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Sechstes Kapitel.
Der Lockenraub.

Es war Sommer geworden, und Emmy fühlte sich in Quinnebasset immer wohler und heimischer, trotz der Sehnsucht nach den Ihrigen und der kleinen Kümmernisse, welche ihr Großmamas Eigentümlichkeiten fast täglich bereiteten. Jetzt waren die jungen Mädchen ganz voll von den Vorbereitungen zu einem Fest, welches bei Sanborns stattfinden sollte, zur Feier des 4. Juli, des Tages der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, welcher in Nordamerika als hoher, vaterländischer Festtag begangen wird.

Man wollte sich verkleiden und lebende Bilder darstellen, Emmy sollte als Göttin der Freiheit erscheinen, und die Gesellschaft mit Gefrornem bewirtet werden – lauter herrliche Aussichten.

Emmy hatte eben, auf Wunsch der Großmutter, die Stube ausgefegt und tanzte in übermütiger Fröhlichkeit mit dem Besen im Arme umher, indem sie dazu sang:

»Ich tanz' mit Davids flinken Schritten
Und lehr' die Quäker gute Sitten!«

»Emmy, hör' auf mit dem garstigen Liede,« sagte Frau Howe übellaunig.

»Ja, Großmama,« erwiderte sie und änderte Takt und Melodie:

»Laß mich im Elfenschritt die Füße heben,
Beim Lenzesjubel unter Blüt' und Reben.«

»Emmy, das Tanzen ist eine ganz überflüssige Bewegung.«

»Liebe Großmama, das ist Heilgymnastik. Weißt du nicht, daß heutzutage alles darauf ankommt, die Muskeln zu stärken?«

»Was es jetzt auch für wunderliche, neumodische Ansichten giebt!« brummte Frau Howe. »In meiner Jugend wußte man nichts von Mollusken.«

Emmy kicherte heimlich, und die alte Dame fuhr in strengem Ton fort: »Was thatet ihr beide, du und Karl, heute in der Scheune?«

»Wir gingen abwechselnd auf dem Seil, Großmama. Es war ein großartiger Spaß, aber Esther konnte es nicht; sie ist zu steif dazu.«

»Emmy, wirst du denn nie Vernunft annehmen? Du bist fast erwachsen und kannst diese Kindereien immer noch nicht lassen.«

»Großmama, das geschieht alles nur zur Stärkung der …«

»Laß mich nur mit deinen Mollusken in Ruhe! Du kletterst aus bloßem Vergnügen am Klettern, du fliegst hierhin und dorthin aus reinem Übermut. Und wie wild sehen deine Haare dabei aus! ich wollte, deine Mutter hätte sie dir kurz abgeschnitten!«

»Aber Großmama, kurzes Haar ist jetzt gar nicht modern.«

.

»Was kümmert dich die Mode? in meiner Jugend fragten solche Kinder wie du nicht danach, und du solltest auch lieber an ernstere Dinge denken,« sagte die Großmutter und zerschnitt eifrig ein Stück rotseidenes Band, um ihre Haube damit zu beputzen. »Wenn dein Haar abgeschnitten und danach mit reichlichem Wasser behandelt würde,« fuhr sie fort, »so würde es sich mit der Zeit schon glätten.«

»Ich möchte es aber gern kraus behalten, Großmama; es sieht viel hübscher aus.«

»Aber ich wünsche nicht, daß du immer wie ein Gassenjunge aussiehst, der Gott weiß woher kommt,« sagte Frau Howe streng. »Ich begreife nicht, wie deine Mutter dich so gehen lassen konnte, es ist nicht anzusehen.«

Emmy riß die Geduld. »Wenn du immerfort darüber schelten mußt,« rief sie zornsprühend, »so schneide es selbst ab – ich kann das ewige Gerede nicht mehr ertragen!«

Armes Kind! ihre übergroße Hast bereitete ihr oft schweren Kummer. Großmama nahm sie beim Wort, und kaum hatte jene ausgesprochen, als sie schon die Schere ergriff.

»Was willst du thun?« rief das Mädchen erschrocken und floh in die andere Ecke. »Großmutter, wenn du meine Haare anrührst, weckst du die schlafenden Dämonen in meiner Brust!«

Aber Frau Howe ließ sich nicht abweisen, auch der Großvater nahm Partei gegen seinen Liebling und forderte Gehorsam. Emmy ward auf einen Stuhl gedrückt, man legte ihr ein Handtuch um die Schultern, und die Schur begann. Aber es war ungewohnte Arbeit, das Opferlamm hielt auch keineswegs still, und die Hand der Schneidenden zitterte ein wenig; so wurden die Linien schief und krumm, und ganz erschöpft hielt die alte Dame mitten drin inne. Emmy legte die Hände auf den Kopf, fühlte die ungleichen Spitzen, riß sich los und lief an den Spiegel. »Jetzt sehe ich erst recht aus wie ein Gassenjunge!« rief sie voll Verzweiflung. »O Großmutter, du schreckliche Frau, welch eine Vogelscheuche hast du aus mir gemacht!« Sie brach in leidenschaftliche Thränen aus und stürzte aus ihr Zimmer, wo sie außer sich, wie eine Tigerin im Käfig, hin und her rannte.

»Wenn ich doch einmal garstig aussehen soll, dann mag's drum sein! warum soll ich das abschreckende Bild nicht vollenden?« rief sie in wildem Zorn, griff nach einer Schere und schnitt blindlings rechts und links in ihre Haare hinein. –

»Bin ich das selbst?« fragte sie entsetzt, als sie nach vollbrachter That in den Spiegel sah. An einer Stelle ragten die Haare wie kurze Borsten in die Höhe, an einer andern wehten ein paar verschonte Locken wie Trauerfahnen über einem Schlachtfelde – sie sah aus, als wäre sie aus dem Tollhause entsprungen.

Der Sturm der Aufregung war vorübergebraust, aber es sollte ihm eine lange, bittere Reue folgen. Sie fühlte sich grenzenlos elend, mißhandelt und gedemütigt – und dann fiel ihr plötzlich Lizzies Gesellschaft ein, in der sie die Göttin der Freiheit darstellen sollte. Da lag die vergoldete Krone, die ihr so gut gestanden hatte, als sie auf den vollen Locken thronte; sie setzte dieselbe auf, aber sie fiel ihr bis auf die Augen herunter. Mitten in ihrem Jammer mußte sie plötzlich lachen, die Sache hatte auch ihre komische Seite, aber die Thränen flossen gleich hinterdrein.

Wohl eine Stunde saß sie in tiefster Niedergeschlagenheit da, dann fing sie an zu überlegen, was nun zu thun sei, denn so konnte sie sich unter anständigen Menschen nicht sehen lassen. Die einzige Hilfe konnte von einem geschickten Haarkünstler kommen, aber gab es einen solchen im Städtchen, oder war er eine ebenso unbekannte Größe wie ein »Restaurant«? Sie sah Karl an der Scheunenthür stehen, stülpte einen Hut auf und lief herunter, um ihn um Rat zu fragen. »Karl,« sagte sie mit düsterer Feierlichkeit, indem sie den Kopf entblößte, »sieh her – und lache!«

»Gütiger Gott, was ist dir geschehen?« rief er halb erschrocken, halb belustigt. »Bist du mit dem Kopf in eine Sägemühle geraten? oder haben dich die Ratten benagt?«

»Karl Preston, du gefühlloser Mensch, denkst du, ich käme zu dir, damit du deinen Witz an mir auslassen solltest? Du sollst mich zu einem Barbier führen.«

»Das hast du ja nicht gesagt. Bitte, entschuldige meine Überraschung!« erwiderte er und unterdrückte männlich die Neigung, laut aufzulachen. »Aber sage mir nur, wie dies geschehen konnte? ich kann es nicht fassen.«

»Ich will dir alles beichten,« sagte das arme Ding und verbarg das verweinte Gesicht in beiden Händen. »Großmama haßte meine Haare – meine einzige Schönheit – meinen Stolz!«

»O, wie schändlich,« rief Karl voll Unwillen. »Dann hat sie es wohl absichtlich in solchen wunderlichen Höhen und Tiefen ausgemeißelt – ein sechsjähriges Kind hätte es ja besser gemacht.«

»Nein, Karl, das that ich selbst; ich war ganz von Sinnen vor Wut und Zorn.«

Der junge Mann blickte voll Erstaunen auf die zarte, niedergedrückte Gestalt vor ihm, und sein Befremden that sich in lautem Pfeifen kund. Er hatte schon leidenschaftlich erregte Männer und einige zornmütige Frauen gesehen, aber es waren Leute aus dem Volke gewesen; dies hier war ein Mädchen von feiner Erziehung, und wieviel Geduld hatte sie bewiesen, als sie ihm seine Aufgaben erklärte! Er konnte es sich nicht zusammenreimen.

»So etwas hast du gewiß nicht für möglich gehalten!« sagte Emmy im Gefühl tiefster Demütigung, als er so lange schwieg.

»O freilich! ein Mann schnitt sich einmal die Nase ab, um seine Frau zu ärgern, und ein Skorpion drehte sich um seinen eignen Schwanz, bis er zuletzt sich selbst auffraß,« sagte Karl in einem leichten Ton, dem man gleichwohl eine lebhafte Erregung anhörte. »Aber warum wütetest du so gegen deine hübschen Haare?«

»Ich that es ohne alle Überlegung. Wenn ich immer erst verständig nachdenken wollte, ehe ich eine Dummheit begehe, so würde ich der reine Engel sein.«

»Ja, das glaube ich auch!« erwiderte er mit Wärme. »Aber nun gräme dich nicht mehr, es hilft doch nichts – nur laß dich so nicht vor Menschen sehen, rate ich dir.«

»Natürlich nicht. Ach, warum bleibe ich, trotz aller guten Vorsätze, immer so kindisch und ohne Selbstbeherrschung?«

»Laß es nur gut sein, Emmy, du bist trotz alledem doch das beste Mädchen, das ich kenne, und deine Großmutter sollte sich lieber um ihre eignen Angelegenheiten kümmern. – Ich glaube, sie schnitt dir deine schönen Locken ab, um sich eine Perücke daraus zu machen.«

»Vermutlich!« sagte Emmy lachend, – sie war immer schnell bereit ihre Kümmernisse zu vergessen und die heitere Seite einer Sache zu betrachten. Karl war erstaunt, daß sie gar keinen Groll gegen ihre Großmutter zu hegen schien; sie hatte nur Worte des Tadels für sich selbst. Er beschrieb ihr die Wohnung des Barbiers, »vorn werden Kuchen gegessen, aber hinten schneidet man Haare und Bärte,« und sie machte sich sogleich auf den Weg.

»Du sprichst doch zu niemand über meine Thorheit?« rief sie dringend, indem sie sich noch einmal umwendete.

»Das sollte mir einfallen!« versetzte er mit Nachdruck und sah ihr zärtlich und teilnehmend nach, während sie über den Hof trippelte. »Wenn sie nur nicht selbst darüber reden möchte, das liebe, kleine, ehrliche Ding!« dachte er. »Sie besitzt so viele gute Eigenschaften – aber Vorsicht und Zurückhaltung sind nicht darunter!«


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