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Zwanzigstes Kapitel.
Ein Doppel-Antrag.

Die Schiefertafel.

»Fragen Sie mich nicht nach Karl, Frau Fogg, ich weiß nicht, was ihm fehlt. Will Curtis beträgt sich ähnlich, und Virginia meint, alle jungen Leute, welche vor der Wahl eines Berufes stünden, hätten solche Zeiten des Mißmuts und der Unbefriedigung durchzumachen. Vielleicht bedauert Karl nun doch seinen vorzeitigen Abgang von der Universität, aber deshalb brauchte er noch immer nicht so wunderlich und mürrisch zu sein. Er ist der reine Bücherwurm geworden und scheint nur noch an Virginias Gesellschaft einiges Vergnügen zu finden. Als er gestern abend nach Hause kam, spielte ich gerade Herrn Palmer etwas vor. Sobald Karl des Gastes ansichtig wurde, machte er ihm eine ganz kurze, steife Verbeugung und stürmte sogleich durch die Küche wieder hinaus. Herr Palmer sah ihm erstaunt nach und schien dann mit seinem Kopfnicken sagen zu wollen: »Da haben Sie die Höflichkeit eines selbstgemachten Mannes!«

Ich wünschte, Herr Palmer käme nicht so oft her; er stört unsere gemütlichen Abende, unterbricht das Vorlesen guter Bücher und redet eine Menge Unsinn, dessen man bald müde wird. Sollte es das Klavier sein, das ihn so anzieht, so würde ich bedauern, es gemietet zu haben. Übrigens kann ich ihm eine gewisse Liebenswürdigkeit nicht absprechen, welche den Verkehr mit ihm angenehm und bequem macht. Er erfreut sich auch überall der größten Beliebtheit, außer bei Lizzie, die ihn aus irgend einem Grunde gar nicht leiden kann. Warum machen Sie so ein ungläubiges Gesicht, Frau Fogg? Diesmal war sie wirklich aufrichtig und sah mir offen und ehrlich in die Augen, während sie ihre Abneigung aussprach. Ach, ich möchte ihr so gern rückhaltslos glauben, denn was ist Liebe und Freundschaft ohne Vertrauen?«

* * *

»Lassen Sie die Kartoffeln sich selbst braten, Frau Fogg, und setzen Sie sich hierher, ich habe Ihnen etwas Spaßhaftes zu erzählen.

Sie besinnen sich doch noch auf Hiob Fettyplace, der uns im vorigen Winter einmal besuchte, und der so entsetzt auffuhr und von dannen lief, als Großpapa um acht Uhr das Feuer schürte? Gestern abend hielt er einen naturwissenschaftlichen Vortrag in unserer Schule; derselbe war so trocken und langweilig, daß man ungeduldig auf das Ende wartete. Als der Redner eine Stunde lang gesprochen hatte und Atem schöpfte, fingen die anwesenden Knaben laut zu klatschen an, sie glaubten, er wäre fertig; aber ach! er hatte erst die Hälfte seines Vortrages gehalten; gelassen drehte er sein Heft um und fing von neuem an. Endlich kam er aber doch zum Schluß; alles atmete erleichtert auf und drängte hinaus. Am Eingang stand Herr Fettyplace, trat auf mich zu und bot mir seinen Arm und Schirm an, denn es hatte angefangen, zu regnen. Ehe ich mich von meinem Erstaunen erholt hatte – denn wer hätte je eine solche Aufmerksamkeit von dem schüchternen Hiob erfahren? – sah ich Karl schon mit Virginia abgehen, und es blieb mir nichts übrig, als seine Begleitung anzunehmen.

Ich wußte nichts zu sagen und er natürlich auch nicht. Hätte er nur einige lateinische Regeln aufgesagt, so wäre es schon eine Erleichterung gewesen, aber er räusperte sich nur fortwährend, so daß ich ihn für erkältet hielt und ihm schon raten wollte, daheim heißen Thee zu trinken. Ich beschleunigte meine Schritte, um ihn schneller freizumachen, aber es schien ihm nicht darum zu thun zu sein; denn er ging ebenso langsam weiter wie bisher und zwang mich dadurch, dasselbe zu thun.

Endlich, als wir schon dicht vor unserem Hause standen, begann er plötzlich: ›Fräulein Howe, Sie sind jung – sehr jung …‹

›O wirklich?‹ fragte ich erstaunt.

›Ich dagegen bin alt – sehr alt – schon sechsundzwanzig Jahre … sollte ich je heiraten …‹

Ein kalter Schauer überlief mich, ich streckte die Hand aus, um die Pforte zu öffnen, aber er warf seine langen Arme dazwischen. ›Fräulein Emmy,‹ stammelte er in höchster Aufregung und machte allerlei Bewegungen, als wollte er sich in Stücke reißen, ›Sie gefallen mir sehr – könnten Sie – würden Sie – an eine Verbindung mit …‹

›Bitte, lassen Sie das, Herr Fettyplace,‹ bat ich.

›… mit Jeremias denken?‹

Ich weiß nicht, ob ich bei diesen Worten lachte oder weinte, er aber stöhnte mit einem Blick voll Todesangst: ›Oder mit mir?‹

Das war zu viel; in der nächsten Sekunde hatte ich die Pforte aufgerissen, war wie ein Pfeil über den Hof geflogen und holte nicht eher Atem, bis ich im Hause und in Sicherheit war. Mama, die noch nicht schlief, kam herunter, um zu sehen, was vorgefallen sei; aber ich konnte ihr kaum Antwort geben, und als Karl ankam, fand er mich in strömenden Thränen.

›Was in aller Welt hast du Hiob Fettyplace angethan?‹ fragte er mich. ›Er stürzte ohne Hut an mir vorbei, mit flatternden Haaren, als gälte es einen Wettlauf.‹

›Ich habe ihm nichts gethan, aber er mir,‹ brachte ich mühsam hervor. ›Er fragte mich, ob ich ihn oder Jeremias haben wollte; es schien ihm ganz gleich, welchen ich wählte.‹

›Hurrah!‹ rief Karl, ›ich hielt Hiob stets für einen ganzen Mann, der nichts halb thäte.‹

›Diesmal hat er es doch gethan!‹ sagte ich und legte meinen müden Kopf in Mamas Schoß; ich fühlte mich wie zerschlagen.

›Weine nicht, Kind,‹ sagte sie tröstend, ›du hast sein Herz noch nicht gebrochen.‹

›Höchstens die Hälfte, Mama …‹

›Und die andere Hälfte von Jeremias' Herzen!‹ meinte Karl. ›Ich bin neugierig, welcher von den Fettyplaceschen Söhnen am meisten darunter leiden wird – wahrscheinlich Jeremias, da er nicht die Geduld eines Hiob besitzt.‹

In der Nacht träumte ich von dem armen Hiob, wie er ohne Hut davonlief und seine Haare im Winde flatterten. Wie schrecklich muß diese Sache ihm sein! Er besitzt Verstand genug, nur seine grenzenlose Schüchternheit läßt ihn oft so thöricht und abgeschmackt erscheinen. Mir ist jetzt ganz klar, wie alles gekommen ist: er ist so gewöhnt, für Jeremias zu sprechen, daß ihm dessen Name unwillkürlich auf die Lippen kam. Hätte ich nur nicht gelacht und nicht Karl alles erzählt! es war gar nicht zartfühlend von mir – und Karl ist so peinlich in dem, was Mädchen sagen und thun. Er erschien mir heute sehr kühl und zurückhaltend, und ich kann mich nicht darüber wundern. Es giebt noch etwas Größeres, Frau Fogg, als die Gabe, mit Zungen zu reden, das ist die Fähigkeit, die Zunge im Zaum zu halten.«

* * *

»Hiob Fettyplace ist nach Kalifornien abgereist. Karl traf gestern Jeremias in höchst trübseliger Verfassung auf der Post; er sagte, er könnte sich seines Bruders plötzlichen Entschluß gar nicht erklären, da er bisher noch nie einen Wandertrieb gezeigt habe. Sie lächeln, Frau Fogg, und ich lache auch, aber die Thränen sitzen gleich dahinter. Es giebt allerlei, was mich bedrückt, und Ihnen, meiner verschwiegenen, mütterlichen Freundin, muß ich einmal mein ganzes Herz ausschütten.

Die Leute fangen an, sich zu wundern, daß Herr Palmer so oft herkommt. Dora sagte mir mit scharfer Betonung, ein Klavier hätte für manche Menschen eine unwiderstehliche Anziehungskraft, und Frau Hackett deutete an, daß die Aufmerksamkeiten dieses Herrn ernst gemeint schienen und hoffentlich nicht meinem Vermögen gälten. Hat man je solchen Unsinn gehört! Ich wünschte, er wendete seine ernste Aufmerksamkeit allein der Schule zu, und was mein Vermögen betrifft – du lieber Himmel! sollte es wahr sein, was Lena mir einmal sagte, daß man mich für Großmamas Erbin hält, so möchte ich am liebsten aufs Dach steigen und unter Glockenschall verkünden, daß ich arm wie eine Kirchenmaus bin!

Aber das Schlimmste an der Sache ist, daß sich Mama Herrn Palmer sehr geneigt zeigt. Sie findet sein Gesicht sehr bedeutend und behauptet, im Inneren seiner Seele lesen zu können. Genau dasselbe sagte sie einmal von einem unserer Mädchen, das nachher mit den silbernen Theelöffeln auf- und davonging. Wenn er kommt, legt sie ihre ewige Schreiberei beiseite, unterhält sich mit ihm, setzt ihm von den südländischen Früchten vor, die Papa neulich schickte und die sie nicht einmal Karl angedeihen läßt, und sieht so belebt aus, wie in glücklicheren Zeiten. Und wenn er fort ist, spricht sie in Anspielungen, die nicht mißzuverstehen sind, von seinem schönen Vermögen, und wie hart diese Welt für arme Mädchen wäre, und daß sie hoffte, mich bald gut versorgt zu sehen.

›O Mama,‹ bat ich flehentlich, ›laß solche Reden; ich fühle keine ernstliche Neigung, außer für meine Schule.‹

›Natürlich!‹ sagte sie lächelnd, ›ihr Mädchen habt so romantische Gedanken im Kopf; ihr wartet immer auf edle Ritter, die niemals kommen. Aber ich will dir ein Geheimnis sagen, mein Kind: wir lieben immer nur das Ideal, das wir uns selbst gemacht haben, wie der Bildhauer die Statue, aber das Urbild ist nie zu finden. Daher sehen so viele Frauen, daß ihre Männer ganz anders sind, als sie es erwarteten.‹

›Dann sollten sie suchen, sie vorher besser kennen zu lernen,‹ sagte ich.

›Das ist unmöglich. Nein, Emmy, je älter ich werde, desto besser gefällt mir die französische Sitte, nach der die Eltern die Gatten für ihre Töchter aussuchen. Sie haben mehr Erfahrung und können daher besser beurteilen, was für ihre Kinder gut ist.‹

O Frau Fogg, ich kann Ihnen nicht alles wiederholen, was Mama sagte; es schmerzt mich so, daß sie, die ich so grenzenlos liebe, auf deren Bildung und feine Denkungsart ich so stolz war, wünschen kann, ich möchte Herrn Palmer heiraten – nur weil er reich ist und all unserer Not ein Ende machen könnte. Ich glaube, ich kann ihm nicht mehr unbefangen ins Gesicht sehen.«

Esther schrieb: »Ich wundere mich nicht, mein armer Liebling, daß Ihnen diese Sache sehr peinlich ist. Aber haben Sie Geduld mit Ihrer Mutter, deren zartes Gemüt durch harte Sorgen schwer bedrängt ist, und die dennoch nur Ihr Bestes will. Sie ist als junges Mädchen so verwöhnt worden, daß der Gedanke an ein Leben voll schwerer Arbeit für ihre Tochter ihr unerträglich erscheint.

Doch hinweg mit solchen verfrühten Gedanken aus Ihrer jungen Seele! Thun Sie täglich treu Ihre Pflicht, seien Sie fröhlich und unbefangen und befehlen Sie die Zukunft Gott, der für Sie sorgen wird. Denken Sie an die Worte: Man kann allmählich ein Engel werden, aber ein junges Mädchen wird man nie wieder!«


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