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Vierzehntes Kapitel.
Emmys Sorgen.

Unterhaltungen auf der Schiefertafel.

»Schreiben wir wirklich schon wieder den ersten April? Ist ein ganzes Jahr vergangen, seit Dina und ich in so schrecklicher Lebensgefahr schwebten und Gott uns so wunderbar errettete? ein Jahr, seit bei Curtis die herrliche Königin der Nacht ihre duftende Blüte erschloß und ich Lizzie hinter meinem Rücken über mich reden hörte? Ach, hätte sie nie diese Äußerungen gethan – oder wären sie nie an mein Ohr gedrungen! Und doch war's vielleicht so am besten, denn der Wahrheit darf man nicht aus dem Wege gehen, wenn sie auch bitter ist. Wie thöricht war ich doch, mir einzubilden, mein kleines, unbedeutendes Ich könne ihr ebensoviel sein, wie sie mir war: außer Eltern und Geschwistern das Liebste, Beste auf der Welt! Ach, ich bin seitdem um vieles ärmer geworden, denn niemand kann die Lücke in meinem Herzen ausfüllen! Ich liebe sie immer noch mit Zärtlichkeit, ich finde keins der andern Mädchen ihr gleich, aber das rückhaltlose Vertrauen, die fröhliche, sichere Unbefangenheit, die sind für immer dahin!

Karl hat sich in dieser ganzen Angelegenheit sehr hübsch und feinfühlend benommen; nicht einmal hat er es ausgesprochen: ›Habe ich es dir nicht vorhergesagt?‹ Er ist eine sehr edle Natur, und die guten Nachrichten von ihm sind uns allen eine große Freude, nicht wahr, Frau Fogg? Richter Davenport sagt, kein Schüler im Colby-Collegium käme ihm an Fleiß und Fähigkeiten gleich; man wünscht ihn daher nach abgelegter Prüfung als Lehrer an der hiesigen Gemeindeschule anzustellen. Wie unaufhaltsam rollt das Rad der Zeit und welche Umschwünge bringt es mit sich! Als ich herkam, waren Karl und Lena zwei Nullen, die niemand beachtete; jetzt ist Karl auf dem Wege, ein angesehener Mann zu werden, und Lena ist eine angehende Dichterin! Wenn eine so bedeutende Zeitschrift wie die ›Atlantis‹ ihre Dichtungen abdruckt, so muß doch etwas daran sein. Wer hätte das gedacht!

Lena ist viel genießbarer geworden, seitdem sie tüchtig arbeiten muß, um den Lebensunterhalt der Familie erwerben zu helfen. Heute versah sie nebenbei den Telegraphen, da Nanny ausgegangen war. Sie wollte zu meinem Vergnügen eine Unterhaltung mit ihrer Freundin Gracia Morris anfangen, welche jetzt Telegraphistin in Rosewood ist, fand aber, daß diese nicht am Apparat säße, sondern eine Stellvertreterin. Es wurde allerlei Unsinn hin und her telegraphiert, bis eine Depesche eintraf, die mich starr machte. Sie war von einem Herrn unterzeichnet, der sich Zephanja Coolbroth nannte und sagte, er sei bestimmt, als Missionar nach Grönland zu gehen, suche aber eine passende Gefährtin. Wolle Friedrich Howes kleine Tochter sich nicht entschließen, ihn nach Upernivik zu begleiten, um die Thran trinkenden, Fischbein kauenden Eskimos in allem Guten zu unterweisen?

Es war ein sehr unverschämter Scherz, und ich verbot Lena, irgend eine Antwort darauf zu geben. Aber wer in aller Welt kann in Rosewood etwas von Friedrich Howes Tochter wissen?«

* * *

»Ach, Frau Fogg, mein Herz ist schwer und kummervoll! Wäre ich nicht ein großes, erwachsenes Mädchen von sechzehn Jahren, ich möchte vor Ihnen niederknieen, meinen Kopf in Ihren Schoß legen und mich satt weinen. Was soll aus uns werden? Mein Vater ist immer noch auf Reisen; von Colorado ging er nach Kalifornien, dann nach Texas, und jetzt ist er, Gott weiß wo! Kann er es dabei zu etwas bringen? Ihnen allein will ich es anvertrauen, meine verschwiegene Freundin, daß ich recht böse auf Papa bin; er ist so unbeständig und ohne rechte Thatkraft. Wollte er wenigstens die Gründe dieses steten Wechsels der armen Mutter auseinandersetzen, wie viele Thränen und schlaflose Nächte würde er ihr ersparen! Aber er denkt wohl, wie so viele Männer, daß seine Frau zu zart besaitet sei, um etwas von Geschäften zu verstehen, und so läßt er sie lieber in ewiger Sorge und quälender Ungewißheit.

Aber ob stark oder schwach besaitet – so viel ist mir sonnenklar, daß eine Frau zum Leben Geld gebraucht. Seit Mama hier ist, haben wir nichts gehabt, als das Darlehn der Großmutter, von dem wir obenein die Zinsen zahlen müssen. Wie lange wird das noch vorhalten? Die Knaben brauchen so viel; alle Augenblicke schreibt Tante Theodora eine lange Rechnung über hundert Dinge, an die wir gar nicht gedacht haben. Die liebe, einzige Mutter versteht es leider nicht sehr, sich einzurichten; sie ist im Überfluß aufgewachsen und fällt manchmal unmerklich in die Gewohnheiten besserer Tage zurück. Heute versagt sie sich die bare Notdurft, und morgen läßt sie ein wissenschaftliches Werk mit teuren Kupfertafeln kommen, ohne das wir uns recht gut hätten behelfen können und welches Großmama sehr verächtlich – ein Bilderbuch nennt!

Sonst ist diese aber wunderbar gut gegen die Mama und liebt sie wirklich. »Gräme dich nicht, Karoline,« sagt sie oft, »du kannst bei uns bleiben, so lange du willst.« Großpapa nimmt die ganze Angelegenheit mit großer Kaltblütigkeit auf. »So war Friedrich immer!« sagt er, »aber du wirst sehen, er bringt es doch noch zu etwas und kommt plötzlich als wohlhabender Mann zurück.« Das tröstet die arme Mutter etwas, und dann suche ich sie zu erheitern, wie ich nur kann; ich liebkose sie und rede allerhand thörichtes Zeug, bis sie anfängt, zu lachen. Dann jagen wir uns manchmal in der Stube umher, wie zwei Kinder und scheinen ganz übermütig und lustig – sie sagt, das erfrische ihre Lebensgeister. Großmama hält mich oft für recht kindisch und albern – mag sie es thun; Ihnen aber, Frau Fogg, sage ich, daß ich aus Grundsatz so bin; in mir sieht es oft trübe und ernst genug aus. Aber was hülfe alles Jammern und Klagen?

Es ist schon unangenehm genug, daß alle Leute im Ort genau wissen, daß Papa immer unterwegs ist und sehr lange nicht geschrieben hat. Nie treffe ich Jonathan Page, ohne daß er mich grinsend fragt: ›Noch immer keine Nachricht aus dem Westen?‹ Ebenso Miß O'Neil. Gestern sagte sie, dies lange Schweigen sei höchst verdächtig; an Stelle meiner Mutter würde sie auf Ehescheidung antragen. Ich war so wütend, daß ich sie hätte zerreißen mögen. ›Wahrscheinlich ist Papa nach Afrika gegangen, um den Venus-Durchgang zu beobachten,‹ sagte ich hitzig, ›bei den Schwarzen ist die Postverbindung schlecht.‹

Sie sah mich sehr erstaunt und mißtrauisch an; aber ich bin überzeugt, sie stürzte sofort zu Frau Hackett, um ihr diese Neuigkeit mitzuteilen, über die nun wohl schon die ganze Stadt ihre Ansichten austauschen wird.

Ich weiß nicht, was meiner süßen Mutter weher thut, dies Geschwätz, oder jenes Schweigen?«

Darauf schrieb Esther:

»Von allem Bittern, was das Leben bringt,
Am tiefsten Schweigen in die Seele dringt!«

* * *

»Endlich ist das dunkle Schweigen gebrochen, Papa hat geschrieben und zwar ganz aus unserer Nähe; er hatte nur vergessen, seine letzten Briefe auf die Post zu geben. Er sagt, das Glück hätte ihm bisher immer noch den Rücken gekehrt, aber endlich müßte es ihm doch wieder sein volles Antlitz zuwenden. ›Gott gebe es!‹ sagte Mama, indem sie in nervöser Erregung an ihrem Kleide zupfte, wie sie es so oft thut, ›das Warten macht so müde! Aber es geht ihm wohl wie den Kindern Israels, als sie aus Kanaan vertrieben wurden: zehn Plagen mußten sie erdulden, ein Wunder erleben – und dann lag die Wüste vor ihnen!‹

Die Worte klangen wie ein verhaltener Schrei aus einem halbgebrochenen Herzen und ließen das meine in heißem Mitgefühl erbeben. Ich schlang meine Arme um sie und schloß ihr die zuckenden Lippen mit zärtlichen Küssen. ›Gräme dich nicht, liebste Mutter,‹ sagte ich zuversichtlich, ›von jetzt an werde ich für uns alle sorgen.‹ Sie lächelte und gab mir einen scherzhaften, kleinen Schlag; natürlich hält sie mich für viel zu jung und thöricht, um es ernst zu meinen. Aber ich sage ihnen, Frau Fogg, es ist mir ein heiliger Ernst damit, und ich werde nicht eher Ruhe finden, als bis ich mir wenigstens meinen eignen Unterhalt erwerben kann.

Aber wie? Ich erinnere mich, daß wir vor Jahren eines Abends in Boston um den Theetisch saßen. Das Silbergerät glänzte im Gaslicht, Mama sah in ihrem Kleide von hellgrauer Seide mit Spitzen so schön und lieblich aus wie eine Braut. Großpapa Howard war auch da; er war ein lieber, guter Mann, ähnlich wie der hiesige Großvater, nur besaß er fünfzigmal so viel Geld wie dieser. Er erzählte uns von einem Fabrikmädchen, das infolge von Überarbeitung krank geworden und gestorben war.

Ihm standen dabei die Thränen in den guten Augen, denn er hatte ein warmes Herz für die Armen. ›Wie richtig ist doch Martin Luthers Ausspruch: Dies ist eine harte Welt für die armen Mädchen!‹ sagte er, ›wie dankbar müssen wir alle sein, daß unsere kleine Emmy für immer vor Mangel und Not geschützt ist!‹ Was würde der liebe, alte Großvater jetzt zu seiner kleinen Emmy sagen? Ach, warum sind diese Großeltern, die mich so zärtlich liebten, uns genommen? Es ist wohl richtig, daß es sehr schwer für ein Mädchen ist, sich allein durch diese harte Welt zu schlagen. Was denken Sie davon, Frau Fogg?

Karl behauptete immer, ich müßte Lehrerin werden, aber das kommt mir entsetzlich vor! Lizzie dagegen meinte, ich hätte Anlage zum Schriftstellern. ›Ein Buch für Kinder,‹ schlug sie vor; ›damit machst du den Anfang, denn für Kinder kann jeder schreiben.‹ So füllten wir denn die Abende der vergangenen Woche damit aus, uns eine solche Geschichte auszudenken.

 

›Alice war ein liebes, kleines Mädchen mit kastanienbraunem Haar und blauen Augen. Sie wohnte in Philadelphia, einer großen, schönen Stadt mit vielen freien Plätzen.‹

 

So weit war's gut, aber über die Familienverhältnisse der kleinen Alice konnten wir nicht ins klare kommen. Sie sollte eine Waise sein, aber es erschien uns doch zu grausam, daß sie ganz allein in der Welt dastehen sollte. Ich machte den Vorschlag, daß sie auf der Straße Blumen oder andere Dinge zum Verkauf ausbieten solle, aber das gefiel Lizzie gar nicht. So kamen wir nicht zum Ziel, und schließlich mußten wir schon lachen, wenn eine anfing: ›Alice war ein liebes, kleines Mädchen.‹

Eigentlich sind Geschichten für Kinder gar nicht nach meinem Geschmack; ich möchte lieber etwas schreiben, was wirklich der Mühe lohnt. Es muß doch ein herrliches Gefühl sein, sich von dem Beifall seiner Leser getragen zu wissen, und ich kann mir gar nicht denken, daß es so schwer sein sollte, ein hübsches Buch zu schreiben. Man braucht nur ein wenig sein Gehirn anzustrengen, dann kommen die Gedanken angeprasselt wie Hagelschauer.«

Hier nahm ihr Esther den Stift fort und schrieb unter herzlichem Lachen: »Meine kleine Emmy, Sie sind immer noch zu schnell mit Ihren Schlüssen. Soviel ich davon verstehe, haben es die Schriftsteller nicht leichter, als andere Menschen. Sie gleichen den fleißigen Bienen, welche den Honig, den sie einsammeln, nicht selbst genießen, sondern für andere bereiten. Vielleicht werden Sie einst einmal eine Schriftstellerin werden; aber erst müssen noch ein paar Jahre vergehen, in denen Sie den Honig sammeln, d. h. Sie müssen leben, leiden, denken und empfinden – dann erst können Sie schreiben.«


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