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Emmy tummelte sich in der Stube umher und sang mit heller Stimme dazu, während sie die »Windsbraut« schwang, nämlich eine Fliegenklappe, die sie aus einem langen Stock und verschiedenen Papierstreifen hergestellt hatte.
»Emmy, du weißt, ich kann solch lautes Geräusch nicht leiden,« sagte Frau Howe.
»Aber Großmama, zum Fliegenfang gehört eine muntere Melodie, die lockt die Tiere an!« Und damit flog sie leicht und anmutig von einer Wand zur andern und traf mit sicherem Schlage bald hier, bald da ihre Opfer.
»Wie du mich an deine rechte Großmutter erinnerst, Emmy!« sagte der Kapitän, indem er wohlgefällig lächelnd von seiner Zeitung auf- und ihr nachsah. »Sie war die heiterste Frau auf Gottes Erde, immer voll guter Laune.«
Aber diese Erinnerung machte der jetzigen Frau Howe geringes Vergnügen. »Laß es genug sein, Kind,« sagte sie etwas herbe, »und geh zu Sanborns hinüber: ich ließe um die Haube bitte, die ich der alten Dame geliehen habe. Aber halte dich unterwegs nicht mit allerlei Thorheiten auf, sondern komm schnell zurück.«
Emmy biß sich auf die Lippen; sie liebte solche Ermahnungen, in denen sie immer noch wie ein kleines Kind behandelt wurde, gar nicht, doch schwieg sie und machte sich auf den Weg. Auf dem Hofe traf sie Karl, der, mit einer Harke auf der Schulter, nach der Wiese ins Heu ging, und gesellte sich zu ihm.
»Nun, Karl, wie hat es dir gestern gefallen?« fing sie die Unterhaltung an; »bist du nicht sehr froh, daß du dort warst?«
»Ich denke, ich habe meine Schuldigkeit gethan und euch den Spaß nicht verdorben; zu etwas anderem war ich doch nicht da,« erwiderte er gleichgültig, ohne sie anzusehen.
»Aber Karl, was sind das für anzügliche Reden? War nicht Lizzie höchst freundlich und liebenswürdig gegen dich?«
»O gewiß, sie behandelte mich, als ob ich mindestens ein Prinz wäre. Aber sie übertrieb es ein wenig, und dann ist es nicht mehr angenehm.«
»Willst du damit sagen, daß Lizzie dir nicht gefällt?« fragte Emmy mit mühsam beherrschter Gereiztheit.
»O, sie kann einem schon gefallen mit ihrem sammetweichen Wesen und ihrer glatten Zunge! Sie ist so sanft und einschmeichelnd wie ein Kätzchen, aber wohl auch ebenso falsch.«
»Nimm dich in acht, Karl!« rief Emmy mit sprühenden Augen, »und bedenke, daß du von meiner besten Freundin sprichst!«
»Du hast mich ja um meine Meinung gefragt,« versetzte Karl ruhig; »wenn ich nicht die Wahrheit sagen darf, so will ich lieber schweigen.«
»Wie gefielen dir die andern Mädchen?« fragte seine Begleiterin einlenkend.
»Lena Giddings fand ich unbezahlbar komisch – und dann die andere, deren Kinn sich so merkwürdig aufwärts richtet …«
»Du meinst Dora Topliff!« rief Emmy lachend. »Ja, ihr Kopf liegt sehr im Nacken, aber das muß wohl in ihrer Bauart liegen, denn sie ist nicht mehr halb so hochmütig wie früher.«
»O, sie war sogar recht huldvoll,« meinte Karl trocken, »etwa so wie eine Königin, die zu ihren Unterthanen spricht. Aber dann war da ein hübsches Mädchen mit glänzenden, schwarzen Augen und solchen Dingern an ihrem Kleide – wie nennt man die doch? – die hat mir am besten gefallen.«
»Karl, deine Gabe, junge Damen zu schildern, ist nicht bedeutend, doch merke ich, daß du Virginia Curtis meinst. Ich verdenke dir nicht, daß sie dir gefällt; wenn du aber glaubst, daß sie auch nur im entferntesten mit Delicia Sanborn zu vergleichen wäre, so bekundest du eine beklagenswerte Beschränktheit!«
Karl sah sie von der Seite an; er merkte wohl, daß sie in diesem Punkt keinen Widerspruch ertragen konnte, und da er selbst nie einen Freund besessen hatte, so wunderte er sich über diese blinde Liebe.
»Wie verschieden bist du doch von all diesen Mädchen!« sagte er plötzlich. »Keine von ihnen würde sich herablassen, mit einem Jungen über die Straße zu gehen, der eine Harke über der Schulter trägt.«
»Über solche Äußerlichkeiten bin ich ganz erhaben,« erwiderte sie schnell, »und das mag wohl daher kommen, weil ich beides kenne, Reichtum und Armut.«
»Wie das?« fragte er erstaunt.
»Als ich ein Kind war, besaßen meine Eltern sehr wenig; Mama mußte alles im Hause allein thun, und ich half ihr dabei, soviel ich konnte. Dann starb ein reicher Onkel und hinterließ meiner Mutter einige Hunderttausende – ich weiß nicht, wie viele. Da zogen wir in ein schönes Haus in Boston und lebten herrlich und in Freuden, bis eines Tages die Gasanstalt, an der Papa beteiligt war, in die Luft flog und unser ganzer Reichtum dazu. Der arme Papa hat nämlich kein Glück, wie mir scheint. Nun sind wir wieder arm, aber ich finde, daß man sich auch dabei sehr wohl fühlen kann. Freilich wäre es schön, wenn wir eine Heimat hätten, wo wir alle beisammen sein könnten,« fügte sie mit einem Seufzer hinzu. »Doch genug davon – weißt du, Karl, daß Miß Lightbody sich sehr lobend über dich aussprach und dich einen geborenen Advokaten nannte?«
»Wirklich?« fragte Karl, während ein heller Freudenschein über sein Gesicht flog. Dieser Jüngling, der sich durch harte Arbeit seinen Unterhalt erwerben mußte, der noch keine Gelegenheit gehabt hatte, sich zu bilden und etwas Gründliches zu lernen, besaß trotzdem seinen geheimen Ehrgeiz und strebte mit ganzer Seele nach einer höheren Lebensstellung, als der eines ländlichen Arbeiters. Er fühlte die Kraft in sich, etwas zu leisten, das über bloße Handarbeit hinausginge, und träumte in stillen Stunden von einer großen Zukunft, die er, wie so viele Amerikaner, sich selbst schaffen wollte. Aber er wußte, wieviel er der kleinen, zierlichen Gestalt an seiner Seite verdankte, und deshalb fragte er fast schüchtern: »Warst du mit meinem Benehmen zufrieden, Emmy?«
»Nur zufrieden?« rief sie lebhaft, »ei, mein Herr, ich war stolz auf Sie!«
Da faßte er ihre Hand und sagte mit ungewohnter Weichheit: »Habe ich mich richtig und gut betragen, Emmy, so verdanke ich das zumeist deinem Einfluß. Du warst das erste junge Mädchen in Quinnebasset, das mir ein freundliches Wort gegönnt hat; du warst wie eine Schwester gegen mich, und wenn ich es je im Leben zu etwas bringe, so verdanke ich es dir!«
Emmy sah ganz überrascht zu ihm auf, einen solchen Ton hatte sie noch nie von ihm vernommen.
»Du hältst mich gewiß für thöricht,« fuhr er fort, »aber ich muß meinen Gefühlen einmal freien Lauf lassen. Als du herkamst, war ich ganz verzweifelt und dachte, ich müßte alle Hoffnung für die Zukunft aufgeben; ich sah keine Möglichkeit, mich von den Fesseln meiner unglücklichen Verhältnisse zu befreien. Da kamst du und nahmst dich meiner an, Emmy; du zeigtest mir den Weg, auf dem ich vorwärts schreiten konnte, und flößtest mir wieder Mut und Zuversicht ein. Jetzt liegt das Leben vor mir wie eine große Verheißung, und ich verlange nicht mehr, zu sterben. Und du – – nein, ich sage nichts weiter …« er bog plötzlich in ein Seitengäßchen ein und entfernte sich mit schnellen Schritten.
Sie blickte ihm bewegt und sinnend nach. »Ich glaube, ihm waren die Thränen nahe, und das sollte ich nicht merken! Guter Junge! wie dankbar ist er für das Wenige, was ich für ihn thun konnte!« –
Als Emmy das Sanbornsche Haus erreichte, fand sie Lizzie am Zaun stehen und mit einer alten, dürftig aussehenden Frau sprechen, die von einem Marktwägelchen abgestiegen war. »Großmama wird es aufrichtig bedauern, Sie verfehlt zu haben,« sagte Delicia eben, »bitte, sprechen Sie recht bald wieder vor; es wird Großmama sehr erfreuen.« Dabei lag in ihrem Gesicht, das heute noch mehr, als sonst, einer rosig angehauchten Apfelblüte glich, eine solche Freundlichkeit, daß ihre kleine Freundin sie mit ganz besonderer Liebe und Bewunderung betrachtete.
»Wer war das?« fragte sie, als die Frau mit zufriedener Miene ihren Wagen bestiegen hatte und nickend davon fuhr.
»Ich habe keine Ahnung,« sagte Lizzie mit drolligem Achselzucken, »ich habe die garstige Alte nie vorher gesehen.«
»Ich dachte, sie wäre eine Freundin deiner Großmutter!«
»Aber, Emmy, wo denkst du hin? Großmama sollte mit einer alten, versteinerten Hinterwäldlerin befreundet sein? Du bringst es freilich fertig, mit solchen Leuten auf ganz vertraulichem Fuße zu stehen, aber wir denken darin doch anders!«
Emmy schwieg, aber sie lehnte heute jede Einladung zum Bleiben entschieden ab, nahm die Haube in Empfang und ging in tiefen Gedanken nach Hause. Sammetweich und glattzüngig – einschmeichelnd und falsch wie ein Kätzchen! Unwillkürlich kamen ihr diese Worte Karls wieder in den Sinn. Hatte er recht? oder war es nur liebreiche Rücksicht auf das Gefühl des Armen, wenn Lizzie so freundlich sprach, während sie es ganz anders meinte? Die Grenze zwischen wirklicher Höflichkeit des Herzens und heuchlerischer Freundlichkeit war wohl nicht ganz leicht zu ziehen.
»Ich rede immer gerade heraus, wie ich denke, und Lizzie ist das Gegenteil von mir,« sagte sich Emmy, »aber wieviel anmutiger ist sie, als ich es bin, und wie gewinnt sie alle Herzen durch ihr holdseliges Wesen!« Nein, nein, sie wollte an ihrer liebsten Freundin keinen Fehler finden, und Karl war sicher im Irrtum, wenn er sie so scharf beurteilte. So brachte sie die leisen Zweifel in ihrem Innern zum Schweigen, und die schwärmerische Liebe, die sie für Delicia empfand, ward weder durch das heutige Gespräch, noch durch das kleine Erlebnis geschmälert.