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Herr Palmer gehörte zu den Menschen, die niemals wissen, was sie eigentlich wollen. Seine Absicht, in Quinnebasset eine höhere Schule zu gründen, gab er plötzlich wieder auf und schiffte sich zu einer Vergnügungsreise nach Europa ein. Nachdem Emmy ihren ersten Ärger darüber überwunden hatte, ging sie zunächst nach Tiffin zurück und nahm später eine Stelle an der Schule zu Poonosac an.
»Es ist wohl besser, daß es so gekommen ist, ich bin noch zu jung und unerfahren zur Vorsteherin einer höheren Schule; ich wünschte nur so sehr, bei meiner Mutter zu bleiben, die mich so nötig braucht,« sagte sie zu Karl, als sie eines Abends, ein Jahr nach dem vorigen Kapitel, auf den steinernen Stufen vor der Eingangsthür saßen.
»O warte nur! wenn der feine Herr europamüde zurückkehrt und dieselbe Aufforderung an dich richtet, so wirst du doch zugreifen, ohne deine Jahre zu zählen!« erwiderte Karl mit ganz ungerechtfertigter Schärfe; es ärgerte ihn, daß dieser fade, oberflächliche Geck es allen jungen Mädchen angethan zu haben schien.
Emmy antwortete nicht, sie betrachtete gerade die Gruppe im Zimmer, dessen Thür weit offenstand, um die laue Abendluft einzulassen. Großpapa saß behaglich an der Seite seiner kleinen Frau auf dem Sofa, Herr und Frau Friedrich Howe standen bei einander am Fenster. Friedrich war endlich zu einem flüchtigen Besuch nach Quinnebasset gekommen und hatte die beiden Knaben aus Cambridge mitgebracht, so daß die Familie nach längerer Zeit wieder einmal vollzählig beisammen war. Emmys Vater war ein Mann von hoher, schlanker Gestalt, feinen, edlen Zügen und sehr lebhaftem Wesen. Er schien stets mit atemlosem Eifer bemüht zu sein, seine Ansichten klar zu legen und setzte eben seiner Frau die Bedeutung einiger griechischer Fremdwörter mit einem großen Aufwand von Beredsamkeit auseinander. Ein Zug äußerster Verachtung kräuselte die Lippen seiner Stiefmutter, als sie diese Unterhaltung anhörte; sie hatte Friedrich nie leiden können, aber jetzt erhielt diese Abneigung täglich neue Nahrung. Über gelehrte Sachen konnte er endlos schwatzen, aber über Eisenbahnaktien, Hypotheken und Geldangelegenheiten konnte er ihr niemals die Auskunft geben, nach der sie verlangte.
Auch Karl schien von der sorgsamen Beobachtung, die er im stillen an Friedrich Howe anstellte, nicht ganz befriedigt zu sein. Sein Gönner, der Richter Davenport, hatte ihm gesagt, daß eine klassische Bildung nicht die richtige Vorbereitung für einen tüchtigen Geschäftsmann sei, und es wollte ihn bedünken, als ob diese Ansicht durch Emmys Vater bestätigt würde. Sollte das aber der Fall sein, so war Karl nicht gesonnen, in seine Fußstapfen zu treten und sich noch länger in das Studium der Bücher zu vertiefen.
»Emmy,« sagte er plötzlich, »was würdest du dazu sagen, wenn ich darauf verzichtete, den Doktorgrad zu erwerben?«
»O Karl, welche Frage? Du weißt, daß ich mein Herz darauf gesetzt habe, daß du mit allen Ehren von der Universität abgehst.«
»Ich auch!« erwiderte er mit einem Seufzer. »Aber es sprechen einige wichtige Gründe dagegen. Also erstens: ich bin arm und habe Schulden.«
»Die wirst du mit der Zeit bezahlen.«
»Zweitens: ich habe keine Freunde.«
»Karl, ist das recht?«
»Ich meine, keine Freunde, die meine Schulden bezahlen können – oder wolltest du das auch noch für mich thun, Emmy?«
»Ach, sei doch vernünftig!«
»Das will ich auch, es ist dasselbe, was mir Herr Davenport immer predigt. Aber er sagt, es wäre nicht vernünftig, noch länger auf der Universität zu bleiben, vielmehr solle ich sogleich in seine Amtsstube eintreten und die Rechtswissenschaften praktisch erlernen; dann wolle er mir nach Kräften bei meinem Fortkommen behilflich sein.«
»Thue, was du willst,« sagte Emmy mit mühsam unterdrückter Erregung; »ich weiß ja doch, daß meine Worte alle in den Wind gesprochen sind.«
»Aber Emmy, immer noch die alte Heftigkeit? Ich will mir die Sache ja reiflich überlegen und mit andern verständigen Leuten besprechen; du kannst sicher sein, daß ich nichts übereilen werde.« Damit stand er auf und ging fort.
»Natürlich geht er zu Virginia Curtis, um diese Frage mit ihr zu erörtern,« schrieb Emmy auf Esthers Tafel, »sie sagt immer ›ja‹ zu allem, was er vorbringt, und deshalb hält er sie für unfehlbar. Da schlendert er pfeifend hin, als handele es sich um eine Kleinigkeit, und es ist doch eine Lebensfrage!«
»Er ist in größerer Unruhe als Sie denken; er hat während der letzten Woche schwer mit sich gekämpft,« war Frau Foggs Entgegnung; wie die meisten tauben Menschen verstand sie die Kunst, in den Gesichtern zu lesen. Das Ergebnis dieses Kampfes war, daß Karl im Herbst in die Amtsstube des Richters Davenport eintrat, aber, auf Kapitän Howes Wunsch, in dessen Hause wohnen blieb.
Während er die ersten Seiten in dem bekannten juristischen Handbuch von Blackstone studierte, säumte Emmy die Gardinen für die neue Schule. Herr Palmer war inzwischen aus Europa zurückgekehrt, und jetzt sollte die höhere Lehranstalt mit ihrer Hilfe wirklich ins Leben treten.
»Habe ich es dir nicht vorhergesagt? Wer vermöchte auch Herrn Palmer zu widerstehen?« bemerkte Karl spöttisch.
»Verleide mir unser Unternehmen nicht, Karl; du weißt, wie glücklich ich bin, bei Mama bleiben zu können,« sagte das junge Mädchen, während sie die Nadel flink durch das Zeug fliegen ließ. »Überdies bin ich jetzt volle achtzehn Jahre alt und sehr ernsthaft und vernünftig. Warum sollte es uns nicht gelingen?«
»Palmer ist nicht der rechte Mann dazu.«
»O – Hiob Fettyplace wäre dir wohl lieber gewesen?«
»Nein, der nicht gerade, obwohl es nicht hübsch von Palmer war, ihm die Sache vor der Nase wegzunehmen. Er that es auch nur, um Hiob einen Streich zu spielen.«
»Du bist ungerecht, mein Lieber. Herr Palmer ist des Müßigganges müde und will sich nützlich machen.«
»Warum denn gerade in Quinnebasset?«
»Vermutlich hat er eine Vorliebe für den Ort.«
»Oder für die jungen Mädchen darin.«
»O, über diese Eifersucht!« lachte Emmy neckisch. »Übrigens ist Herr Palmer immer gut gegen mich gewesen, und ich lasse nichts auf ihn kommen.«
»Was hat er denn großes für dich gethan?«
»Mir diese Stelle gegeben.«
Karl warf ärgerlich seine Mütze in die Luft. »O du heilige Einfalt! weißt du wirklich nicht, daß du allein es bist, welche die Schülerinnen anzieht? Wenn die Schule gedeiht, so wird er es nur dir verdanken.« –
Mitte September fand die Eröffnung der Anstalt statt. Herr Palmer hatte sich von seinem Schneider in Boston einen neuen Anzug machen lassen und große Sorgfalt auf das Binden seiner Krawattenschleife verwendet; es konnte also niemand behaupten, daß er ohne gründliche Vorbereitung ans Werk gegangen wäre. Als er mit selbstgefälliger Miene das Schulhaus betrat, war Emmy bereits dort; sie war schon eine Stunde früher erschienen, um die letzte Hand an alle Einrichtungen zu legen.
»Delicia Sanborn hat mir geholfen, die Gardinen aufzustecken und alles in Ordnung zu bringen«, sagte sie; »da Sie noch nicht hier waren, konnten wir uns Ihren Rat nicht erbitten; hoffentlich werden Sie zufrieden sein.«
O gewiß, wenn Emmy getrocknete Äpfel an den Wänden aufgereiht hätte, so würde er damit einverstanden gewesen sein! Er billigte schon im voraus alle Pläne und Entwürfe seiner ersten Lehrerin, da er gar keine eigenen hatte und sich auch nicht die Mühe geben mochte, welche auszudenken.
An jenem Morgen strömten die Schülerinnen von allen Enden des Bezirks herbei, auch Poonosac sandte eine gute Anzahl; einige von Miß Lightbodys früheren Schülerinnen und eine unerwartet große Schar von Kindern aus Tiffin und Johannet kamen dazu. Die jüngste von allen war Lucie Pote, welche der geduldige Onkel Hiob jeden Morgen zur Schule brachte und jeden Nachmittag wieder abholte. Diese ganze junge Gesellschaft kannte und liebte Emmy bereits, Herr Palmer dagegen war fast allen ein Fremder. Doch meinten die Mädchen einstimmig, er würde ihnen schon mit der Zeit gefallen; seine leichten, weltmännischen Formen und seine schönen, ausdrucksvollen Augen übten einen großen Zauber auf die jungen Gemüter aus. – Es giebt Augen, aus denen ein tiefes Gemüt, ein lebhaftes Gefühl zu strahlen scheint und die doch nur leeren Nußschalen gleichen – sollten Herrn Palmers Augen etwa zu diesen gehören? Wer konnte es sagen?
»Meinen Sie nicht, daß Seine Hochwürden Zephanja Coolbroth mit dem guten Anfange zufrieden sein kann?« fragte der neue Direktor, als er mit seiner jungen Gehilfin nach Hause ging – es regnete in Strömen, und er hielt ihr mit etwas nachlässiger Ritterlichkeit seinen Schirm über den Hut. »Ich denke, dies ist ungleich besser, als die Mission in Grönland, wozu Sie mir doch auch schon Ihren Beistand zugesichert hatten.«
»Keineswegs!« beteuerte Emmy.
»Lehren ist auch ein Missionswerk,« fuhr er unbekümmert fort, »und Quinnebasset ist ebenso gut wie Upernivik. Jedenfalls ist der Anfang unserer gemeinsamen Thätigkeit ein vielversprechender.«
»Meinen Sie nicht, daß wir mit zu vielen Abteilungen begonnen haben?« fragte Emmy bedenklich. Sie mußte den Kopf beständig hin und her biegen, damit ihr die Regentropfen nicht in den Nacken sickerten.
»Kann sein – höchst wahrscheinlich,« erwiderte ihr Gefährte gleichgiltig. »Was denken Sie von einer Spazierfahrt mit Picknick am nächsten Sonnabend?«
»Mit den Zöglingen?«
»O bewahre! mit den jungen Damen!«
»Ich wäre gerne dabei, aber bitte, Herr Palmer, vergessen Sie die Fensterscheibe nicht.«
»Zum Picknick?«
»Nein, die in der Schule,« lachte Emmy.
»Ich fürchte, Fräulein Howe, Ihr Kalender ist ganz nach dem Längengrade der höheren Schule von Quinnebasset berechnet,« sagte Herr Palmer spöttisch und schwenkte dabei den Schirm so, daß sie einen ganzen Strom ins Genick bekam.
»Karl wird mir wohl den Gefallen thun, das Schulfenster in Ordnung zu bringen,« sagte Emmy zu ihrer Mutter, während sie ihren nassen Mantel zum Trocknen aufhängte. »Herr Palmer vergißt es doch wieder, und dabei lacht er mich noch aus, weil ich nur einen Gedanken im Kopfe habe.«
» Ein Gedanke, der festgehalten und verarbeitet wird, wiegt hundert auf, die zerstreut umherflattern,« philosophierte Frau Howe seufzend und dachte dabei an ihren Mann, der die unglückselige Angewohnheit hatte, nichts zu Ende zu führen, sondern stets von einer Sache zur andern überzuspringen. Jetzt befand er sich in New-Jersey, wo er der Handlung eines Neffen der alten Frau Howe, eines Herrn Holbrook, beigetreten war. Würde diese neue Unternehmung scheitern, wie alle früheren? vielleicht gerade deshalb nicht, weil die beiden Männer so sehr große Gegensätze waren. Herr Holbrook liebte das Geld gerade so, wie seine Tante es that, und schien auch die Gabe des Festhaltens geerbt zu haben. So suchte denn Frau Karoline das Beste zu hoffen, was ihr in Emmys Beisein immer leichter wurde, als ohne sie. Sie bedurfte in der That einer Stütze, auf die sie sich lehnen konnte, und diese Schwäche rief alle Festigkeit und Thatkraft im Charakter ihrer Tochter wach. Um ihrer Mutter willen mußte die Schule gedeihen, und sie setzte ihre ganze Kraft, ihren ganzen Willen dafür ein.
Leicht war die Aufgabe nicht, die sie übernommen hatte. Herr Palmer meinte es gut, er war überhaupt der gutmütigste Mensch unter der Sonne; aber ihm fehlte jedes Bewußtsein der ernsten Verantwortung, die auf ihm ruhte. Von seiner Kindheit an, als noch kein Obstbaum vor ihm sicher war, hatte immer jemand neben ihm gestanden, der ihm die Zweige herunterbog, damit er die Äpfel recht bequem pflücken könne; jetzt, da er ein Mann war, suchte er unwillkürlich nach einer Hand, die ihm die vollen Äste darbot und ihn sicher durch das Dickicht und die Dornen führte. Karl Preston hatte recht, wenn er sagte, daß er ohne Emmys Hilfe nie an diese Schule gedacht haben würde.
»Sie ist anmutig wie ein Schmetterling und fleißig wie eine Biene,« dachte der bequeme Direktor, »und man verläßt sich unmerklich auf sie. Seltsam, daß gerade wir beide uns hier so anstrengen, die wir es doch gar nicht nötig hätten. Doch mag sie augenblicklich das Geld wohl brauchen, da sie das Vermögen erst nach dem Tode der alten Dame erhält.« Und während er scheinbar die französischen Aufgaben der vorgeschrittensten Schülerinnen überhörte, beobachtete er unausgesetzt seine kleine Amtsschwester. Sie bot freilich ein anziehendes Bild dar, mit ihrem feinen, lebendigen Gesicht im Schmuck der dunklen Locken, während schneeweiße Leinenstreifen Hals und Hände begrenzten.
Das plötzliche Verstummen der Schülerin weckte Herrn Palmer aus seiner Träumerei. »Bitte um Entschuldigung, Fräulein Phöbe, wo waren Sie stehen geblieben? auf Seite …«
Derartige kleine Zwischenfälle ereigneten sich so oft, daß die Mädchen anfingen, sich verstohlene Blicke zuzuwerfen und endlich zu dem Schluß kamen, der Direktor müsse sein Herz an Fräulein Howe verloren haben. Ganz unrecht hatten sie damit nicht, doch gehörte sein Herz keineswegs Emmy allein an; vielmehr schwankte es beständig zwischen ihr, Delicia Sanborn und Dora Topliff hin und her. Diejenige, mit der er gerade zusammen war, erschien ihm stets als die anziehendste, und er gab seiner Bewunderung lebhaften Ausdruck. »Reizende Mädchen, alle drei!« sagte er oft zu sich selbst; »ich gäbe etwas darum, wenn ich wüßte, welche mir eigentlich am besten gefällt!«