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Die Dunkelheit brach herein, man hörte draußen den Wind heulen und den Regen gegen die Fenster peitschen; der alte Kapitän Howe aber lachte heimlich dazu, denn seit Wochen hatte seine Frau Trockenheit prophezeit – und nun kam es so.
»Du hast eine eigne Art nasser Dürre, Mutter,« meinte er schmunzelnd und zündete seine Pfeife an. »Es regnet noch ärger, als sonst um diese Zeit.«
Sie nickte nur und machte gleichmütig die Naht an ihrem Strickzeuge. Eine Lampe war noch nicht angezündet, doch hätte man bei dem flackernden Kaminfeuer eine hübsche, ältere Frau sehen können, deren feine Gesichtszüge von einer Spitzenhaube umrahmt wurden. Ihr gegenüber saß ein großer, starker Mann in einem bunten Schlafrock; von der kahlen Platte inmitten seines mächtigen Kopfes fiel ein dünner Streifen grauer Haare bis zum Nacken herab.
»Vermutlich hat das Unwetter die Post aufgehalten,« bemerkte der Kapitän nach einer Weile, »sonst würde Karl mit den Briefen schon hier sein.«
»Was für Briefe erwartest du denn schon wieder, Vater?«
»Einen von Friedrich zum Beispiel.«
»Aber er schrieb ja erst vor acht Tagen.«
»Ja wohl, aber du weißt, was für eine schwere Zeit der arme Junge wieder durchgemacht hat; mich verlangt sehr nach Nachricht von ihm.«
»War ihm etwas Besonderes widerfahren?« fragte Frau Howe kühl – sie war nicht Friedrichs Mutter, sondern die zweite Frau ihres Mannes und erst seit zehn Jahren mit ihm verheiratet. – »Ich hatte seinen Brief zwar in der Hand, konnte aber nicht klug daraus werden, denn Friedrich schreibt eine sehr unleserbare Handschrift.«
»Unleserlich, meinst du wohl, meine Liebe,« warf der Kapitän schüchtern ein.
»Leserbar oder leserlich – jedenfalls kann ich sie nicht entziffern. Wo steckt er denn eigentlich? Er kommt mir immer vor wie ein rollender Stein, heute hier, morgen da.«
»Er wußte noch nicht, wohin er sich wenden solle,« erwiderte ihr Mann mit einem Seufzer. Er pflegte seinen Sohn selbst einen rollenden Stein zu nennen, aber aus einem andern Munde verletzte ihn der Ausdruck.
»Sag' mal, Vater, wieviel Kinder hat Friedrich eigentlich?«
»Vier, zwei Knaben und zwei Mädchen.«
»Ein großer Haufe für eine Frau, die nichts versteht.«
»O, meine Liebe, Karoline ist nicht so schlimm, sie ist nur kränklich.«
Frau Howe lächelte überlegen. »Ich weiß, daß sie sich für sehr zart hält, aber sie gehört sicher zu den bildlichen Kranken.«
»Du meinst ›eingebildet‹, nicht wahr, Mutter?« Die kahle Stelle auf des Kapitäns Haupt errötete förmlich, als er so sprach; er betrachtete seine kleine Frau als sehr klug und weise und getraute sich kaum, sie zu verbessern, wenn ihr mitunter ein verkehrtes Wort entschlüpfte.
»Ich meine, sie steckt voller Launen und macht zu viel Wesens von sich – und das ist ein schlimmes Ding für einen Mann wie Friedrich, er thut mir leid!« entgegnete Frau Howe sehr bestimmt und sah dabei ungefähr so teilnahmsvoll aus wie ihre graue Katze.
»Mir auch!« sagte ihr Gatte aufrichtig betrübt. »Vermutlich müssen sie gerade jetzt umziehen, und er wird irgendwo etwas Neues zu unternehmen versuchen, der arme Bursche!«
»Ich denke, daran sind sie alle schon gewöhnt,« erwiderte Frau Howe gähnend und gänzlich ungerührt. »Vermutlich werden sie die Kinder zu Karolinens Vater bringen.«
»Aber, meine Liebe, der ist ja tot!« sagte der Kapitän. »Vielleicht schicken … du weißt, Mutter, es war einmal die Rede davon, die älteste Tochter solle zu uns kommen.«
»Das höre ich zum erstenmal, du hast mir nie ein Wort davon gesagt.«
»Friedrich schrieb im vorigen Jahr so etwas; ich erzählte es dir damals.«
»Ich weiß nichts davon, jedenfalls hast du mich nicht um Rat gefragt. Wie heißt das Mädchen, und wie alt ist es?«
»Emmy muß vierzehn Jahre sein, denke ich. Als Friedrich von hier fortging, war sie gerade vier – das war kurz, ehe wir beide uns heirateten, Mutter. Sie war ein schlaues, kleines Mäuschen, und ich würde mich freuen, sie wiederzusehen.«
Frau Howe hatte die Lippen zusammengekniffen, ein Zeichen, daß sie diese Angelegenheit als beendet ansähe; aber ihr Gatte sah sie gerade nicht an, sondern fuhr unbekümmert fort: »Als wir beide so allein dasaßen, kam mir plötzlich der Gedanke, ob es nicht sehr passend wäre, wenn Emmy hier die höhere Schule besuchte? Solch ein munteres Ding würde uns eine recht liebe Gesellschaft sein.«
Es erfolgte keine Antwort, man hörte nur das Klappern der Stricknadeln, das ebenso eintönig klang wie das Ticken der großen Uhr in der Ecke.
»Wir haben Raum genug, Mutter,« fuhr der Alte überredend fort, »nur du und ich, Karl und Esther – es ist ordentlich leer in dem großen Hause. Wir könnten das Kind sehr wohl für eine Weile bei uns aufnehmen.«
Klipp, klapp, tick, tack machten Nadeln und Uhr, und die Hollunderbüsche schlugen klatschend gegen das Fenster. Frau Howe hörte eigentlich vortrefflich, aber zuweilen paßte es ihr, sich taub zu stellen. Dann war es, als fiele plötzlich eine Fallthür vor ihren Ohren nieder, und ihr Mann mochte nun aufhören zu sprechen, oder seine Bemerkungen an die Katze richten – es kam alles auf eins heraus.
Aber er wollte heute durchaus nichts merken. »Mädchen von diesem Alter können schon eine Hilfe sein,« redete er immer weiter, »sie können nähen, stricken, Einkäufe machen – ich glaube wirklich, Mutter, du könntest recht froh sein, wenn Emmy käme.« Damit zog er einige Scheite Holz aus dem Messingständer und ließ sie dröhnend auf die Seite fallen. Er hatte die Gewohnheit, jeden Abend, Schlag acht Uhr, mit einem nervenerschütternden Lärm das Feuer zu schüren und neues Holz aufzulegen. »Das giebt zu morgen früh eine gute Schicht Kohlen und spart Streichhölzer,« pflegte er selbstgefällig zu sagen, denn er hielt sich für ein Muster von Sparsamkeit, weil er mit der Feuerung so gut umzugehen verstand.
Plötzlich erklang draußen das Knarren von Rädern: »Das kann nicht die Briefpost sein!« rief er und richtete sich heftig auf; dabei stürzte das zierlich aufgebaute Holz um, und das Feuer erlosch. Jetzt herrschte völlige Finsternis in der Stube, und ehe Frau Howe aufstehen und Licht holen konnte, hielt die Postkutsche mit schrillem Hörnerklang gerade vor der Thür, und man vernahm deutlich das Peitschenknallen und Hallohrufen des Postillons. Dieser Ton schnitt in das Herz des Kapitäns, als sei es ein Totenglöckchen. Er ahnte, daß seine Großtochter angekommen sei, und wünschte es auch, aber dennoch zitterte er vor dem Augenblick, wo sie erscheinen würde. Er hatte es seinem schwer bedrängten Sohne nahegelegt, ihm sein Kind zu schicken, nun mußte er die Folgen tragen! So alt der Großpapa war, so beging er doch zuweilen kleine Unvorsichtigkeiten, denn er hatte ein gastfreies Gemüt und dachte nicht in jedem Augenblick daran, daß im vorigen Jahr seine Sägemühle abgebrannt und er ein armer Mann geworden war. Zwar war seine Frau wohlhabend, aber sie hütete ihre Schätze eifersüchtig und verfügte ganz allein darüber.
Frau Howe hatte inzwischen eine Lampe angezündet und die Hausthür geöffnet; sie hatte Friedrich und seine kleine Tochter ganz vergessen und war sehr erstaunt, als sie mehrere Zoll unter sich das ernste Gesicht eines kleinen Mädchens erblickte, welches in einen triefend nassen Regenmantel gehüllt war und die Kapuze über den Kopf gezogen hatte. »Wer ist da?« fragte sie, »was machen Sie hier in diesem Regen?«
»Ich bin Emmy Howe,« erwiderte eine jugendliche Stimme. »Papa sagte, Sie erwarteten mich.«
»Ach so, du bist wohl gar Friedrichs kleine Tochter? Und jener riesige Koffer gehört dir?«
Das war die ganze Begrüßung, und der Ton derselben war eisig wie der Märzwind, so daß es die arme Emmy vom Kopf bis zu den Füßen durchfröstelte.
Jetzt war der Großvater mit seiner Krücke bis an die Thür gelangt; er streckte seine Arme aus, zog das nasse, kleine Wesen an sich und küßte es mit warmer Zärtlichkeit, was das Mädchen fast ebenso überraschte, wie die Kälte der Großmutter.
»Komm ans Feuer und trockne deine Füße, Kleine,« sagte er herzlich. »Ei, ich sehe, das Feuer ist ausgegangen, aber da ist ja endlich der Karl. Flink, mein Junge, bringe noch einige Scheite Holz her! – Also dein Vater hat sich entschlossen, Boston zu verlassen und dich herzuschicken? Willkommen, mein kleines Herzblatt, Gott segne dich! Sieh, dies ist deine Großmutter, die du noch gar nicht kennst – sie wird dir gleich etwas Abendbrot besorgen, denn du mußt ja ganz verhungert und erfroren sein.«
Die Großmutter sah freilich nicht so aus, als ob sie sehr gastfreundliche Absichten habe; doch nahm sie Emmys nassen Mantel, den ihr Gatte ihr reichte, und verschwand damit in der anstoßenden Küche. Als die Thür sich hinter ihr schloß, flog die kleine Fremde dem alten Herrn um den Hals. »Ach,« schluchzte sie, »nun ist mir alles klar: Papa hat nicht an dich geschrieben, und ihr habt mich gar nicht erwartet. O, mein Gott, warum bin ich nur hergekommen?«
* * *