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Drittes Kapitel.
Bescheidene Freunde.

Als Emmy am nächsten Morgen erwachte, tobte der Sturm noch ebenso heftig, und der Himmel sah noch ebenso grau und trübe aus wie gestern, doch konnte sie von ihrem Fenster aus eine weite Umschau halten. Nach Süden zu lag ein Kirchhof, der bis zum Einsinken durchnäßt erschien; Wasserlachen wechselten mit Stellen, die noch mit schmutzigem, schmelzendem Schnee bedeckt waren. »Welch ein Anblick!« seufzte Emmy, »diese Landschaft kommt mir vor wie eine alte, geflickte Decke, aus der die Watte herausguckt!« Aber sie konnte doch erkennen, daß Kapitän Howes Haus nicht so übel war und sich hinter einer stattlichen Baumgruppe recht anmutig versteckte. Ein Hof stieß daran, über den ein gepflasterter Weg nach einer Scheune und einem Stall führte; darin sah man eine rote Kuh von altem Schlage stehen, während davor einige kleine, gesprenkelte Hühner pickend und gackernd umherliefen – keine Bramaputra- oder Jersey-Hühner, denn der Großvater haßte alles neumodische Wesen. Auf der einen Seite war der Hof durch einen Sturzacker, auf der andern durch einen Garten begrenzt, mit Obstbäumen, Rasenstücken und steif geformten Beeten darin, auf denen gewiß einmal ganz altmodische Blumen blühen würden. Aber alles in allem war der Anblick nicht schlimm, und wenn nur erst die Sonne schien, konnte es vielleicht ganz hübsch werden.

Der Tag blieb so regnerisch wie er begonnen hatte; Lizzie Sanborn ließ sich nicht blicken, und die beiden Mädchen trafen sich weder in der Luft, noch auf der Erde. Glücklicherweise gab es im Hause allerlei zu sehen: da war ein Schrank mit indischen und chinesischen Merkwürdigkeiten, die der Kapitän von seinen Reisen mitgebracht hatte; altes Porzellan und schönes Silberzeug, denn jede von Herrn Howes Frauen war eine einzige Tochter gewesen und hatte die Familienschätze geerbt. Am ersten Tage erzählte der Großvater seiner Enkelin manche drollige Geschichte, aber dann machte ihm sein Rheumatismus zu schaffen, er wurde verdrießlich, und am zweiten Tage hörte das Erzählen auf. Abends schlief er bei seiner Zeitung ein, Großmama nickte über ihrem Strickzeuge, und Emmy, die des Schweigens bald müde wurde, schlüpfte in die Küche.

Karl und Esther saßen an einem Tische, eine brennende Lampe stand zwischen ihnen; sie war mit ihrem Häkelzeuge, er mit einem Buche eifrig beschäftigt, doch sahen beide auf und freuten sich offenbar ihres Kommens. »Die beiden Alten in der andern Stube sehen zu komisch aus,« sagte Emmy lachend, »sie halten ein Schläfchen im Sitzen und thun so, als ob sie wachten. Sehr ergötzlich ist es nicht für mich, sie abwechselnd mit den Köpfen wackeln zu sehen; deshalb komme ich her, um mit Esther zu plaudern. Wird es dich nicht beim Arbeiten stören, Karl?«

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»Nein, durchaus nicht, ich freue mich, daß du kommst, denn du siehst aus, als könnte man wohl ein Wort mit dir reden. Aber verzeihen Sie – ich sollte nicht so zu Ihnen sprechen, Sie sind schon beinahe erwachsen.«

»Nein, nein, ich bin noch ein halbes Kind, sage nur immerhin ›du‹ zu mir. Wir sind hier die einzigen jungen Leute unter lauter alten und wollen gute Kameradschaft halten. Was treibst du da?«

»Ich versuche zu rechnen, aber ich kann diese verwünschten Aufgaben nicht herausbringen und will mir nicht länger den Kopf damit zerbrechen.«

»Aber Karl, dein Lehrer muß wenig taugen, wenn er dir das nicht begreiflich macht.«

»Mein Lehrer! wo denkst du hin? Ich habe keinen, und das ist eben mein Kummer! Ich bin in meinem ganzen Leben nur zehn Wochen in die Schule gegangen! 16 Jahre alt – und ich weiß nicht mehr wie ein sechsjähriges Kind. Ich wollte, ich wäre tot!«

Dabei klappte er geräuschvoll seine Bücher zu und wandte sich ab, denn das Herz war ihm zum Zerspringen voll. Er schämte sich seiner Heftigkeit, aber Emmys zutrauliches Wesen hatte alles geheime Weh seines Innern entfesselt.

»Ich würde mich darüber nicht grämen,« sagte sie freundlich, »wie kann jemand erwarten, daß du etwas wissen sollst, wenn du nur zehn Wochen in die Schule gegangen bist?«

»Auf irgend eine Art werde ich schon vorwärts kommen; solch ein Strohkopf, wie du vielleicht denkst, bin ich doch nicht!« sagte er etwas barsch und fing an, eine muntere Weise zu pfeifen. Emmy sah ein, daß er nicht bedauert sein wollte und war verständig genug, davon abzubrechen.

»Ich bin doch neugierig, ob ich mich mit Esther unterhalten kann,« sagte sie, griff nach deren Schiefertafel und schrieb: »Sie haben gewiß zu thun, aber bitte, beantworten sie mir eine Frage: wie lange sind Sie taub? und wie können Sie immer so geduldig aussehen, Sie arme, liebe Seele?«

Esther schrieb: »Als ich fünf Jahre alt war, fiel ich von einer Leiter, da fing mein Unglück an. Mit sechs Jahren war ich eine Waise; ein Verwandter schickte mich nach Boston in die Taubstummenanstalt. Ich war noch sehr jung, als ich einen Leidensgefährten heiratete; aber er lebte nur ein Jahr und ließ mich als arme Witwe zurück. Ich bin dankbar, daß ich bei meiner Base, Ihrer Großmutter, ein Unterkommen gefunden habe und mir meinen Unterhalt erwerben kann.«

»Also eine Verwandte,« dachte Emmy unwillig, »und sie wird wie eine Magd behandelt! Ich fürchte, Großmama ist eine Aristokratin – und ich hasse alle aristokratische Überhebung! Warum mußten Sie so früh solch Unglück haben?« schrieb sie wieder.

»Vermutlich war die Heimsuchung mir notwendig.«

»Waren Sie denn solch ein nichtsnutziges Kind? Es kommt mir vor, als würden gute Menschen oft sehr hart gestraft, und wenn sie es gar nicht verdient haben, nennt man es Heimsuchung!«

Esther Fogg schüttelte mit ernstem Lächeln den Kopf, aber Emmy schrieb schon wieder: »Ich kann mir nicht denken, daß es Ihnen bei der Großmutter gefällt, aber das ist auch wohl eine Heimsuchung für Sie?«

»Sie ist in ihrer Art eine gute Frau,« erwiderte Esther.

»Das sagt man immer von unliebenswürdigen Menschen, Frau Fogg. Aber Sie müßten überhaupt nicht dienen, Sie sind zu gebildet dazu.«

»Nein, das bin ich nicht; ich verließ die Anstalt zu früh und habe nicht viel mehr gelernt, als Lesen und Schreiben; mir blieb allein die Hausarbeit übrig. Sagen Sie nichts mehr dagegen, kleine Emmy, denn ich möchte mit meinem Lose gern zufrieden sein.« Dabei sah Esther so geduldig und ergeben aus, daß dem jungen Mädchen die Thränen in die Augen traten.

»Könnte ich Ihnen doch etwas Liebes erweisen!« schrieb sie, »aber ich weiß nicht, was.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen; wollen Sie mir aber wirklich wohlthun, so sprechen Sie nicht mehr von mir und meinem Leid. Wie gefällt es Ihnen in Quinnebasset, und wie ist es Ihnen bisher ergangen?«

»Hoffentlich wird es mir hier erträglich erscheinen, wenn nur erst der Regen aufhörte. Doch sehne ich mich sehr nach meiner Mutter und den Geschwistern. Ich hoffte, die Großmama würde mich lieb gewinnen, aber sie scheint gar keine Lust dazu zu haben; sie ist aus viel zu hartem Holze gemacht. Hätte ich doch das Genick gebrochen, als ich so heftig gegen die Decke des Postwagens flog! Was soll ich hier, wo mich niemand braucht und niemand gern sieht?!«

»Aber Kind, welche Gedanken? Wissen Sie nicht, wer unser Schicksal lenkt? So gewiß Sie leben, so sicher ist es auch, daß der Herr Sie nach Quinnebasset führte, und daß es hier für Sie Arbeit giebt, die niemand sonst ausrichten kann.«

»Wenn das wäre, möchte ich gleich damit anfangen. Vielleicht ist es meine Aufgabe, Ihnen Gesellschaft zu leisten, Frau Fogg!«

»Vielleicht, Sie gesegnetes, kleines Herzblatt! Jedenfalls hat schon der Anblick Ihrer heiteren Jugendfrische mir vom ersten Augenblick an wohlgethan.«

»Mein bloßer Anblick!« dachte Emmy verwundert. »Ich bin doch nicht hübsch und fühle mich jetzt gar nicht heiter und glücklich.«

»Geh noch nicht fort!« sagte Karl, als sie Miene machte, aufzustehen, »ich knacke dir noch einige Wallnüsse auf.«

Sie blieb gern sitzen, stützte ihre kleinen Füße auf den Ofenrand und fing an, den Inhalt der Nüsse auszulösen. »Wie wird es mir hier gefallen, Karl?« fragte sie nachdenklich.

»In mancher Hinsicht gut, in anderer auch wieder nicht.«

»Was gefällt dir hier?«

»Ich liebe deinen Großvater; er ist, ausgenommen den Pfarrer Hinsdale, mein bester Freund. Weniger liebe ich dessen Frau, die uns Knaben in der Sonntagsschule sehr strenge hält.«

»Dann freue ich mich, daß ich nicht in ihre Klasse kommen kann,« lachte Emmy, »ich liebe strenge Behandlung gar nicht. Wie gefällt dir die Großmutter? Aber nein, beantworte diese Frage lieber nicht, sie könnte mein Ansehen schädigen.«

»Bist du so besorgt um dein Ansehen, Emmy?«

»O Himmel, was würde mir alle Sorge darum helfen? Ich bin so klein und unbedeutend, daß niemand mich mit besonderer Achtung betrachtet, und dies widerspenstige Haar ist auch noch ein Hindernis dabei.«

»Gott sei Dank!« sagte Karl vergnügt. »Es giebt hier schon genug Mädchen, die ihre Nase übermäßig hoch tragen.«

»Wer zum Beispiel? Sage nur nicht, Lizzie Sanborn, denn das mag ich nicht hören.«

»O, Lizzie ist nicht halb so stolz wie Dora Topliff. Wenn die wüßte, daß du dich mit einem Knaben unterhältst, der sein eignes Brot verdient, so machte sie dir sicher keinen Besuch.«

»So mag sie es bleiben lassen!« erklärte Emmy mit großer Geringschätzung. »Aber ich würde dir gern beim Rechnen helfen; ich bin von kleinauf in die Schule gegangen und verstehe mich ganz gut darauf.«

»Vielen Dank, aber du wirst der Sache wohl bald müde werden,« versetzte Karl mißtrauisch. »Ich habe mich seit meiner Kindheit sehr herumstoßen lassen müssen,« fuhr er mit einiger Überwindung fort, »aber ich möchte das Lernen doch nicht aufgeben. Vielleicht habe ich ebensoviel Verstand, wie andere Knaben und könnte es einigen sogar zuvorthun. Mein Vater war ein sehr gebildeter Mann, und ich möchte nicht verbauern.«

»Ist dein Vater tot?«

»Freilich, sonst wäre ich nicht hier. Er starb, ehe ich denken konnte, und meine Mutter war eine zarte Frau, nicht viel größer als du; sie mußte sich sehr anstrengen, um sich und mich durchzubringen und folgte meinem Vater bald. Du siehst, ich hatte auch einmal eine Heimat und hätte wie anständiger Leute Kind erzogen werden können, wenn alles anders gekommen wäre. Jetzt wirst du mich nicht mehr für einen Schwachkopf ansehen, weil ich vorhin so verzweifelt war.«

Damit fing Karl wieder zu pfeifen an, um seine Bewegung zu verbergen.

»Emmy, komm her!« rief die Großmutter im Wohnzimmer.

»Gleich, Großmama! Karl, du hast furchtbar Schweres erfahren, ich beklage dich fast ebenso sehr wie Esther. Aber verliere nur nicht den Mut, morgen werde ich dir bei deinen Arbeiten helfen.« Und ohne ein Wort des Dankes abzuwarten, huschte sie hinaus.

»Ich wundere mich wirklich über dich, Kind,« sagte Frau Howe sehr mißvergnügt; »du solltest doch wissen, daß die Küche kein passender Platz für dich ist!«

Emmy ließ den Kopf sinken, aber nicht aus Beschämung, sondern um ihre Gedanken nicht zu verraten. »Ich werde meiner Mutter schreiben, was ich gethan habe,« dachte sie entrüstet, »und sie wird mir sagen, ich solle es wieder thun. Mama hat eine große, freie Seele – und ich hasse diese engherzige Vornehmthuerei!«

* * *


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