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Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Die Verteidigung.

Als Karl abends zurückkehrte, flog Emmy in höchster Erbitterung auf ihn zu. »Wie konntest du uns nur so täuschen?« rief sie aus.

»Womit?« fragte Karl und blieb so ruhig und gelassen wie die Sonne am Himmel, wenn ihr der Wind ins Antlitz bläst.

»Karl, die Mutter und ich glaubten, du hättest des Vaters Sache genau geprüft, wir vertrauten dir so fest, wenn du uns Mut zusprachst – und nun scheint es, als hättest du gar nichts gewußt, und die Verhandlung endete tausendmal schlimmer, als du gedacht hast.«

»Woher weißt du das?«

»Willst du etwa behaupten, daß dir der letzte schreckliche Beweis schon bekannt war?«

»Gewiß, Emmy.«

»Und du sagtest mir nichts davon und machtest mir immer noch Hoffnung? Wie soll ich dir das je vergeben?«

»Du brauchst es nicht vor morgen abend zu thun,« erwiderte er mit einem nachsichtigen Lächeln. »Wirklich, Emmy, der hervorstechendste Zug deines Wesens war doch von jeher Besonnenheit und ruhiges Urteil; es liegt dir stets so fern, voreilige Schlüsse zu ziehn!«

Ehe sie auf diese spöttische Bemerkung etwas erwidern konnte, mußte Karl einer Botschaft des Herrn Loring folgen, welcher ihn dringend zu sprechen wünschte, und Emmy sah ihn an diesem Abend nicht mehr wieder. Sie brachte eine traurige Nacht zu, denn ihre Mutter war krank an Leib und Seele, die furchtbare Erwartung des Kommenden drohte sie zu töten. Dennoch bestand sie darauf, am andern Morgen wieder in den Gerichtssaal zu gehen, gleichviel ob sie tot oder lebendig zurückkehren sollte. »Ich werde deinen armen Vater in seiner Not nicht verlassen; ich hoffe, meine Anwesenheit wird ihm ein Trost sein,« sagte sie mit sanfter Festigkeit und steckte ihr Riechfläschchen in die Tasche, um sich aufrecht zu halten.

Gehörte der erste Tag der Anklage, so war der zweite für die Verteidigung bestimmt. Karl eröffnete die Verhandlung mit einer Ansprache an die Geschwornen; er war bleich vor innerer Erregung. Zu allgemeinem Erstaunen wurde als erster Zeuge abermals der junge Rice hereingeführt, der gestern die belastendste Aussage gegen den Angeklagten abgegeben hatte. Karl legte ihm eine Reihe von Fragen über die Verhältnisse des Holbrookschen Kontors vor, welche Emmy höchst überflüssig erschienen; auch der Zeuge mußte sie so ansehen, denn er beantwortete sie sehr kurz und mit einem Lächeln der Überlegenheit.

»Wie weit ist Herrn Howes Pult von der Thür entfernt?« fragte Karl.

»Sechs Fuß.«

»Und Sie sahen durch die Glasscheibe der Thür den Namen, den er unter den Wechsel schrieb?«

»Ja wohl.«

»Ganz deutlich?«

»Ja, es war keine Möglichkeit einer Täuschung vorhanden.«

»Sehen Sie dieses?« fragte Karl, indem er ein beschriebenes Blatt Papier in die Höhe hielt.

Herr Rice machte ein sehr erstauntes Gesicht und wollte sich dem Fragenden um einen Schritt nähern.

»Bitte, mein Herr, bleiben Sie auf Ihrem Platz und lesen Sie dem Gerichtshofe vor, was auf diesem Papier geschrieben steht.«

»Dann händigen Sie mir dasselbe gefälligst ein; aus solcher Entfernung kann ich kein Wort lesen.«

»Aber sie beträgt doch nur drei Fuß,« bemerkte Karl.

»Vielleicht ist der Zeuge kurzsichtig,« warf Herr Loring, scheinbar harmlos, dazwischen.

»Ich bin allerdings kurzsichtig,« sagte jener unbedacht.

»Und doch konnten Sie bei sechs Fuß Entfernung die Unterschrift lesen? Wie erklären Sie das?« rief Herr Loring mit einer Stimme, die wie ferner Donner grollte.

Herr Rice schob sich unruhig auf seinem Sitze hin und her; er war sehr rot geworden, denn er sah ein, daß er in eine Falle gegangen sei. »Sprach ich von sechs Fuß Entfernung? – vielleicht war es nicht so viel … die Thür …«

»Nein, die Thür ist in der That sechs Fuß vom Pult entfernt, wie wir von drei andern Zeugen ermittelt haben.«

Emmy hätte lauten Beifall klatschen mögen. Herr Rice war vollständig in die Enge getrieben; er wiegte seinen Kopf hin und her wie ein zorniger Kater, den man eingesperrt hat. Es ist ein gewisser Triumph für einen Anwalt, den wichtigsten Zeugen der Gegenpartei so zu zerschmettern, daß nichts von ihm übrig bleibt. Herr Holbrook wagte nicht, die Augen aufzuschlagen, selbst der Staatsanwalt sah ganz bestürzt aus; unter den Zuschauern ließ sich ein allgemeines Geflüster vernehmen, das eine ganz andere Bedeutung hatte, als gestern. Es war kein Zweifel mehr, daß der junge Rice falsches Zeugnis abgelegt hatte, und sehr wahrscheinlich, daß er dafür bezahlt worden war.

Der nächste Zeuge, der den aufregenden Namen Schmidt führte, gab an, daß er im letzten Sommer sechs Wochen lang im Kontor von Holbrook und Howe gearbeitet habe.

»Können Sie uns sagen, mein Herr, ob Herr Howe die Gewohnheit hatte, sein eignes Schreibpult stets zuzuschließen?« fragte Karl.

»Das konnte er nicht thun,« war die Antwort, »denn er hatte keins.«

»Wie, keinen Sekretär zu seinem eignen Gebrauch?«

»Nein, der Geheimsekretär gehörte den beiden Herren von der Firma gemeinschaftlich.«

Wieder ging ein Summen durch den Saal, und alles spitzte aufmerksam die Ohren.

»Legte Herr Holbrook seine Papiere auch da hinein?«

»Alle losen Papiere wenigstens; die Urkunden und Wertpapiere wurden in den eisernen Geldschrank gelegt.«

»Könnten, nach Ihrer Meinung, Papiere, die im Sekretär gefunden wurden – wir wollen sagen, in den geheimen Fächern – ebenso gut von Herrn Holbrook dort niedergelegt sein, wie von Herrn Howe?«

»Ja, ohne jeden Zweifel.«

Emmys Herz that einen großen Sprung. Es schien ihr sonnenklar, daß Herr Holbrook eigenhändig die Schreibeübungen mit dem Namen Miranda Howe angestellt habe, daß er selbst der Übelthäter sei, der sein Verbrechen auf die Schultern seines schuldlosen Genossen hatte abwälzen wollen. Sie sah die Geschwornen an und fand, daß sie ähnlich denken mußten, denn ihre ernsten Blicke hatten sich plötzlich aufgehellt. »Geliebte Mama,« flüsterte sie, »ich glaube, sie schämen sich alle, weil sie an Papas Unschuld gezweifelt haben.«

Der nächste Zeuge war ein Herr Dunton, welcher alle Abschriften zu beglaubigen hatte.

»Man sagt, daß Sie eine ungewöhnliche Fertigkeit im Beurteilen von Handschriften besäßen,« begann Karl.

»Allerdings, ich habe auf diesen Punkt seit Jahren große Aufmerksamkeit verwendet.«

»Können Sie eine verstellte Handschrift unterscheiden?«

»Auch das ist mir schon öfter gelungen.«

»Wollen Sie so gut sein, sich diese Schriftstücke anzusehen?« sagte der Anwalt und reichte ihm einige Geschäftsbriefe von Herrn Holbrook, andere von Friedrich Howe und schließlich die Pergamentblätter, die mit dem Namen Miranda Howe beschrieben waren. »Es handelt sich darum, ob einer dieser beiden Herren die Blätter mit dem Namenszuge in der altfränkischen Handschrift ausgefüllt haben kann, und welcher von ihnen?«

Die große Versammlung verhielt sich so mäuschenstill, daß man Herrn Duntons Atemzüge vernehmen konnte, als er die Briefe prüfte und mit der Kritzelei verglich. Er war bald damit fertig, hob, ohne zu zaudern, einen Brief in die Höhe und sagte mit dem Ausdruck vollster Überzeugung: »Der Schreiber dieser Zeilen hat auch den Namen ›Miranda Howe‹ geschrieben.«

Karl nahm ihm den Brief aus der Hand, entfaltete ihn, sah nach der Unterschrift und sagte langsam und nachdrücklich: »Der Brief ist von Herrn Holbrook!«

Im Saal herrschte eine ungeheure Aufregung, Emmy befand sich in einem Freudenrausch. Ihre Mutter zitterte vor nervöser Erregung am ganzen Körper, und diese Wahrnehmung gab der Tochter ihre Ruhe zurück. »Freue dich nicht zu sehr, Mutter!« raunte sie derselben mahnend zu, »der Staatsanwalt wird noch einmal seine ganze Weisheit auskramen. Du darfst aber nicht in Ohnmacht fallen, denn wir können aus dieser Ecke nicht den Ausgang erreichen.« Das wirkte; Frau Karoline that einen tiefen Atemzug und gab sich alle Mühe, sich zu beherrschen.

Jetzt erhob sich Herr Loring mit heiterem Angesicht. »Meine Herren Geschwornen,« sagte er, »wir Anwälte von der Verteidigung verzichten auf jede weitere Beweisführung. Die Sache spricht so sehr für sich selbst, daß sie unserer Beredsamkeit nicht noch bedarf.«

Nach ihm stand der Staatsanwalt, Herr Keene, auf, aber ohne die düstere Entschiedenheit, mit der er gestern den Angeklagten verdammt hatte. »Meine Herren Geschwornen,« sagte er ganz sanftmütig, »wenn die Verteidigung auf ihre Schlußrede verzichtet, so können wir dasselbe thun.«

Auch der Richter faßte sich kurz; trotz seines Ansehens von übermenschlicher Weisheit sprach er nur wenige Worte ohne jede Gelehrsamkeit und forderte einfach die Geschwornen auf, ihre Pflicht zu thun und den Angeklagten nur dann schuldig zu sprechen, wenn er der Schuld überführt sei. Und ohne den Saal zu verlassen, nach wenigen geflüsterten Worten, erklärten sie wie ein Mann Herrn Friedrich Howe für »Nicht schuldig«.

Die ganze Versammlung geriet in Bewegung, die Sitzung wurde sofort für aufgehoben erklärt, und alle Welt drängte sich mit Glückwünschen und herzlichen Begrüßungen zu Frau Howe und ihrer Tochter hin. Aber Emmy hatte den Arm schützend um ihre zitternde Mutter gelegt und bahnte sich einen Weg zum Vater. Er kam mit ausgebreiteten Armen auf beide zu, mit einem Blick, als sei er eben erwacht und fände sich im Himmel wieder. »Ich will ganz ruhig und verständig sein und nicht weinen,« sagte Emmy zu sich selbst, aber dabei stürzten ihr die hellen Freudenthränen aus den Augen, und sie konnte sich kaum auf den Füßen halten. Endlich waren alle auf der Straße, wo sich eine Art von Triumphzug bildete, das Ehepaar in der Mitte, hinter ihnen Emmy, der Will Curtis seinen Arm gereicht hatte, um sie vor dem Gedränge zu schützen, und ganz Quinnebasset und halb Poonosac im Gefolge. Alles jauchzte und schrie vor Freuden, denn Friedrich Howe war auf einmal der große Mann des Tages, der Abgott seiner Mitbürger geworden. Auch die, welche bisher in ihrer Meinung sehr vorsichtig hinter dem Berge gehalten hatten, riefen hoch! und alle vereinigten sich, um ihm ein feierliches Abendessen auf dem Stadthause anzubieten, wobei die Musikbande aus Poonosac spielen sollte.

Ergreifend war das Wiedersehn zwischen Vater und Sohn. »Gott sei Dank für seine Gnade, mein Friedrich! Ich vertraute ihm, daß er deine Unschuld an den Tag bringen würde!« sagte der brave Kapitän, indem er den Wiedergeschenkten in seine Arme zog und herzlich küßte. Und Emmy drückte einen dankbaren Kuß auf Großpapas weißes Haar, weil er, trotz »Mutters« Reden nie einen Augenblick an seinem Sohn gezweifelt hatte. Großmama saß da mit ihrem ewigen Strickstrumpf, als ob alles im Weltenlauf seinen ruhigen Gang genommen hätte und nichts Besonderes geschehen wäre. »Ich habe keinen Groll gegen dich gehabt,« sagte sie ruhig und strickte eine Masche nach der andern ab, »es freut mich, daß du freigesprochen bist.« Friedrich nahm diese trockne Teilnahme so auf, als sei sie der herzlichste Glückwunsch und küßte seine Stiefmutter liebevoll auf die Stirn.

»Arme Mutter!« sagte er nachher zu Emmy, »es muß ein harter Schlag für sie sein, daß ihr leiblicher Neffe sich als ein Fälscher und meineidiger Dieb erwiesen hat.«

»Sei ohne Sorge, Papa,« erwiderte die Tochter lachend, »sie wird sich keine grauen Haare darum wachsen lassen, vorausgesetzt, daß es ihr kein Geld kostet.«

»Sprich nicht so hart, liebes Kind; ich bin zu glücklich, um andere zu tadeln. Mir geht es tief zu Herzen, daß dieser Mann, mit dem ich zwei Jahre zusammen gearbeitet habe, für den ich Zuneigung und Achtung fühlte, so schlecht sein soll. Wie konnte er mich so völlig täuschen?«

Für Friedrich Howes arglosen, ehrenhaften Sinn war die elende Gesinnung ebenso unbegreiflich, wie die Heuchelei, die sich Jahre lang den Anschein eines anständigen Mannes zu geben wußte.

* * *

»Ich kann es, trotz aller Verhandlungen, immer noch nicht ganz begreifen, Papa, wie dieser Holbrook dich dazu bringen konnte, den gefälschten Wechsel der Bank zu übergeben,« sagte Emmy nachdenklich.

Im Gesicht ihres Vaters stieg eine lebhafte Röte bis in die weiße Stirn hinauf. »Ich will mir das Geständnis nicht ersparen, mein liebes Kind,« erwiderte er demütig, »daß ich sehr nachlässig gehandelt und eine ernste Strafe voll verdient habe. Holbrook pflegte mir sehr lange Vorträge über geschäftliche Angelegenheiten zu halten, die mich ermüdeten, und denen ich zuweilen nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkte. Oft schweiften meine Gedanken von diesen kleinlichen Geldgeschäften weit ab zu den großen, tiefsinnigen Fragen, welche die besten Geister bewegen; dann setzte ich meinen Namen unbesehens unter eine Reihe von Schriftstücken, die er mir vorlegte, um schneller zu meinen geliebten Büchern zurückzukehren. So muß es auch mit diesem Wechsel ergangen sein; ich erinnere mich sehr dunkel einiger Reden, die er in dieser Sache führte, und die mir schon damals nicht ganz verständlich waren, doch tröstete ich mich mit seiner überlegenen Klugheit und Einsicht, denen ich volles Vertrauen schenkte. Besinnst du dich, meine Emmy, daß du mir im letzten Frühjahr von einem plötzlichen Zufall schriebst, der deine Großmutter betroffen, und der euch sehr erschreckt hätte? Vermutlich habe ich ihm davon erzählt, er hat mit Bestimmtheit auf ihren baldigen Tod gerechnet und darauf seinen schändlichen Plan gebaut, der ihm sicher hätte glücken müssen, wenn sie wirklich gestorben wäre. O mein Gott, wie kann ein Mann von Ehre so tief fallen? Ich beklage ihn aus tiefstem Herzen!«

Friedrich Howe war wohl der einzige, welcher Mitleid mit dem ehrlosen Fälscher empfand; die meisten andern Menschen hörten einige Monate später mit Genugthuung, daß die volle Schwere des Gesetzes ihn und seinen leichtsinnigen Helfershelfer Rice getroffen habe. Die alte Frau Howe blieb von diesem Schicksal gänzlich ungerührt. »Es geschieht ihm recht!« sagte sie kühl. »Wie konnte er es wagen, sich mit meinem Gelde bereichern zu wollen!« – –

* * *

Nur eins fehlte Emmy, um das Glück dieses Abends vollkommen zu machen: vergebens sah sie sich nach Karl um, um ihm alles auszusprechen, was ihr Herz bewegte. Er war nach dem Schluß der Verhandlung gar nicht nach Hause gekommen, hatte auch das Fest auf dem Stadthause nicht mitgemacht, wo er eine Hauptrolle gespielt hätte, sondern hatte nur sagen lassen, daß er sich auf Herrn Lorings Wunsch nach dem andern Ufer des Flusses begeben müsse, um dort eine Aussage aufzunehmen.

»Wenn er nur erst käme!« schrieb Emmy auf Esthers Tafel. »Mich quält meine Undankbarkeit und Heftigkeit mehr, als ich sagen kann. Da hat sich der liebe, treue Mensch wochenlang die unsäglichste Mühe in Papas Angelegenheit gegeben, er hat so viel Klugheit und Scharfblick bewiesen, daß die ganze Stadt seines Lobes voll ist – und ich schalt ihn wegen seiner Nachlässigkeit und Falschheit. O Gott, wird er mir verzeihen? Muß er mich nicht verachten und verabscheuen? Ach, ich war gestern abend so elend und hoffnungslos, daß ich nicht wußte, was ich that, und schließlich sind wir alle nur Menschen, wie Miß O'Neil sagt, der Schwachheit und dem Irrtum unterworfen – das ist meine einzige Entschuldigung.«


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