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Fünfzehntes Kapitel.
Emmy macht Ernst.

Die Familie des Kapitäns Howe stand am Fenster und bewunderte ein Nordlicht, welches den halben Himmel mit brennendem Rot übergoß, während mitunter aus dem hellleuchtenden Bogen ganze Strahlenbündel nach oben schossen.

»Sind das die Engel, die dort mit Fackeln spazieren gehen?« fragte Dina. »Wenn sie nur nicht den Mond anstecken, oder das Haus, wie damals bei Lena Giddings.«

Emmy küßte sie lachend. »Nein, Liebling, die Engel thun uns kein Leid; sie haben uns nur ein herrliches Feuerwerk angezündet, sieh nur, wie es strahlt und leuchtet! viel schöner, als alle Fackeln auf Erden.« Dann hörte sie zu, wie ihre Mutter über die seltene Naturerscheinung sprach und ihre Entstehung, nach den neuesten Annahmen der Wissenschaft, zu erklären suchte. »Es ist wirklich hübsch, eine so kluge Frau im Hause zu haben,« sagte der Kapitän, behaglich schmunzelnd. »Du sprichst besser und klarer, als ein Buch, liebe Karoline.«

Das fand Emmy auch; sie bedachte, welch ein Vorzug es für sie sei, an der Seite einer so gebildeten Frau aufgewachsen zu sein, wie sie dadurch von vielem Kenntnis habe, was in der Schule nicht gelehrt wird, und wie sie als Tochter einer solchen Mutter die doppelte Verpflichtung habe, etwas Wirkliches zu leisten und sich nützlich zu machen.

»Woran denkst du, Emmy?« fragte die alte Frau Howe, welche eben ein Päckchen Banknoten durchzählte.

Das junge Mädchen fuhr aus tiefem Sinnen auf. »Ich möchte gern reich sein, Großmama!« sagte sie nachdrücklich.

»Emmy, Emmy, welche Verirrung!« erwiderte die alte Dame mit frommem Schauder. »Weißt du nicht, daß Zufriedenheit über Reichtum geht?« Damit schloß sie ihr Geld ein und zog mit zufriedener Miene den Schlüssel ab.

Als die alten Leute zur Ruhe gegangen waren, setzte sich Emmy zu ihrer Mutter an den Kamin und sah sie mit ungewohntem Ernste an. »Laß uns einmal vernünftig über die Zukunft reden, Mama. Ich habe die Schule hinter mir und mag nicht länger müßig gehen; was kann ich thun, um mich auf die eignen Füße zu stellen?«

»Nichts, meine Emmy, du bist noch zu jung und zart.«

»O Mama, nicht jünger, als viele andere, die sich selbst ihr Brot erwerben! Was meinst du, soll ich Schuhe einfassen?«

»Nicht um die Welt, mein Kind!« versetzte Frau Karoline erschrocken. »Du weißt, wie schlecht mir der Versuch bekommen ist, für Geld zu nähen, welche Stiche ich bekam, wie mir der Kopf weh that. Ich fürchte für dich dasselbe.«

»Soll ich Tante Theodora bitten, mir eine Stelle als Ladenmädchen in Boston zu besorgen?«

»Nein, nein, mein Liebling! ich kann dich nicht so weit von mir lassen, und ich fürchte, diese Art Leben ist noch schwerer, als Handarbeit.«

»So möchte ich versuchen, Unterricht zu geben,« sagte Emmy mit etwas unsicherer Stimme, denn der Gedanke gefiel ihr selbst gar nicht.

»Ach, Emmy, ich fürchte, du würdest es noch nicht verstehen, dir Ansehen und Gehorsam zu verschaffen.«

»Mein Mütterchen ist die furchtsamste Frau, die es giebt,« meinte Emmy lachend; »sonst fürchtet sie sich vor jedem Pferde, jeder Kuh und jetzt vor einer Schule mit zwanzig kleinen Mädchen darin.«

»Ich fürchte, du würdest nicht die nötige Geduld haben, Emmy; du bist von heftiger Gemütsart.«

»Ich werde mich bemühen, sie zu zügeln, ich thue es schon seit einer guten Weile. Hast du denn gar kein Vertrauen zu mir, Mutter?«

Frau Howe küßte sie mit einem zärtlichen Lächeln. »Seit du deine Großmutter so treu und umsichtig pflegtest, bin ich sehr stolz auf meine Tochter,« sagte sie liebevoll; »aber bedenke, Kind, daß du erst eine Prüfung bestehen müßtest, ehe du eine Anstellung erhalten könntest.«

»Das will ich auch; du weißt ja, daß mich Miß Lightbody beim Abschied ihre beste Schülerin nannte und Miß O'Neil noch neulich meine gute Handschrift lobte. Freilich kommt bei einem Examen viel auf Geistesgegenwart an – und auf die Rechtschreibung, denn bei der heißt es in der That: Der Buchstabe tötet! Aber ich denke an das alte Verschen, Mama:

Willst du die That vollbringen, säume nicht,
Die eignen Kräfte mutig anzuwenden;
Dem Kühnen nur wird Gott Gelingen senden!«

»Gut, mein Liebling, so versuche deine Kraft und dein Glück, ich will dich nicht daran hindern,« sagte Frau Howe mit einem Seufzer, und doch lag in ihrem Blick ein Hoffnungsschimmer, den ihre Tochter schon lange nicht darin gesehen hatte.

Emmy hatte eigentlich zuversichtlicher gesprochen, als ihr selbst zu Mute war; aber ihr Entschluß war mit ihren eignen Worten fester geworden. Als sie in der Stille der Nacht alles bedachte, was vor ihr lag, da standen ihr freilich die Haare zu Berge vor Angst und Sorge, und sie hatte ein ähnliches Gefühl wie damals, als die Großmutter sich immer von Schlangen umgeben sah. Aber dennoch galt jetzt nur das eine Wort: vorwärts! Es gab kein Zurück mehr für sie, und sie bat Gott inbrünstig um seinen Segen zu ihrem Vorhaben.

Wenige Tage später fuhr Delicia Sanborn mit einem Einspänner bei Howes vor und holte Emmy zu einer Spazierfahrt ab. Ihr Ziel war ein kleiner Flecken Tiffin, welcher zu Quinnebasset gehörte, aber eine eigne Schule hatte. »Ich komme mir vor wie ein Bettler,« dachte Emmy bei sich, »denn ich fürchte, Herr Jonathan Wix wird meine Anfrage so verstehen: Ich brauche Geld, Herr, wollen Sie es mir geben?« – Die Fahrt war nicht gerade angenehm, es ging durch tiefe Gleise und viele Löcher, denn die Wege wurden hier erst im Juni ausgebessert, in der kurzen Pause zwischen Saat und Heuernte, so wie alte Damen zwischen Sonnenuntergang und Dunkelheit ihr Strickzeug vornehmen, weil sie da nicht anderes thun können. Die Bäume und Sträucher waren noch kahl, die ganze Natur machte einen öden, erstorbenen Eindruck. »Gerade wie unser Wohlstand!« dachte Emmy trübselig, aber ein anderer Gedanke richtete sie wieder auf. Unter dem harten, kalten Boden schlummerten tausend Keime, welche in kurzem zu neuem Leben und Gedeihen erwachen sollten – konnten nicht so auch die Verhältnisse ihrer Eltern einen Aufschwung nehmen und noch einmal auf einen grünen Zweig kommen? Und konnte nicht diese Stelle an der Schule zu Tiffin der erste Anfang besserer Zeiten sein?

Delicia hielt vor dem hübschen Hause des Herrn Wix ihr Pferdchen an und befestigte es am Zaum. Da eine Tafel über dem vorderen Eingang vor dem frischen Anstrich warnte, so gingen die Mädchen über den Hof, auf dem blendend weiße Wäsche im Winde flatterte, und klopften an die hintere Thür. Eine freundliche, alte Frau mit einem Strickzeug in der Hand öffnete und betrachtete sie mit wohlwollend prüfendem Blick durch die Brille.

»Mein Sohn ist nicht zu Hause,« erwiderte sie auf die höfliche Anfrage, »er ist fortgegangen, um einen Ochsen zu kaufen, aber er muß jeden Augenblick zurückkommen. Bitte, treten Sie ein.«

Sie führte ihre Gäste in die Küche, wo ein junger Mann damit beschäftigt war, eine Nähmaschine auseinanderzunehmen, wobei ihm zwei oder drei Kinder eifrig zusahen. Er hatte eine große, blaue Schürze um, in der einen Hand ein Gefäß mit Öl, in der andern eine lange Feder, und sah in diesem Aufzuge so wunderlich aus, daß die Mädchen unwillkürlich lächeln mußten. »Mein Neffe, Eugen Palmer,« sagte Frau Wix, worauf Lizzie und Emmy sich gegenseitig vorstellten.

»Fräulein Sanborn!« rief die alte Frau erstaunt: »Sie hätte ich freilich kennen sollen, nur sind Sie gar zu sehr gewachsen, seit ich Sie nicht gesehen habe. Und Sie sind Friedrich Howes kleine Tochter?« fuhr sie freundlich fort und faßte Emmy unter das Kinn, als ob sie ein kleines Ding von fünf Jahren gewesen wäre. »Von Ihnen habe ich schon manches gehört.«

Herr Palmer hatte sich schleunigst entfernt; es mochte ihm nicht angenehm sein, mit einer Schürze und öligen Händen von zwei hübschen jungen Damen überrascht zu werden. Frau Wix setzte sich mit den beiden ans Fenster und stellte viele Fragen an sie, unterbrach sich aber oft, um nach dem Topfe zu sehen, der auf dem Herde stand; »Hülsenfrüchte brauchen gute Aufsicht, um nicht anzubrennen,« sagte sie erklärend. Die Kinder standen im Kreise umher und verwendeten keinen Blick von den Gästen, über die sie sich ihre Bemerkungen zuflüsterten.

.

»Wünschen die jungen Damen meinen Sohn in einer besonderen Angelegenheit zu sprechen?« fragte die alte Frau.

»Ja, Frau Wix,« erwiderte Lizzie; »wir hörten, er habe die Stelle an der Bezirksschule zu vergeben, und meine Freundin möchte gern den Unterricht übernehmen, falls noch niemand dafür bestimmt ist.«

»O du meine Güte! dieses kleine Mädchen will Lehrerin werden!« rief Frau Wix mit einem so erstaunten und bedauernden Ton, daß Emmy sich ihrer Kleinheit bitterlich schämte und gern in ein leeres Schneckenhaus gekrochen wäre, um sich zu verbergen. Die Kinder stießen sich an und kicherten verstohlen; eins lief lachend hinaus und kam bald darauf mit der Mutter zurück. Sie hatte das Aussehen einer Dame, obgleich sie augenscheinlich vom Waschen kam und eben im Begriff war, ihre Ärmel herunterzustreifen. Frau Jonathan Wix wußte, daß die Stelle noch nicht vergeben sei und daß man neuerdings die Einrichtung getroffen habe, der Lehrerin abwechselnd bei den verschiedenen Familien des Ortes Wohnung und Kost zu geben, um so das Gehalt zu erhöhen. Auch Herr Palmer stellte sich wieder ein; er sah jetzt ungemein fein und zierlich aus und begann alsbald eine fließende Unterhaltung mit den jungen Damen. »Ist Ihnen vielleicht ein gewisser Zephanja Coolbroth bekannt?« fragte er Emmy im Laufe des Gesprächs; »er ging als Missionar nach Grönland und ist ein guter Freund von mir.«

Emmy erglühte in Entrüstung; sie war überzeugt, den Urheber jenes unbescheidenen Scherzes durch den Telegraphen vor sich zu haben. »Ich hoffe, Seine Hochwürden ist in Upernivik sicher untergebracht und läßt sich nie wieder hier sehen,« sagte sie so ernst und streng, wie es ihr nur möglich war.

Eugen Palmer lächelte äußerst selbstzufrieden; aber zur großen Erleichterung seiner Gegnerin, welche hoch aufgerichtet mit flammendem Blick dasaß und starr aus dem Fenster sah, machte der Eintritt des Herrn Jonathan Wix weiteren Reden ein Ende. Er erkundigte sich sehr genau nach Emmys Verhältnissen und ihrer Vorbildung und versprach schließlich, Fräulein Howe die Stelle zu geben, wenn sie ein Zeugnis über ihre Befähigung vorlegen könne. Mit hochklopfendem Herzen trat Emmy den Rückweg an; der erste Schritt auf der neuen Bahn war gethan.

Die Schiefertafel.

»Wünschen Sie mir Glück, Frau Fogg, ich habe einen großen Sieg errungen! Heute Nachmittag begab ich mich zum Richter Davenport, wo die Lehrerinnen-Prüfung stattfand; ich fand noch zehn andere Mädchen dort, unter ihnen Lena Giddings. Die Prüfenden waren Herr Davenport und Dr. Prescott, der dritte fehlte noch. Plötzlich that sich die Thür auf und herein trat – Seine Hochwürden Zephanja Coolbroth, im gewöhnlichen Leben Herr Eugen Palmer genannt! Er sagte, ihm sei die Ehre zu teil geworden, Herrn Loring zu vertreten, freilich könne er sich nur als einen bescheidenen Splitter dieser ehrenwerten Gesellschaft betrachten. Mir war er ein Dorn im Auge, das weiß ich! Er richtete die schwierigsten Fragen an uns und sprang pfeilschnell aus einem Gebiet ins andere über, so daß wir alle ganz verwirrt wurden. Ich sah Lena an, sie war so rot wie eine Päonie – ein sicheres Zeichen, daß ihre Geisteskräfte Abschied zu nehmen drohten. Aber sollte sich dieser anmaßende Mensch, der sich als geborner Großstädter so entsetzlich klug und erhaben dünkte, über uns, als eine Herde dummer Gänschen vom Lande, lustig machen und uns beinahe zu Tode ängstigen dürfen? Nimmermehr! ich raffte all meinen Mut zusammen und antwortete ihm ganz keck und unverfroren auf seine Fragen, sprach über die fernliegendsten Dinge und erklärte Sachen, über die ich noch lange nicht ins klare gekommen war. So ging es eine lange Weile hin und her, während die beiden anderen Herren schweigend zuhörten und sich über unsern Peiniger recht zu ergötzen schienen. Endlich meinte Dr. Prescott, es sei genug; Fräulein Howe hätte fast eine Prüfung für eine Akademie, statt für eine Volksschule bestanden. Die weiteren Fragen übernahm er selbst und that es so ruhig und sachgemäß, daß all den geängstigten Seelen die Besinnung wiederkehrte und sie höchst verständig antworteten. Zum Schlusse erhielten wir allesamt das Zeugnis der Reife und zogen ganz glückselig ab. Herr Palmer wollte mich wegen meiner ›außerordentlichen Gelehrsamkeit‹ beglückwünschen, doch dankte ich ihm nur mit einer kühlen Verbeugung und würdigte ihn keines Blicks, so empört war ich über sein Betragen.

Die andern Mädchen waren alle in bester Laune, sie überhäuften mich mit Schmeicheleien und Danksagungen und behaupteten, ich wäre ihr Matador, die Heldin von Quinnebasset, ihre Retterin, denn ohne meine Geistesgegenwart wären sie sicher alle durchgefallen. Sie führten mich im Triumph in die Konditorei und überschütteten mich mit Kuchen und Zuckerwerk.

Die Schule beginnt Anfang Mai. Ade, du meine glückliche Kindheit, du sorgenfreie, goldene Mädchenzeit! Jetzt fängt der Ernst des Lebens an mit seiner Arbeit und Verantwortung! Geben Sie mir ihre guten Wünsche auf den Weg mit, Frau Fogg!«

Esther schrieb: »Ich wünsche Ihnen von Herzen Glück, meine geliebte, kleine Emmy! Seien Sie mutig, gerecht, strebsam und fest! Kämpfen Sie ohne Unterlaß gegen Ihre Fehler, im übrigen aber bleiben Sie das, wozu unser Herrgott selbst Sie geschaffen hat – unseres Lebens Sonnenschein!«


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