten der Grund und Boden, den die Hufe der Rosse zerstampften, und dessen Erlös der Landesherr für sich forderte, um den Krieg zu bezahlen. Anstatt von Zulsdorf zu nehmen, mußte sie geben.
Und nun Wachsdorf dazu! O, sie bereute jetzt bitter, auf den Ankauf dieses nun gleichfalls entwerteten Landguts gedrungen zu haben. Der Kanzler Brück, so hart er ihr erschienen war, da er den Ankauf widerriet, hatte nun doch recht behalten und ihr unbewußt den richtigen Rat erteilt.
Melanchthon erwies sich auch hier wieder als der treue Helfer und Beistand. Er ließ es nicht an Bitten bei dem Kurfürsten Moritz fehlen, der armen Witfrau die Kriegskosten und Abgaben zu erleichtern, ja er erbot sich auch, mit ihr selbst nach Leipzig zu reisen in das kaiserliche Hauptquartier, um den Befehlshaber persönlich mit Bitten anzugehen – sie kamen aber beide mit vereitelter Hoffnung wieder.
Wenn nun Katharina weiter um sich blickte, was sah sie? Zerbrochene, menschliche Stützen. Sie blickte nach Mansfeld hinüber, von wo ihr die Zinsen des zugesicherten Kapitals kommen sollten, aber sie kamen nicht; auch hier hatte der Krieg die Kassen erschöpft und den Wohlthätern die Kraft geraubt, ihr gegebenes Versprechen zu halten. – Und wenn die Witwe nun nach Torgau blickte – ach, in Torgau saß ein anderer auf dem kurfürstlichen Thron, ein neuer Pharao regierte in Egypten, der den Joseph nicht kannte: Johann Friedrich aber, der Edle, der Fromme, die Hauptstütze ihrer Hoffnung, der ihr sein fürstliches Wort verpfändet hatte, er saß in Ketten und Banden, und der Kaiser hielt schon die Feder in der Hand, sein Todesurteil zu unterzeichnen!
Doch eine Zuflucht war ja noch vorhanden: droben im Norden die dänische Majestät, die schon einmal aus der Not geholfen! Es war der Witwe vereitelt worden, sich persönlich unter seinen Schutz zu flüchten, da erbot sich der immer bereitwillige Melanchthon, für sie an des Königs Herz zu pochen.
Er verfaßte ein Schreiben an Seine Majestät, in welchem er mit beweglichen Worten die Not der Witwe Vater Luthers schilderte. –
Nun saß diese in Hoffen und Harren, jedem Fremden, der bei ihr eintrat, als einem Boten des königlichen Helfers entgegensehend. Aber die Antwort blieb aus.
War der Brief nicht an Ort und Stelle gekommen? Oder war des Königs Herz hart geworden? Oder war der Bote auf dem Weg verunglückt?
Und immer lauter pocht die Not an der Witwe Thür, immer bitterer nagt der Mangel und die Entbehrung in dem Hause, das sonst so vielen Armen und Elenden Trost und Hilfe gespendet. Was hat doch die Welt für ein kurzes Gedächtnis! Wie ist doch Undank der Welt Lohn! Wohl war noch Freundschaft und Treue vorhanden, aber nicht bei denen, die da hätten helfen können. Die treuen Freunde waren selber arm, und Scherflein waren es nur, was sie von ihrer Armut geben konnten.
Bugenhagen vernimmt mit Trauer, daß der Dänenkönig auf Melanchthons Bittschrift keine Antwort gegeben habe, und ohne der Witwe etwas zu sagen, richtet er ein zweites Mahnschreiben an den Monarchen, noch dringlicher, als das erste gewesen war. Aber auch er hofft und harrt, und auch an ihm soll sich das Sprichwort vom Hoffen und Harren erfüllen.
Inzwischen nimmt die Witwe ihre letzte Kraft zusammen. Sie muß etwas erraffen, denn nicht länger mehr kann sie es mit ansehen, daß Johannes, ihr Ältester, daheim sitzt und das Gelernte wieder vergißt. Es gelingt ihr, gegen Verpfändung von Bechern und Ringen etliche hundert Gulden aufzunehmen – damit stellt sie einen Flügel ihres Hauses notdürftig wieder her und nimmt Kostgänger an ihren Tisch. Gott lenkt es gütig, daß unter diesen etliche sind, die es der armen Witwe erbarmt, daß sie über die Forderung geben.
Da nimmt sie eines Tages ihren Johannes mit in die stille Kammer, fällt mit ihm auf die Kniee und befiehlt ihn in mütterlicher Fürbitte dem Herrn.
Am folgenden Morgen zieht der Jüngling aus: die Mutter hat ihm den Ranzen gefüllt und einige Goldstücke mit hineingethan, die Frucht ihres Schweißes und ihrer rastlosen Treue; damit geht er von dannen und wandert und wandert, bis er die Stadt Königsberg erreicht hat. Dort, wo ihm des Herzogs Unterstützung in Aussicht steht, läßt er den Stab ruhen und seinen Namen einschreiben in die Register der Universität.
Der Mutter Segen hatte ihn auf der Reise geleitet, er lag auf ihm auch während seines Studiums, daß ihm die Kraft
nicht erlahmte und der Mut nicht gebrach; der Mutter Gebet drang in den Himmel, daß auf des Herzenslenkers Gebot die Menschen sich des armen Jünglings erbarmen mußten. – Er hat hernach in hohem herzoglich sächsischem und später preußischem Kanzleidienst dem Namen seines Vaters Ehre gemacht.
Ein Jahr nach seiner Mutter Tod vermählte er sich mit Elisabeth, der nachgelassenen Tochter des Propstes an der Schloßkirche und Professors der Theologie zu Wittenberg, Dr. Kaspar Cruziger, trat als Kanzleirat in die Dienste Herzog Johann Friedrich des Mittleren von Sachsen, dann in die des Herzogs Albrecht von Preußen und starb den 22. Oktober 1575 im Alter von nahe an 50 Jahren. In der Allstädter Kirche zu Königsberg, wo er mit großen Ehren begraben wurde, harrt sein Gebein der Auferstehung. Wie viel Kinder er hinterlassen habe, ist bis heute nicht genau ermittelt. Mit Sicherheit kennt man nur eine Tochter Katharina, welche 1629 als Ehefrau des Pfarrers Magister Böhme in Eilenburg starb.
Es sei erlaubt, an dieser Stelle auch der übrigen drei Lutherkinder kurze Erwähnung zu thun.
Martin, der zweite Sohn, erfüllte einen Herzenswunsch seines Vaters, indem er sich dem Studium der Theologie widmete. Seine glänzenden Geistesgaben, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigten, wurden aber durch seine körperliche Schwächlichkeit und Kränklichkeit so gelähmt, daß er nie ein öffentliches Amt zu bekleiden im stande war. Er starb am 3. März 1565, 34 Jahr alt – wie es scheint, an der Schwindsucht. – Seit 1560 mit Anna, der Tochter des Bürgermeisters Hillinger vermählt, hat er in kinderloser Ehe gelebt.
Paul, der dritte und geistig bedeutendste unter Luthers Kindern, wählte das Studium der Medizin, promovierte 1557 zum Doktor, verheiratete sich mit Anna von Warbeck, Tochter des kursächsischen Vizekanzlers, wurde Professor der Medizin in Jena, dann Leibarzt Herzog Johann Friedrich des Mittleren, darauf des Kurfürsten Joachim des Zweiten von Brandenburg und nach dessen Tode zweier Kurfürsten von Sachsen. Die Wühlereien des geheimen Calvinismus nötigten ihn, seinen Abschied zu nehmen und sich nach Leipzig zu begeben, wo er den 8. März 1593 starb und in der Paulinerkirche feierlich beigesetzt wurde. Sein Geschlecht wurde durch vier Söhne und zwei Töchter fortgepflanzt.
Margarete, die einzige, am Leben gebliebene Tochter, über welche Luther an den Pfarrherrn Jakob Probst 1538 schrieb: »Es grüßet Euch meine liebe Frau Käthe und Euer Patchen, mein Töchterlein Margaretchen, der Ihr nach meinem Tode einen feinen, frommen Mann schaffen werdet« – erhielt einen solchen in Georg von Kunheim, Erbherrn auf Knauten bei Mühlhausen in Preußen und herzoglich preußischem Landrat, mit welchem sie sich am 5. August 1553 im Beisein vieler Grafen und Edelleute vermählte. Sie starb, nachdem sie ihrem Gatten neun Kinder geboren, auf ihrem Gute Knauten, vier Meilen von Königsberg, im Jahr 1570 und liegt daselbst in der Kirche begraben, Von den Bildnissen ihrer Eltern behütet.
Direkte Nachkommen Luthers giebt es gegenwärtig nicht mehr, nur in drei Seitenlinien lebt das Blut des großen Gottesmannes, fort: in der Familie von Wegener, von Saucken-Julienfeld und von Tippelskirch.
Einer drückenden Sorge war jetzt die Mutter ledig – die Briefe, welche Johannes von Königsberg schrieb, enthielten ja lauter gute und tröstliche Nachrichten. An den andern Kindern erwuchs der Katharina auch viel Freude, und so bekam ihr Leben noch einmal eine frische Farbe.
Da hatte aber der Rat Gottes noch eine neue Prüfung für sie: ihre Hände, ihre rastlos thätigen Hände wurden zum Feiern gezwungen, indem ein schleichendes Siechtum sie auf das Lager warf.
Der Arzt wußte nicht recht, wo er angreifen sollte, er meinte, das Leidwesen säße mehr im Gemüt als im Körper.
Sollten die Kostgänger im Haus bleiben, so mußte fremde Hilfe herzu. Eine Magd wurde angenommen zur Bedienung des Tisches, aber deren Treue war Heuchelei und ihre zur Schau getragene Uneigennützigkeit in Wirklichkeit ein fortgesetzter Diebstahl. Lange ließ sich Katharina, die allen Menschen immer das beste zutraute, von der Meisterin in der Verstellungskunst täuschen, bis die endliche Entdeckung ihr Leidwesen noch verschlimmerte.
Es kamen jetzt Tage, wo Mutter und Kinder fühlen mußten, wie weh der Hunger thut. Wohl waren die Freunde noch da: Melanchthon, Bugenhagen, Cruziger standen noch zu ihr in unwandelbarer Zuneigung; aber der Witwe war es peinlich, mit immer neuen Klagen die schon oft in Anspruch Genommenen zu belästigen. Ein Silberbecher nach dem andern wanderte zur Verpfändung aus dem Haus, so schwer es auch der Katharina wurde, Abschied zu nehmen von den Zeugen ihres vergangenen Glücks.
Doch immer bitterer ward die Not, immer entmutigender der Ausblick auf die trostlose Zukunft.
Da sehen wir eines Tages die Witwe an einem ungewohnten Platz: am Schreibtisch. Wenn Melanchthons und Bugenhagens Worte auf den Dänenkönig keine Wirkung geübt haben, so will sie den letzten Versuch machen, ob nicht der Witwe eigene, mit Thränen benetzte Buchstaben das königliche Herz erweichen. Sie sitzt lange an dem Brief, ihre Hand ist des Schreibens nicht gewohnt, und mühsam fügt sich Buchstabe an Buchstabe, zumal die Thränen ihr den Blick verschleiern und das gepreßte Herz die Schreiberin wiederholt zum Ausruhen zwingt.
Endlich, nach zweistündiger, saurer Arbeit, ist das Schreiben fertig.
»Gottes Gnade durch seinen eingeborenen Sohn, Jesum Christum, unsern Heiland und wahrhaftigen Helfer zuvor.
Durchlauchtigster, großmächtigster König und Herr!
Eure königliche Majestät bitte ich in Unterthänigkeit, meine Schrift gnädiglich anzunehmen, in Betrachtung, daß ich eine Witwe bin und daß mein lieber Herr, Doktor Martinus Luther, seligen Gedächtnisses, der Christenheit treulich gedienet hat und insonderheit sich aller Gnaden zu Eurer königlichen Majestät versehen. Nun hat Eure königliche Majestät meinem lieben Herrn die letzte Zeit seines Lebens alljährlich eine gnädige Hilfe gethan mit fünfzig Thalern, dafür ich Eurer königlichen Majestät unterthäniglich Dank sage und für Eure königliche Majestät Gott anrufe. Nachdem aber ich und meine Kinder jetzund weniger Hilfe haben und die Unruhe dieser Zeit viele Beschwerden bringet, bitte ich, Eure königliche Majestät wolle mir solche Hilfe gnädiglich auch fürderhin verordnen. Denn ich zweifle nicht, Eure königliche Majestät hat meines lieben Herrn große Last und Arbeit nicht vergessen. So ist auch Eure königliche Majestät der einzige König auf Erden, zu dem wir armen Christen Zuflucht haben mögen, und wird Gott ohne Zweifel Eurer königlichen Majestät von wegen solcher Wohlthaten, die den armen christlichen Prädikanten und ihren armen Witfrauen und Waisen erzeiget worden, besondere Gaben und Segen geben; darum ich treulich und ernstlich bitten will. Der allmächtige Gott wolle Eure königliche Majestät samt Gemahlin und junger Herrschaft gnädiglich bewahren.
Datum Wittenberg am 6. Oktober anno Domini 1550.
Eurer königlichen Majestät
unterthänige
Katharina
Doktor Martini Lutheri nachgelassene Witfrau.«
»Die mit Thränen säen, werden mit Freuden ernten«, flüsterte Katharina, als sie den thränenfeuchten Brief zusammenfaltete.
Ja gewiß, du gute Käthe, so steht es in Gottes Wort, und Gottes Wort kann nicht lügen; aber das stehet auch darin: »Meine Stunde ist noch nicht gekommen«, und abermals: »Seid geduldig in Trübsal und lernet warten, bis daß der Herr kommt.« – – –
Was weinest du, Katharina? Ist dein Flehen abermals umsonst gewesen? Ja, Monat auf Monat ist verstrichen, und noch ist keine Antwort da auf ihren Brief.