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Zehntes Kapitel.
Die Krankenpflegerin.

»Großmama sieht in ihrem Bett und ihrer Nachtmütze einer verwitterten alten Wachspuppe täuschend ähnlich. Doch durfte ich den Arzt nicht eher hereinlassen, bis sie sich ihre seidenen Locken angesteckt hatte – daraus schließe ich, daß ihre Krankheit nicht besorglich ist,« schrieb Emmy in der Küche auf Esthers Tafel.

Frau Fogg hielt im Fegen inne, um die Bemerkung zu lesen; sie erwiderte nichts, machte aber ein ernstes Gesicht dazu.

»Was mag ihr denn eigentlich fehlen?« fuhr Emmy fort, »vielleicht eine ähnliche Krankheit wie die, welche Jonathan Page beschrieb – »eine von nervöser Schwäche herrührende allmähliche Geisteszerrüttung, verbunden mit stetem Hustenreiz?«

Sogar jetzt lächelte Esther nicht. »Ich fürchte, es ist Gelenkrheumatismus,« schrieb sie.

Emmy sah sehr bestürzt aus. »Aber das kann endlos lange dauern!« erwiderte sie. »Soll ich etwa die ganze Zeit die Schule versäumen, während Großmama doch nur über meine Flatterhaftigkeit schilt und ich ihr nichts zu Dank machen kann? Nichts da, ich werde meine Schwingen entfalten und fortfliegen; mag sie mich fangen, wenn sie es kann.«

Jetzt lächelte Esther, denn sie hatte im Lauf eines Jahres dies stürmische junge Mädchen genugsam kennen gelernt, um zu wissen, daß weder ihr Herz, noch ihr Pflichtgefühl im Fall der Not den Dienst versagen würde.

Unterdessen unterhandelte Dr. Prescott mit der Kranken, die er vergeblich zur Annahme einer Wärterin zu überreden suchte. Sie blieb eigensinnig dabei, daß eine solche gar nichts zu thun haben würde; Emmy sei gutwillig und zuverlässig, sie werde ihr pünktlich ihre Arznei eingeben, und um mehr handele es sich ja gar nicht.

»Gut!« sagte der Doktor sehr ärgerlich, »ich habe Ihnen meine Meinung gesagt und wasche meine Hände in Unschuld; wollen Sie sich der Pflege eines Kindes anvertrauen, so geschieht es auf Ihre Gefahr!«

»Hören Sie, mein kleines Fräulein,« redete er darauf Emmy, die im Wohnzimmer auf ihn wartete, ziemlich barsch an, »wenn Sie Ihre Großmutter wirklich pflegen wollen, so müssen Sie Ihre Gedanken ordentlich zusammennehmen und alle Allotria fahren lassen. Es handelt sich hier nicht um ein Kinderspiel, sondern um bittern Ernst.«

Emmys Wangen färbten sich mit einem jähen Rot; womit hatte sie diese geringschätzigen Worte verdient? Dennoch sagte sie gelassen: »Bitte, geben Sie mir Ihre Anweisungen, ich werde sie pünktlich befolgen.«

»Zuerst muß der ganze Körper der Kranken bis zu den Zehenspitzen in Watte gewickelt werden, jeder Finger bedarf noch eines besonderen Verbandes. Dann – – aber geben Sie mir Feder und Papier, denn wenn ich nicht alles aufschreibe, geht es doch nur in ein Ohr hinein und aus dem andern heraus.«

Schweigend brachte Emmy das Gewünschte, und nachdem der Arzt einiges aufgeschrieben, schärfte er ihr mit nachdrücklichen Worten die Notwendigkeit der strengsten Pünktlichkeit ein. Ihre ernsten Augen und die verständigen Fragen, die sie that, hätten ihn fast bewogen, das Vorurteil, das er gegen junge Mädchen im allgemeinen hegte, zu Emmys Gunsten fahren zu lassen; aber kaum hatte er ihr den Rücken gekehrt, als er wieder anderer Ansicht wurde. »Friedrich Howes kleine Tochter«, sagte er zu sich selbst – »sollte da nicht doch irgendwo eine Schraube los sein? Sie giebt sich ja ein ganz vernünftiges Ansehen, aber am Ende ist's doch nur Schein, und sie ist ebenso flüchtig und gedankenlos, wie diese jungen Dinger alle sind!«

O, Dr. Prescott! so klug und weise Sie sich auch dünkten – diesmal waren Sie doch entschieden auf dem Holzwege!

Emmy hatte in der folgenden Zeit eine schwere Prüfung zu überstehen. Mit Frau Howes Befinden ging es von Tag zu Tag schlechter; oft konnte sie nicht einmal das Knarren von Esthers Fußtritten ertragen, und ihre leichtfüßige Großtochter mußte ihr deshalb immer zur Hand sein. Welch ein Segen war es für diese, daß sie einen angebornen Sinn für Sauberkeit und Ordnung besaß! Die Kranke merkte mit geschlossenen Augen das kleinste Staubkörnchen, das in der fernsten Fensterecke lag; sie ahnte bei verschlossenen Thüren, wenn das Töpfchen mit Hafergrütze nicht an der richtigen Stelle auf dem Herde stand. Schmerzen ertrug sie mit spartanischer Gelassenheit, aber nicht die geringste Unordnung; standen die Arzneiflaschen nicht in Reih und Glied auf dem Tische, so verfehlten sie nach ihrer Meinung sicherlich ihre Wirkung.

Emmy beteuerte oft, sie würde nächstens davonlaufen, aber trotz solcher aufrührerischen Reden beharrte sie treulich auf ihrem Posten. Die Nacht brachte sie auf dem Sofa im Wohnzimmer zu, denn obgleich Esther das eigentliche Wachen übernommen hatte, so sah diese sich doch oft genötigt, das junge Mädchen zu wecken, weil ihre Herrin sich nicht mit ihr verständigen konnte. Dann saß das arme, schlaftrunkene Ding manchmal wohl ein Stündchen am Bett der Kranken, bürstete ihr die Haare, oder las ihr ein Kapitel aus dem Buche Hiob vor, um deren innere Unruhe zu stillen. Nur in der Dämmerung schlich Emmy mitunter hinaus, um Briefe auf die Post zu tragen und abzuholen – das war ihre einzige Erholung. Die ganze Welt von Quinnebasset nahm lebhaften Anteil an der schweren Last, die auf ihren jungen Schultern lag, und Lizzie kam oft, um sie für einige kurze Augenblicke zu zerstreuen. Miß O'Neil schickte ihr zum Trost ein Zuckerlämmchen, das sie sicher schon manches Jahr ihr eigen nannte, aber für sehr passend hielt, um das arme Kind in dieser Trübsal aufzurichten.

»Ich werde doch einmal Großpapa fragen, ob in seinem Glaubensbekenntnis das Lachen verboten ist,« sagte Emmy eines Tages zu Delicia, während sie sich in der Küche zu schaffen machte. »Großmama hält es jedesmal für eine tödliche Beleidigung, wenn ich lache, und ich kann doch nicht anders, denn sie sieht in ihrer Umhüllung von Waldwolle gerade so aus, wie eine lebendige Mumie. Und dazu die seidenen Locken! ich möchte ihr manchmal einen Spiegel vorhalten, vielleicht würde ihr eigener Anblick ihr ein Lächeln abnötigen!«

»Ich freue mich, daß du Ärmste noch Lust zum Lachen hast,« meinte Lizzie. »Mir wäre bei solchem Elend das Scherzen schon längst vergangen.«

»Was würde es mir denn helfen, wenn ich jeden Tag zwei Taschentücher voll weinen wollte?« fragte Emmy achselzuckend. »Womöglich setzte sich Esther hin und weinte mit. Aber da klingelt die Großmutter – ade, Liebling, ade! komm bald wieder!« Und indem sie noch einen Kuß erhaschte, flog sie hinaus.

»Emmy, Emmy, wo hast du nur wieder gesteckt?« empfing Frau Howe sie mit unzufriedenem Ton.

»Ich habe deinen Fleischsaft gekocht, Großmama.«

»Hast du auch alles gethan, wie sich's gehört? das Fleisch recht fein geschnitten, die richtige Flasche mit dem weiten Halse genommen und fest zugekorkt?«

»Ja, Großmama.«

»Mit wem schwatztest du draußen schon wieder?«

»Mit Lizzie.«

»Natürlich, die steckt ja immer hier! Aber sagt es ihr nicht der gesunde Menschenverstand, daß sie nicht herkommen darf, wenn Krankheit im Hause ist, weil sie dich in deinen Pflichten hindert?«

Emmy hatte es in der Selbstbeherrschung schon weit gebracht; sie ergriff krampfhaft den Bettpfosten und zählte bis zehn, ehe sie antwortete. »Lizzie brachte eine Monatsrose für dich, Großmama; sieh nur, wie schön sie ist!«

»Setze sie in eine Vase,« sagte die Kranke in etwas milderem Ton. »Und dann bleibe hier und unterhalte mich; dein Großvater würde mich gewiß nicht immer allein lassen, wenn er zu Hause wäre.«

»Wovon soll ich reden? Kennst du die Geschichte der roten Rose? Zuerst waren ihre Blätter leuchtend weiß wie der Schnee; als aber der Liebesgott sie mit Nektar besprengte, da erglühten sie in leuchtendem Purpur.«

»Das ist ja der reine Unsinn, Kind; davon glaube ich kein Wort. Kannst du mir nichts Verständigeres erzählen? Wieviel Geld hast du noch?«

»Zwei oder drei Dollars.«

»Dann hat dir dein Vater neuerdings keins geschickt?«

»Nein, Großmama.«

»Emmy,« sagte die Mumie klüglich, indem sie mit ihren dickbewickelten Fingern das Bett glatt strich, »er wird doch nicht etwa denken, daß wir jetzt ganz für dich sorgen sollen? Wenn wir dir Wohnung und Kost geben, dächte ich, wäre das hinreichend.«

Emmy wurde blutrot; sie hatte das Gefühl, als hätte sie nach der Meinung der sparsamen Hausfrau stets mehr gegessen, als ihr zukam.

»Niemand mißgönnt dir dein Essen, Kind, besonders wenn du dich diensteifrig und hilfreich gegen mich zeigst; aber für das übrige muß doch dein Vater sorgen. Jetzt laufe hin und hole mir den Fleischsaft.«

Es war hohe Zeit, denn stolze, heiße Thränen stiegen in Emmys Augen auf. Ach, das harte Brot der Abhängigkeit! Sie hatte einmal gegen Karl geäußert, sie fände keinen großen Unterschied zwischen Armut und Reichtum, aber das war, ehe ihr der Wert des Geldes an seinem Mangel fühlbar geworden war, ehe sie Miß Lightbody das Schulgeld schuldete, ohne es bezahlen zu können. »Warum macht Großmama es mir so unmöglich, sie ein bißchen lieb zu haben?« sagte Emmy und führte in der Speisekammer einen wahren Kriegstanz auf, um ihren erregten Gefühlen einen Ausweg zu verschaffen. »Sie glauben nicht, wie sie mich quält und kränkt,« schrieb sie auf Esthers Tafel.

»Ich glaube es,« war die Antwort, »denn ich kenne sie und ihre ganze Familie; sie sind alle wie gefangen in ihren engherzigen Anschauungen. Aber jetzt müssen wir doppelte Nachsicht mit ihr haben, denn sie ist sehr krank.«

»Sie haben recht, Sie liebe, gute Seele!« sagte Emmy ganz besänftigt und drückte liebevoll die Hand der Taubstummen. »Krank und gefangen – ein bitteres Geschick! Ich will für sie thun, was ich kann – aber o! was für Luftsprünge will ich machen, wenn ich endlich meine Freiheit wieder erlange!«

In der folgenden Nacht war die Mumie unruhiger als je zuvor; um zwei Uhr mußte ihre kleine Sklavin beide Brenner an der Arbeitslampe anzünden, dann den Geld- und den Juwelenkasten holen und der Großmutter die Brille auf die Nase setzen. Emmy quälte sich, wach zu bleiben, während sie auf Geheiß der Kranken Banknoten ordnen, Wertpapiere durchsehen und Rechnungen vorlesen mußte. »Wenn Großmama einmal stirbt,« sagte sie bei sich selbst, »so wird man ihr Herz sicher in ihrem Geldkästchen finden.«

»Da, Kind, lege die Papiere in jene Ecke zurück, die Rechnungen in die andere; nun gieb mir das Goldstück in die Hand – sind es fünf Dollars?«

»Ja. Nichts sonst, Großmama?«

»Schließe nur erst die Kästchen fort, ziehe den Schlüssel ab und lege ihn unter mein Kopfkissen.« Emmy that, wie ihr geheißen war, und stand etwas ungeduldig am Bett, während Frau Howe ganz still dalag.

»Vermutlich rechnet sie ihre Zinsen zusammen,« dachte Emmy. »Früher dachte ich immer, Großmama betete, aber ich glaube, das war eine fromme Täuschung. Doch Geduld! sie ist krank und gefangen, und das ist schwer zu tragen.«

»Emmy, komm her,« sagte jetzt die Kranke und sah ihre Enkelin mit seltsam funkelnden Blicken an. »Ich bin jetzt neun Tage krank, und vermutlich ist dir die Zeit lang geworden. Hast du dich nach der Schule gesehnt? sag's ehrlich!«

.

Der ungewohnt gütige Ton rührte Emmys liebevolles Herz. »Liebe Großmama, was kümmerte mich die Schule, wenn ich dir nur helfen könnte!« sagte sie herzlich und küßte die fieberheißen Wangen.

»Emmy, der Doktor nennt dich eine vorzügliche kleine Pflegerin, und ich gebe zu, daß du dich besser benimmst, als ich erwartet hatte,« sagte Frau Howe langsam, als ob die Worte ihr schwer fielen. »Ich würde mich schämen, dir gegenüber knauserig zu erscheinen; daher will ich dir ein großes Geschenk machen.« Dabei legte sie das Goldstück in Emmys Hand.

»O Großmama, welche Überraschung! vielen, vielen Dank dafür!«

»Aber nimm dich in acht, denn wenn du dich nicht brav und tapfer hältst, so nehme ich es dir wieder weg. Versprich mir auch, es nicht leichtsinnig oder für dumme Spielereien auszugeben,« fuhr die Kranke fort, und ihre stahlblauen Augen hafteten unverwandt auf dem Goldstück.

»Gewiß nicht, Großmama, ich werde mein Schulgeld davon bezahlen.«

»Noch eins, Emmy. Ich wünsche, daß du Dr. Prescott davon erzählst, damit er erfährt, wie gut ich dich halte.«

»Das will ich thun,« erwiderte Emmy, aber heimlich schmerzte es sie, daß selbst die guten Thaten der alten Frau einen unangenehmen Beigeschmack hatten.


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