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Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Die Anklage.

Der schöne Herbst neigte sich dem Ende zu, die düsteren Vorboten des Winters meldeten sich allgemach, bis er zuletzt sein strenges Szepter selbst übernahm. Es war ein trügerischer Dezembertag; zuweilen brach die Sonne durch die Wolken und lächelte so heiter wie im Juni, dann kamen plötzlich große, weiße Flocken herabgewirbelt und zeigten deutlich, daß der Tag von Herzen rauh und unfreundlich gesonnen sei.

Die Verhandlung in Sachen Friedrich Howe sollte heute ihren Anfang nehmen, und der große Gerichtssaal war bereits gedrängt voll. In einer Ecke saß dicht verschleiert, zwischen Emmy und der teilnehmenden Virginia Curtis, Frau Karoline. Sie war als Fremde nach Quinnebasset gekommen und hatte seitdem sehr zurückgezogen gelebt; die Einwohner klagten, daß es schwer halte, mit ihr bekannt zu werden, aber man schätzte sie gewissermaßen vom Hörensagen, und da sie augenscheinlich tief bekümmert war, hoffte man um ihretwillen auf die Freisprechung ihres Gatten. Die lebhafteste Teilnahme aber war dem allgemein geschätzten Kapitän und seiner Großtochter zugewandt. Über die letztere herrschte eigentlich nur eine Meinung im Ort; sie hatte ihre unbestreitbaren Fehler und ließ ihrer Zunge oft den Zügel schießen, aber auch aus der heftigen Rede sprach immer ein gutes Herz, und jedermann hatte sie lieb. Sie war mit den Jahren immer hübscher geworden, und wenn sie auch durchaus keine Schönheit war, so war doch das Ganze ihrer Erscheinung, die Anmut ihrer Bewegungen, die lebendige Frische, die aus jedem Zuge leuchtete, ungemein ansprechend. Heute zwang sie ihre Lippen zu einem Lächeln, das so gemacht und künstlich erschien, wie das gemalte Schild über einer Ladenthür; sie hatte es nur angenommen, um ihre Mutter zu ermutigen, aber es bildete einen traurigen Gegensatz zu den thränenvollen Augen und der wechselnden Farbe ihrer Wangen, die ihre eigene Sprache redeten.

Ihr gegenüber saß Will Curtis, der Emmy so unverwandt beobachtete, daß die stets wachsame Frau Hackett und selbst die sanfte Maggie Selden darauf aufmerksam wurden. Karl Preston dagegen, der sich neben Herrn Loring im Kreise der Advokaten befand, schien nur Augen für die Richter, die Geschwornen und den Aktenstoß zu haben, der vor ihm auf dem Tische lag.

»Wie würdig er aussieht!« dachte Emmy. »Die ganze Sache erinnert mich an jenen Tag – es sind wohl tausend Jahre her – als meine Haare mir abgeschnitten waren und er den Advokaten spielte. O wäre dies hier auch nur ein Spiel!«

Alle Blicke richteten sich jetzt auf die Thür, und Miß O'Neil erhob sich von ihrem Sitze, um besser sehen zu können, denn der Gerichtsdiener führte den Gefangenen herein. Friedrich Howe war ein auffallend schöner Mann, aber Haare und Bart waren während seiner Haft so stark ergraut, daß er nicht länger fürchten durfte, für jünger gehalten zu werden, als er war. Er ließ die milden Augen prüfend auf der versammelten Menge ruhen, aber sie eigneten sich besser dazu, die Feinheiten eines poetischen oder wissenschaftlichen Werkes zu erforschen, als menschliche Gesichter zu studieren. Herr Howe war warmherzig von Natur, aber ihm war nicht die Gabe verliehen, Menschen zu durchschauen und zu verstehen, und deshalb verstanden sie auch ihn nicht.

Die Zuhörerschaft bildete zwei Parteien, Dr. Prescott, die Seldens, Curtis', Sanborns und Topliffs waren von der Unschuld des Angeklagten fest überzeugt, andere stritten ebenso lebhaft dagegen. »Ich sage Ihnen, Doktor,« sagte Seine Hochwürden, Herr Hinsdale, »wer seine Schulden nicht bezahlen kann, ist in Versuchung, beinahe jedes Verbrechen zu begehen.«

»Pst, pst!« entgegnete der Arzt. »Eine Schraube ist sicher bei ihm los – das habe ich immer gesagt – denn er hat keinen Begriff von dem Wert des Geldes, aber ich gebe Ihnen trotzdem mein Wort, daß er so unschuldig ist, wie ein neugebornes Kind.«

Die Sitzung wurde durch den Staatsanwalt eröffnet. Herr Keene, ein Mann von strengem Gesichtsausdruck, sprach zu den Geschwornen mit so scharfem Ernst, daß Emmy meinte, er müßte einen persönlichen Groll gegen ihren Vater hegen. Als er in seiner Rede fortfuhr und auf alle die Beweise für die Schuld des Angeklagten hinwies, da wich alle Farbe aus ihren Wangen, das künstliche Lächeln verschwand und machte einem schmerzlichen Zucken Platz. Herrn Keenes Behauptungen lauteten vernichtender, als sie es sich hatte träumen lassen.

»O wie schrecklich, wie schrecklich! Hätte ich der Mama doch Baumwolle in die Ohren gestopft – dies kann sie nimmermehr ertragen!« dachte Emmy und ließ ihre Hand unter den Shawl der Mutter gleiten, um deren eiskalte, zitternde Hände sanft zu streicheln.

Die erste Zeugin war Frau Howe, die anmutigste alte Dame, die man in einem Gerichtssaal sehen konnte. Ihre seidenen Seitenlocken saßen in der schönsten Ordnung, ihr kostbarer Shawl war in regelrechten Falten über ihrer Brust zusammengesteckt, sie schien ein Bild des Friedens zu sein. Ihre Antworten waren so ruhig und klar, wie man sie von einer Frau mit so kühlem Verstande nicht anders erwarten konnte, denn eine Bewegung oder Rührung ließ sie nie in ihrem Innern aufkommen.

»Ihr Blut vollendet nur einmal wöchentlich seinen Kreislauf!« flüsterte Karl verächtlich Herrn Loring ins Ohr, als die alte Dame mit großer Seelenruhe jede Bekanntschaft mit dem Wechsel ablehnte und erklärte, mit ihrem Stiefsohn nie in Geschäftsverbindung gestanden zu haben. Glücklicherweise war ihr Gatte nicht anwesend; der arme, alte Herr saß unterdessen daheim am Kamin, betend und in der Bibel lesend.

Als fernerer Zeuge trat ein Kupferstecher auf, der die Unterschrift: Miranda Howe, mit einem Mikroskop untersucht und entdeckt hatte, daß sie zuerst mit Bleistift geschrieben und dann mit Tinte nachgezogen worden sei. Daraus ging hervor, daß der Fälscher mit besonderer Vorsicht und Überlegung zu Werke gegangen war.

Dann wurde Herr Holbrook, der Geschäftsteilhaber von Friedrich Howe, vernommen. Er war das gerade Gegenteil von dem Angeklagten und verriet in Aussehen und Benehmen sofort den gewiegten Geschäftsmann. Als er den Platz auf der Zeugenbank einnahm, hatte es den Anschein, als erfülle er äußerst ungern eine peinliche Pflicht. Emmy fühlte sich deshalb milder gegen ihn gestimmt, denn wenn er auch der Neffe ihrer Großmutter war, so schien er doch ein menschliches Empfinden zu haben.

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Nach den einleitenden Personalfragen fuhr der Staatsanwalt fort: »Wann sahen Sie diesen Wechsel zuerst?«

»Am letzten Tage des Juni, als er mir von Herrn Howe gezeigt wurde.«

»Sagte er Ihnen, woher er denselben habe?«

»Er gab an, daß seine Frau ihm denselben geschickt habe.«

»War es Ihnen nicht auffällig, wie seine Frau in den Besitz gekommen wäre?«

»Nein. Ich nahm nach früheren Äußerungen an, daß er seiner Frau als Anerkennung für die guten Dienste gegeben sei, welche sie und ihre Tochter der Unterzeichneten geleistet hätten.«

»Also noch einmal mein Vermögen!« dachte Emmy schaudernd. »Wie lange wird mich das verhaßte Gerede von dem angeblichen Erbe noch verfolgen?« –

»Was geschah ferner mit dem Wechsel?«

»Herr Howe legte ihn als eigenes Kapital für unsere Firma nieder; es war der erste Beitrag von seiner Seite.«

»Hegten Sie keinen Argwohn in betreff der Richtigkeit?«

»Damals noch nicht; erst nachdem Herr Howe hierher abgereist war, fand ich in seinem Pult Papiere, die mir verdächtig erschienen.«

»Sind dies die Papiere?« fragte der Staatsanwalt, indem er verschiedene Streifen Pergament auf den Tisch ausbreitete.

»Sie sind es,« erwiderte Herr Holbrook, nachdem er dieselben mit offenbarem Bedauern gemustert hatte.

»Und Sie fanden sie im Pult des Herrn Howe?«

»Ja; nachdem die Richtigkeit des Wechsels bezweifelt worden war, ließ ich das Pult erbrechen – ich glaubte mich dazu berechtigt.«

»Gewiß, mein Herr. Diese Papiere,« sagte Herr Keene und hielt sie zur Ansicht in die Höhe, »sind über und über mit Namenszügen in einer altmodischen, steifen Handschrift beschrieben, die genau so aussehen, als ob der Schreiber sich darin geübt hätte. Der Name ist: Miranda Howe!«

Ein leises Stimmengemurmel wurde in der Versammlung vernommen, und alle Blicke richteten sich auf den Angeklagten, der blaß und erregt dasaß, das Haupt in die Hand gestützt. Unter den Geschwornen schien nur eine Meinung zu herrschen. Der, welcher mit unendlicher Mühe alle diese Schriftzüge hingemalt hatte, um die Nachahmung bis zur Vollendung zu bringen, hatte dies sicher nicht in guter und redlicher Absicht gethan, aber freilich war es unbegreiflich, daß er die Beweise seiner Schuld nicht vernichtet hatte, statt sie sorglos in die Fächer seines Pultes zu stecken und dort zu vergessen.

»Ich will und kann es doch nicht glauben!« dachte Emmy, und ihr Blick suchte Karls Augen, um in ihnen eine Beruhigung zu suchen. Aber er sah nicht nach ihr hin, und als es geschah, ließ sich nichts darin lesen. Sie hoffte, die Beweise gegen ihren Vater wären nun wenigstens erschöpft, aber nein! kaum hatte Herr Holbrook – mit einer höflichen Verbeugung, welche für seine ungünstige Aussage um Entschuldigung zu bitten schien – die Zeugenbank verlassen, als ein junger Mann seinen Platz einnahm, dessen Aussagen noch viel schlimmer lauteten. Edward Rice war Schreiber im Kontor von Holbrook und Howe und berichtete, daß er am zehnten Juli dieses Jahres durch die Glasthür, welche in Howes Privatzimmer führte, den Angeklagten am Pult habe sitzen und schreiben sehen, und zwar, ganz gegen dessen sonstige Gewohnheit, sehr anhaltend und sorgfältig. Das sei ihm so aufgefallen, daß er stehen geblieben sei, um den Herrn eine Weile zu beobachten, und dabei wäre ihm klar geworden, daß jener einen Wechsel unterzeichne, welchen er darauf bis nahe an seine Augen gebracht und aufmerksam betrachtet habe.

»Konnten Sie die Unterschrift sehen?«

»Ganz deutlich.«

»War es sein eigner Name?«

»Nein.«

»Welcher denn?«

»Der Name: Miranda Howe.«

Wieder ging ein allgemeines Gemurmel durch die Versammlung. Das Zeugenverhör war zu Ende; Herr Loring richtete noch einige Kreuz- und Querfragen an die Zeugen, die bei ihren Aussagen verharrten. Der allgemeine Eindruck war ein für den Angeklagten durchaus ungünstiger.

Mit blutendem Herzen führte Emmy an diesem Abend ihre Mutter aus dem Gerichtsgebäude nach Hause. Es fehlte von seiten der Freunde nicht an freundlichen und teilnehmenden Grüßen, aber niemand hob ihren gesunkenen Mut durch hoffnungsvollen Zuspruch. Dr. Prescott, der am Morgen Emmy noch ermahnt hatte, die Standhaftigkeit eines echten Weibes zu beweisen, da bald alles sich aufklären werde, drückte ihr abends nur schweigend die Hand, ohne ein Wort zu sagen.

Daheim zog Emmy ihre einzige Vertraute, Frau Fogg, in die Speisekammer und schrieb mit zitternden Fingern die Worte auf: »Alle Furien scheinen auf uns losgelassen zu sein. Sagen Sie mir nicht, daß ich mich in Gottes Willen ergeben müsse, denn es kann nicht Gottes Wille sein, daß der Unschuldige leidet. Aber ach! ich sehe keinen Strahl, kein Fünkchen der Hoffnung mehr!«

Sie warf sich in leidenschaftlichem Schmerz an die Brust der Freundin.

»Aber, mein Liebling, wie kann man einem Schuldlosen ein Verbrechen nachweisen? Ich begreife das nicht!« schrieb Esther.

»Ich auch nicht,« war Emmys Antwort. »Es liegt irgendwo ein schrecklicher Irrtum vor. Dieser verruchte Herr Keene versteht das Weiße schwarz zu machen! Selbst ein Engel vom Himmel würde, nach diesen Zeugenaussagen, Papas Schuld zugeben müssen – und wenn ich nicht genau wüßte, daß es ganz, ganz unmöglich wäre, so müßte ich selbst daran glauben!«

»Das verhüte der Himmel!« schrieb Esther. »Sprechen Sie sich doch mit Karl aus, mein Herzenskind; er würde Ihnen doch nicht immer Mut eingesprochen haben, wenn die Sache so verzweifelt stünde.«

»O Frau Fogg,« schrieb Emmy, indem sie mit Mühe die heißen Thränen zurückdrängte, »ich weiß nicht mehr, was ich von Karl denken soll. Wußte er nicht, wie schlimm die Sache stände, oder wollte er es uns verheimlichen? Ich glaube das letztere, aber nie, nie kann ich ihm das vergeben, daß er mich und die arme Mutter wie zwei thörichte Kinder behandelt hat, die man mit Zuckerwerk füttert, um sie still zu machen! Ich verlangte die Wahrheit von ihm, und er hat mich mit falschen, erlogenen Hoffnungen abgespeist! Karl hat mich furchtbar getäuscht!«

»Wie hat Ihre Mutter den schweren Tag überstanden?« fragte Frau Fogg, um Emmys Gedanken eine andere Richtung zu geben.

»Sie ist halbtot, aber sie hält fest an Papas Unschuld. Was haben Sie zum Abendessen, Frau Fogg? besorgen Sie ihr schnell etwas Gutes, denn was auch kommen möge, und sollten wir morgen auch alle dem Beil des Henkers verfallen, so braucht die Mutter heute doch eine Stärkung, um ihre Kräfte aufrecht zu halten.«


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