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Siebzehntes Kapitel.
Lenas Träumen und Erwachen.

In den Kreisen, die zum Bezirk der Johannetschule gehörten, raunte man sich zu, daß die Anstalt viel zu wünschen übrig ließe. Woran lag dieser Übelstand? Lenas Gestalt war doch gewiß dazu angethan, Achtung und Gehorsam einzuflößen, keiner ihrer Schüler hätte es unternehmen können, sie mit seinem kleinen Finger niederzuwerfen. An Kenntnissen fehlte es ihr nicht, im Gegenteil konnte es kaum eins der andern Mädchen an Bildung und Belesenheit mit ihr aufnehmen. Frau Bumblebee, welche in Johannet den Ton angab, hatte wohl recht, wenn sie behauptete, Lenas Herz wäre nicht bei der Sache; sie gäbe ihre Stunden nur, weil sie müßte, aber ohne Eifer und Freudigkeit.

Als Lena an jenem Morgen den Rückweg von Tiffin einschlug, ging sie mit so langsamen Schritten und so trübseliger Miene einher, als folge sie ihrem eigenen Sarge. Müde und im voraus gelangweilt von den ihrer wartenden Pflichten, kam sie in Johannet an, als es gerade Zeit war, die Glocke zu läuten, welche die Kinder zum Beginn des Unterrichts zusammenrief. Die Seele der Lehrerin glich an diesem Tage mehr als je einer zersprungenen Harfe, deren Saiten tonlos und verstimmt herabhängen. Sie stand vor der Wandtafel, um den Schülern eine Rechenaufgabe zu erklären, aber sie merkte nicht, daß ihre Lippen längst verstummt waren und daß ihre Hand statt der Zahlen den Namen Gracia hinschrieb.

Ein allgemeines Kichern ließ sich im Schulzimmer hören; Lena errötete und suchte ihre Gedanken zu sammeln. »Abel Bumblebee, konjugiere Connecticut durch alle Zeiten.«

Ein abermaliges Lachen, nur lauter und lebhafter als vorhin, folgte dieser überraschenden Aufforderung. »Nein, nein,« rief Lena ärgerlich, »du verstehst doch, was ich meine: zerlege es in seine kleinsten Bestandteile!«

Ehe die Zöglinge Zeit hatten, sich diese seltsamen Aufgaben zu überlegen, that sich die Thür auf, und die drei Herren von der Aufsichtsbehörde traten ein.

»Wie befinden Sie sich, meine Herren?« sagte die Lehrerin, die bei diesem Anblick den letzten Rest von Fassung verlor, »bitte, setzen Sie sich und langen Sie zu.«

Die Heiterkeit der Kinder erreichte ihren Höhepunkt, und die würdigen Gäste blickten stirnrunzelnd und unzufrieden bald rechts, bald links. Der Empfang verhieß nichts Gutes, und der Verlauf der Prüfung entsprach auch nicht den gerechten Anforderungen der Herren. »Dieses junge Mädchen ist zur Lehrerin ganz und gar untauglich,« lautete ihr einstimmiges Urteil, als sie nach einer Stunde kopfschüttelnd das Schulhaus verließen.

Wer Lena am Ende dieser Woche auf dem Wege nach Quinnebasset gesehen hätte, der hätte glauben müssen, eine vom schwersten Leid fast erdrückte Dulderin vor sich zu haben. Nachdem sie die Ihrigen einsilbig begrüßt hatte, verließ sie das Haus wieder, um eine einsame Stelle am Fluß aufzusuchen.

»Lena!« rief ihr Nanny aus dem Fenster nach, »kannst du denn nicht fünf Minuten bei uns bleiben?«

»Sprich nicht so hart mit dem Kinde,« sagte Frau Giddings begütigend, »entweder sie ist nicht wohl, oder sie hat Unannehmlichkeiten in der Schule gehabt.«

Lena warf sich, ohne auf ihr reingewaschenes Kleid zu achten, ins Gras und versank in tiefe, schwermütige Träumerei. »Niemand von den Meinen versteht mich, niemand ahnt den Kampf in meinem Innern, selbst meine Mutter nicht, die mich doch so herzlich liebt. Sie denken, ich sei wie sie – und ach! wie himmelweit fühle ich mich von ihren einfachen Wünschen und Bestrebungen entfernt! Gracia allein versteht mich; sie ermahnt mich in jedem ihrer Briefe, die Sklavenketten zu zerbrechen, meine Schwingen zu entfalten und mich wie ein Adler über dieses armselige Leben zu erheben. Sie vergleicht mich mit Pegasus im Joche und sagt, es sei meine heilige Pflicht, den Beruf zu ergreifen, für den mir Gott ungewöhnliche Gaben und Kräfte verliehen hat. O wie gern folgte ich diesem Rat, dem meine ganze Seele zujubelt! wie süß ist der Traum von Ruhm und Ehre, von dem Lorbeerkranz, der einst meine Stirn schmücken soll; wie heiß verlangt es mich, all den Spöttern und Verächtern zu beweisen, daß ich mehr kann, als sie, daß in diesem häßlichen Körper ein hoher, edler Geist lebt! –

Aber der Weg zu den Sternen ist ein dornenvoller, und selbst der Genius ist an das Irdische gebunden. Weh mir! auch ich brauche Brot und Kleider, und ich muß arbeiten, um die elende Notdurft zu befriedigen. O ihr himmlischen Mächte, zeigt mir einen Weg aus diesem Wirrsal!«

Sie rang verzweiflungsvoll die Hände, weinte und schluchzte eine Weile, dann nahmen ihre Gedanken eine andere Richtung. »Emmy predigt mir eine ganz andere Weisheit, sie sagt: erfülle deine nächsten, bescheidenen Pflichten mit ganzer Hingebung und Treue, dann wird dir Gott den Weg zu größeren weisen. Ob sie recht hat? Sie selbst ist freilich ein lebendiger Beweis dafür, daß treue Pflichterfüllung ihren Lohn in sich trägt. Wie glücklich und zufrieden sah sie aus! wie erfüllt war sie von ihrer Schule! wie leicht überwindet sie alle Schwierigkeiten! Mit einem heitern Lächeln hüpft sie über Steine des Anstoßes hinweg, über die ich stolpere und dann weinend am Boden liege. Wenn ich ihr folgte, müßte ich alle meine Kräfte auf meinen Unterricht verwenden und alle hochstrebenden Gedanken einstweilen fahren lassen. Aber sind sie nicht das Beste, was ich besitze, mein einziges, höchstes Glück, der Zauber, der mich für Stunden wenigstens die Armut und Gebundenheit meines Lebens vergessen läßt?«

Es dämmerte schon, und Lena lag immer noch im Grase am Fluß; sie fühlte nicht, daß es kühl und feucht wurde, und erst Schwester Nannys scheltende Stimme riß sie aus ihrer Versunkenheit empor. »Bist du krank oder verrückt geworden?« rief jene ihr zu, »willst du dir hier den Tod von Erkältung holen? Und wie sieht dein Kleid aus? Lena, Lena, wirst du denn nie vernünftig werden und dich in das wirkliche Leben finden lernen? Alle deine hohen Träume sind keinen Heller wert; von Gedichten kann man nicht leben, und ein guter Braten ist hundertmal nahrhafter, als ein ganzer Band voll Poesie. Komm nach Hause, Kind; ich will dir heißen Thee machen, damit du nicht krank wirst.«

Mit tief gesenktem Haupt folgte die Dichterin der nüchternen Schwester; sie fühlte sich dieser unendlich überlegen, sie sah aus ihrer erhabenen Höhe tief auf Nanny herab – und doch lag in jenen schonungslosen Worten ein Körnchen herber, vernichtender Wahrheit.

Als am nächsten Tage, einem Sonntag, Emmy nach beendigtem Gottesdienste in ihrer Stube saß und las, trat Lena bei ihr ein. »Was ist dir begegnet?« rief die andere ihr zu, »du strahlst ja förmlich!«

»Nichts Besonderes, Emmy, und doch etwas Großes: ich bin endlich zur Einsicht gekommen und will mich fortan wie ein vernünftiger Mensch betragen. Heute in der Kirche kam es plötzlich wie eine Erleuchtung über mich; ich sah ein, wie thöricht und vermessen es von mir war, wider Gottes Ratschluß zu murren. Er hat mir zwar manchen Wunsch versagt, manches Kreuz auferlegt, aber sicher nur aus Liebe und Weisheit, und weil ich dessen dringend bedurfte. Es verlangt wohl jeder Mensch nach Glück und Befriedigung; mein Glück sollte Ruhm und Ehre heißen. Aber mir ist es auf einmal ganz klar geworden, daß wir gar nicht in der Welt sind, um glücklich, sondern um gut zu werden und nach Veredlung zu streben.«

»Da hast du recht, Lena,« erwiderte Emmy, die noch ganz unter dem Eindruck gewisser großmütterlicher Auslassungen über arme Verwandte und unberechtigte Ansprüche stand; »es scheint durchaus nicht unsere Bestimmung zu sein, glücklich zu werden. Daraufhin wollen wir uns noch einmal in treuer Freundschaft die Hände reichen.«

»Ja, Emmy, wir wollen Gott unsere Herzen darbringen und um äußeres Glück unbekümmert sein, Er wird uns ja nicht verlassen und versäumen,« sagte Lena, und auf ihrem sonst so gewöhnlichen Gesicht lag ein Ausdruck, der es wunderbar verschönte. Emmy gewahrte mit Erstaunen die äußere und innere Umwandlung.

»Meine Schule soll fortan die Pflicht sein, die mir vor allem am Herzen liegt,« fuhr Lena fort, »ich habe sie bisher, um thörichter Träume willen, arg vernachlässigt. Glaubst du, daß es mir möglich sein wird, meine erschütterte Stellung wieder zu befestigen?«

»Gewiß, Lena, wenn du deiner augenblicklichen Empfindung treu bleibst; Gott helfe dir dazu, liebes Herz!« Die beiden Mädchen blieben noch lange in ernster Unterhaltung bei einander; Lena holte sich in rührender Bescheidenheit Rat bei der jüngeren Freundin und kehrte am nächsten Morgen mit einer Fülle guter, ernster Vorsätze nach Johannet zurück.

Freilich ging nicht gleich alles, wie es sollte, und Lena mußte noch manche niederschlagende Erfahrung durchmachen. Die Familie Green ließ bitten, ihren Hans strenger zu halten, da er nichts Ordentliches lerne, die Familie Brown dagegen wünschte ihren Peter milder behandelt, da er durchaus nicht in die Schule wolle. Die größeren Schüler waren unbescheiden, die kleineren schläfrig und träge, und das Betragen während der Unterrichtsstunden ließ viel zu wünschen übrig. Lena wollte noch oft den Mut sinken lassen, aber der Gedanke, daß Gott es den Aufrichtigen gelingen lasse, richtete sie wieder auf. Sie entschloß sich, Emmys Rat zu folgen und sich die Hilfe der größeren Mädchen zu sichern; zu diesem Zweck behielt sie dieselben eines Tages nach Schluß der Schule bei sich und hielt ihnen eine kleine Rede.

»Ich fürchte, ich habe die Sache nicht richtig angefangen,« sagte sie sanft und traurig, »unsere Schule hat kein Gedeihen und erfreut sich keines guten Rufes. Das ist bedauerlich für uns alle, aber wenn wir uns aufrichtig darum bemühen, sollten wir den Fehler doch wohl verbessern können. Wollt ihr, die ihr schon groß und verständig seid, mir darin beistehen?«

Es lag in Lenas Wort und Blick ein zwingender Ernst, dem die Mädchen nicht widerstehen konnten. »Wir wollen! wir wollen!« riefen sie einstimmig, »seien Sie uns nicht böse, Fräulein Giddings! Bisher haben wir uns keine Mühe gegeben, aber das soll nun anders werden, und wir wollen die Kleinen schon in Ordnung halten!« Also geschah es; die Großen waren von Stund an eine wirksame Stütze für die Lehrerin, und die Kleinen folgten unwillkürlich ihrem Beispiel. Nach einigen Wochen führte Lena ihr Scepter mit kräftigerer Hand als bisher, und in allen Schwierigkeiten tröstete sie der Gedanke, daß eine höhere Kraft in ihrer Schwachheit mächtig sei.


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