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Frau Karoline lag auf dem Sofa, ein Bild des Leidens; sie sah so bleich und schmal aus, als zehre der Kummer an dem Mark ihres Lebens. »Heute ist es einen Monat her, seit sich die Thore des Gefängnisses hinter deinem Vater schlossen – und wir leben noch! Emmy, Emmy, warum darf ich nicht sterben?!«
»O Mutter,« rief das junge Mädchen, »du thust mir grenzenlos wehe mit solchen Worten! Wie kannst du dir den Tod wünschen, während der arme Papa deine Liebe jetzt nötiger hat, als je zuvor?« Sie kniete neben dem Sofa nieder, verbarg ihr Gesicht und brach in einen Strom heißer Thränen aus.
»Armes Kind!« seufzte Frau Karoline und strich sanft über ihr lockiges Haar. »Karl,« sagte sie darauf in trübem Ton zu dem eben Eintretenden, »ich fürchte, Friedrichs Sache steht ganz hoffnungslos, denn selbst meine tapfere Emmy kann nur noch weinen!«
Aber Karl hatte immer Worte des Trostes und der Hoffnung. Je erregter Frau Howe sich zeigte, um so ruhiger wurde er; er erzählte den trauernden Frauen von ähnlichen Fällen, wo alle Anzeichen gegen den Angeklagten gesprochen hätten und seine Unschuld zuletzt doch an den Tag gekommen wäre. Ohne Karls kräftigen Zuspruch wäre Emmy der Angst und Sorge dieser Zeit erlegen, aber auf ihn konnte sie sich mit vollem Vertrauen stützen; denn einmal wußte sie, daß er unermüdlich thätig sei, Herrn Loring, den Anwalt ihres Vaters, in seinen Nachforschungen Beistand zu leisten, und andrerseits erfuhr sie von ihm ganz genau, wie die Sachen standen, was ihrer offnen, ehrlichen Natur ein dringendes Bedürfnis war. Leider hatte die Angelegenheit bis jetzt kein gutes Ansehen; Herr Holbrook, der erste Teilhaber der Firma, war krank und konnte nicht selbst erscheinen, aber seine schriftliche Aussage diente nicht dazu, den Angeklagten zu entlasten. Am meisten aber sprach gegen diesen die unklare Art, mit der er selbst Auskunft gab; er konnte sich der einzelnen Umstände, unter denen er den Wechsel empfangen hatte, durchaus nicht entsinnen, und diese Gedächtnisschwäche sah entschieden verdächtig aus.
»O Karl,« seufzte Emmy, »dies alles ist so schrecklich! Wenn ich nicht so sicher wüßte, daß Papa die Redlichkeit in Person ist, so würde ich selbst an seiner Unschuld irre werden – wie viel mehr Fremde, die ihn nicht so gut kennen. Du wirst es sehen – schließlich wird ihn selbst sein Anwalt im Stiche lassen!«
»Nein, nein,« erwiderte Karl, trotz ihres Kummers lachend, »das ist ganz unmöglich. Der Anwalt ist verpflichtet, den Angeklagten zu verteidigen, ganz gleich, ob er schuldig oder unschuldig ist.«
»Wirklich? Das klingt eigentlich gewissenlos, aber ich bin schon so weit, daß ich jedem dankbar bin, der für ihn eintritt, gleichviel aus welchem Grunde.« Sie dachte dabei an den Richter Davenport, der, trotz seiner alten Freundschaft, doch gegen den Angeklagten Partei nahm und es sogar dem jungen Preston verdachte, daß er eine andere Ansicht hatte. Lena hatte, in einem ihrer Anfälle von Zerstreutheit, dies gegen Emmy angedeutet und dabei die Hoffnung ausgesprochen, daß Karl seine Stelle in Boston deshalb nicht einbüßen würde.
»Wann mußt du abreisen, Karl?« fragte Emmy unruhig, sobald sie ihn wiedersah.
»Ei, willst du mich durchaus los sein?«
»Wenn die Pflicht es fordert, ja! Du darfst nicht hierbleiben und meinem armen Vater deine ganze Zukunft opfern – das werde ich auf keinen Fall zulassen!«
»Aber wenn ich ihm nun versprochen hätte, bis nach der Verhandlung in seiner Nähe zu bleiben?«
»O Karl, hast du das wirklich gethan?« rief sie und schlug in überströmendem Entzücken die Hände zusammen. »Sieh, ich bin ja so unaussprechlich dankbar, daß du hierbleibst und möchte doch, um alles in der Welt, nicht deinem Fortkommen hinderlich sein.«
»Sei ohne Sorge, Emmy; Herr Heywood will bis zum Januar auf mich warten.«
»Gott sei Dank!« sagte Emmy aus tiefster Seele; sie fühlte sich nach beiden Richtungen hin unendlich beruhigt.
Eines Abends begleitete Karl das junge Mädchen ins Gefängnis; sie trug ein sorgfältig zugedecktes Körbchen mit heißen Rostschnitten, die niemand so gut zu bereiten verstand, wie Esther Fogg, und mit denen sie ihren Vater erquicken wollte. Sie fanden Friedrich Howe so vertieft in das Lesen der neuesten Browningschen Dichtung, daß er offenbar seine Umgebung vollständig vergessen hatte; der hölzerne Stuhl, die eisernen Thüren mit den schweren Schlössern, die dürftigen, kahlen Wände – alles war für ihn versunken, selbst die Rostschnittchen konnten ihn nicht locken, ehe er nicht seine Begeisterung über das großartige Gedicht ausgesprochen hatte. Dann ließ er plötzlich das Buch sinken, und der Ernst seiner Lage kam ihm zum vollen Bewußtsein.
»Gott segne meinen Liebling, der täglich wie ein guter Engel zu mir kommt, um mich in meiner Trübsal zu trösten«! sagte er weich und zog seine Tochter zärtlich in seine Arme.
»Lieber Papa,« erwiderte Emmy, indem sie ihre Thränen herunterschluckte, »sei so gut und iß deine Schnitten, so lange sie heiß sind. Morgen bringe ich dir ein paar russische Pastetchen – und Buckles ›Geschichte der Zivilisation‹ als Beilage.«
»Ja, Liebling, vergiß auch nicht, Drapers ›Religion und Wissenschaft‹ mitzubringen,« versetzte der unersättliche Leser. »Wie erträgt deine Mutter das Leid dieser Tage? wie geht es den Knaben? O mein geliebtes Weib, meine guten Kinder!« seufzte er, indem er in seiner Zelle unruhig auf und nieder schritt, »um euretwillen möchte ich Erde und Meer durchschweifen, um dem Schreckbilde zu entfliehen, das mich bedroht – aber ach! wie kann ich fort, da ich mit gestutzten Schwingen im Käfig sitze und ohnmächtig an seinen Stäben rüttele!«
»Du liebster Papa,« entgegnete Emmy gerührt, »wir wissen, daß du unschuldig bist, und wir rechnen fest darauf, daß es sich vor Gericht also erweisen wird.«
»Ja, meine Tochter, ich habe alles Vertrauen zu den Gesetzen meines Vaterlandes und meinen tüchtigen Anwälten. Es wird gewiß einmal ein Tag kommen, der mich freispricht, aber wann? Zu der Zeit, wann es Gott gefällt. Und vor ihm sind tausend Jahre wie ein Tag,« setzte er leise hinzu.
Emmy bat ihn nochmals, seine Schnittchen nicht zu vergessen, und während er aß, erzählte sie ihm allerlei, um ihn zu zerstreuen und zu erheitern. Er hörte ihr mit freundlichem Lächeln zu und erkundigte sich so teilnehmend nach dem Befinden seiner Stiefmutter, als ob sie zu seinen besten Freunden gehörte.
Die Stunde des Besuchs war vorüber, und die beiden jungen Leute gingen am Ufer des Flusses zurück. Emmy vermied jetzt die Wege, wo sie Menschen treffen konnten, und suchte die tiefste Zurückgezogenheit. Der Herbstwind fegte die gelben Blätter in der Luft umher, dunkle Regenwolken hingen am Himmel, und die untergehende Sonne warf ihre Strahlen darauf, so daß sie in seltsamen Formen und Schattierungen erglühten. Aber das junge Mädchen hatte die Augen niedergeschlagen und achtete nicht darauf.
»Sieh, Emmy, welche Farbenpracht die hinsterbende Natur entfaltet,« sagte Karl, um seine Begleiterin aus ihrem trüben Grübeln aufzuwecken und auf andere Gedanken zu bringen.
»Ich hasse diese bunten Farben, Karl, sie beleidigen meine Augen,« erwiderte sie heftig. »Früher liebte ich sie – aber das ist lange her – als Papa noch ein freier Mann war, auf dem kein Verdacht lastete. Ich wollte, es gäbe einen wilden, heulenden Sturm, so daß man an nichts anderes denken könnte.«
Sie sah von weitem den Richter Davenport kommen, der früher ihres Vaters guter Freund gewesen war, jetzt aber seine Gesinnung gegen ihn ganz geändert hatte; sie wünschte nicht, ihm zu begegnen, bog vom Wege ab und setzte sich auf einen Baumstumpf. »Ich kann mich nicht mehr vor andern Menschen sehen lassen,« schluchzte sie, bitterlich weinend. »Führe mich verborgene Pfade, wo wir niemand treffen.«
»Aber Emmy,« sagte Karl mit überlegner Ruhe, indem er sich neben sie setzte, »was soll dies heißen? Hast du irgend etwas gethan, dessen du dich schämen müßtest?«
»Nein, aber fällt nicht meines Vaters Not und Schmach auf mich zurück?«
»Hältst du ihn denn für schuldig?«
»Gewiß nicht, aber andere thun es, und ich kann ihre mitleidigen Mienen nicht vertragen. O wenn ich es nur noch einmal erlebte, daß die Leute mich mit dem alten, harmlosen Nicken begrüßten, statt mit diesen teilnehmenden Blicken und gedämpften Stimmen, als wenn sie zu den Leidtragenden bei einem Begräbnis sprächen! Da ist es mir noch lieber, wenn Miß O'Neil in ihrer rücksichtslosen Art gerade herauspoltert, sie hätte immer erwartet, daß es mit Friedrich Howe einmal ein schlechtes Ende nehmen würde, und sie hätte recht gehabt.«
»Du mußt nicht so sprechen, Emmy, als ob jedermann gegen deinen Vater wäre. Du mußt Geduld haben, den Kopf aufrecht halten und den Menschen zeigen, daß du volles Vertrauen in ihn setzest. Wozu sind denn Gesetz und Recht da? Denkst du, wir würden dieser Angelegenheit nicht bis auf den Grund gehen? Hast du so wenig Vertrauen zu unserer Klugheit und unserem Geschick, daß du meinst, wir könnten die Wahrheit nicht an das Licht bringen?«
»Lieber Karl, es thut mir wohl, wenn du so sprichst. Ich sagte noch heute zur Mutter, daß, was auch kommen möge, ich selbst im Finstern nur die Hand auszustrecken brauchte, um dich zu finden, denn du stündest immer auf dem rechten Fleck.«
»Ist dir das ein kleiner Trost, Emmy?«
»Wie kannst du fragen? Du weißt ja, wie wenig Freunde wir haben, die so mit ganzem Herzen zu uns halten wie du; die meisten sind nur lau und halb.«
Sie setzten ihren Weg fort, und Emmy bemühte sich, Karls Ermahnung zu folgen und den Leuten, denen sie begegneten, offen und unbefangen ins Gesicht zu sehen. Zu Hause warteten zwei Pflichten auf sie, die eine war, ihrer Mutter über ihren Besuch im Gefängnisse zu berichten und ihr alles im besten Lichte darzustellen; die andere, Esther mitzuteilen, was sich den Tag über ereignet hatte. Sie schrieb:
»O Frau Fogg, wie glücklich war ich noch vor vier Wochen! Ich ließ es mir nicht träumen, was für ein Segen es sei, wenn man vor niemand die Augen niederzuschlagen braucht. Wie liebte ich die Menschen! ich hätte sie alle an mein Herz ziehen mögen, – selbst gegen Großmama hegte ich ganz freundliche Gesinnungen – und nun? – Ich weiß wohl, was Sie sagen wollen: Liebet eure Feinde! Ach, es ist sehr schwer, das zu thun, das menschliche Herz sträubt sich dagegen, und ohne Hilfe von oben geht es überhaupt nicht – ich habe es noch lange nicht so weit gebracht! Vielmehr ist es mir eine wahre Genugthuung, wenn Karl seinen Groll gegen die Großmutter ausspricht; es liegt eine zerschmetternde Gewalt in seinem verhaltenen Zorn, obgleich er niemals tobt wie ich.
Ich muß ihn jetzt oft ansehen; die andern Mädchen rühmen immer sein gutes Aussehen, danach frage ich nicht – aber ich sehe in jedem Zuge die Festigkeit und Zuverlässigkeit eines starken, edlen Charakters ausgeprägt, und das giebt mir immer Mut und Hoffnung zurück, wenn sie erlöschen wollen. Da fallen meine Thränen schon wieder – und ich war doch sonst nicht so kindisch, alles zu beweinen. Ach! wenn alle Freude aus unserem Leben geschwunden ist, dann rächen wir uns an unsern Mitmenschen dadurch, daß wir sie mit uns leiden lassen, aber ich sollte Ihr liebes Herz nicht mit all meinem Jammer belasten.«
Esther. »Die Freude ist nicht für immer aus Ihrem Leben geschwunden, mein armes, geliebtes Kind; sie verbirgt sich nur für eine Weile, um dann desto strahlender zurückzukehren. Ihr Gemüt hat die gute Art, immer wieder in die Höhe zu schnellen, wenn es eine Zeit lang durch eine schwere Last niedergedrückt wurde.«
Emmy. »O wenn die Last abgewälzt, wenn mein Vater frei wäre! Eher kann ich nicht aufatmen!«
Esther. »Ja, mein Liebling, Gott wird es geben! Aber das Gesetz hat einen langsamen Gang, daher fassen Sie Ihre Seele in Geduld! Werden Sie auch nicht müde, mich an Ihren Leiden teilnehmen zu lassen; mag der Kelch süß oder bitter sein, ich will ihn mit Ihnen trinken, denn ich liebe Sie. Dulden Sie nicht in der Stille, das würde für Ihr offnes, mitteilsames Herz nicht wohlthuend sein, und mich quälen Sie nie, wenn Sie es gegen mich ausschütten. Das eine aber lassen Sie sich zum Troste gesagt sein: Sie sind eine gute, treue Tochter! Ihre Mutter ist ganz von Ihnen abhängig; sie wird die Spannung, die bösen Gerüchte, die Gerichtsverhandlung, ja selbst das Schlimmste, was Gott über sie verhängt, ertragen, wenn Sie mit Ihrer jungen, ungebrochenen Kraft ihr zur Seite stehen.«
Emmy. »Ja, ich will ihre Stütze sein, so wahr mir Gott helfe!«