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Achtzehntes Kapitel.
Emmys Erfolge.

Emmy war inzwischen in das Haus des Herrn Pote übergesiedelt. Die Familie bestand außer dem Hausherrn, seiner Frau und seinen Kindern noch aus zwei Halbbrüdern des Mannes, die im ganzen Ort nur die »Fettyplaceschen Söhne« genannt wurden, obgleich ihre Eltern längst tot waren. Sie zeichneten sich durch ungewöhnliche Kenntnisse und eine ebenso große Unbehilflichkeit aus; Jeremias, der ältere Bruder, ein Mann von einigen dreißig Jahren, hatte einen Fehler an der Zunge, der ihm das Sprechen sehr erschwerte, weshalb der jüngere, Hiob, meist das Wort für ihn führte. Dieser war etwa fünfundzwanzig Jahre alt und von sehr ernster Sinnesart; eigentlich wollte er Geistlicher werden, aber die Bewegungen seiner langen Gliedmaßen waren so linkisch und lächerlich, daß Emmy meinte, man würde seine Predigten nur mit geschlossenen Augen anhören können.

Die Fettyplaceschen Söhne waren sehr schüchterner Natur; Emmy sah sie nur bei Tische, wo sie steif und kerzengerade dasaßen und beharrlich auf ihre Teller niedersahen, als gäbe es keinen andern Ruhepunkt für ihre Augen. »Vermutlich sind sie Weiberfeinde und wünschen mich hundert Meilen weit,« dachte Emmy bei sich.

Aber darin täuschte sie sich gewaltig; vielmehr waren sie stumme Bewunderer der jungen Dame und hätten viel von ihrem Griechisch und Latein geopfert, wenn es in ihrer Macht gelegen hätte, ihre hübsche Nachbarin ohne Erröten anzureden.

Während der vierzehn Tage, die Emmy im Poteschen Hause zubrachte, nickte ihr Jeremias häufig Beifall zu und lud sie sogar einmal mit wundersamem Stottern und Stammeln, das Hiob erst erläutern mußte, ein, seine wissenschaftlichen Sammlungen und ausgestopften Vögel zu besehen. Der Bruder unterstützte ihn dabei, indem er die einzelnen Gegenstände erklärte, während seine langen, knochigen Hände die Beschauerin an die Riesengebeine urweltlicher Tiere erinnerten.

»Unsere jungen Leute scheinen sich in Ihrer Nähe sehr wohl zu fühlen, Fräulein Howe,« sagte Frau Pote eines Tages, »sie haben sich noch nie so viel mit einer Fremden unterhalten.«

.

»Sie sollten immer unsere Hausgenossin bleiben,« meinte ihr Mann; »seit Sie hier sind, hat Lucie noch nicht einen Wutanfall gehabt. Gestern befürchtete ich einen, aber sie lief noch zu rechter Zeit auf Sie zu, und es kam zu keinem Ausbruch. Ich wollte aufpassen, wie Sie es anfingen, aber ich habe es Ihnen doch noch nicht abgelauscht.«

Emmy hielt eine nähere Auseinandersetzung nicht für geboten. Sie hatte dem erregten Kinde halblaut ein kurzes Gebet vorgesprochen, das Lucie wiederholen mußte. Arme, kleine Lucie! Onkel Hiob fand sie am nächsten Tage weinend unter den Johannisbeerbüschen. »Meine liebe, kleine Lehrerin ist fort!« schluchzte sie.

»Ja, ich weiß es schon, es ist sehr traurig,« erwiderte Hiob in kläglichem Ton und legte seine große Hand auf den Kopf des Kindes, der darunter ganz verschwand.

»Sie ist netter, als alle andern Menschen!« klagte Lucie, »sie ist jedermanns Liebling.«

»Wer sagt das?«

»Herr Palmer. Er giebt jedem einen Beinamen, auch dir, Onkel Hiob.«

»Wie nannte er mich?« stammelte Hiob, indem er blutrot wurde.

»Die ›feurige Zunge‹«, erwiderte das Kind, »aber ich weiß nicht, was das heißen soll, weißt du es?«

Hiob Fettyplace hatte sich umgedreht, ohne zu antworten, und ging mit Riesenschritten von dannen. Von Kindheit an hatte zwischen ihm und Eugen Palmer eine gewisse Feindschaft bestanden; jener hatte ihn stets mit seiner Schüchternheit und der Ungelenkigkeit seines Ausdrucks geneckt, während Hiob den Sohn des reichen Mannes, der sich niemals anstrengte und dem alles mühelos in den Schoß fiel, halb verachtet und halb beneidet hatte. Wenn auch Lucie nicht wußte, was mit der ›feurigen Zunge‹ gemeint war, so verstand er es um so besser; er fühlte tief den grausamen Spott, den Palmer mit seiner schwerfälligen Sprache trieb, als er sie mit den feurigen Zungen der Apostel am Tage der Pfingsten verglich. In demselben Augenblick ging Emmy an Palmers Seite bei Hiob vorüber; er machte eine ungeschickte Verbeugung und dachte: »Wenn er es ihr wenigstens nicht gesagt hätte.« Aber er hatte es dennoch gethan, und Emmy mußte jedesmal mit heimlichem Lachen daran denken, wenn sie die lange Gestalt des braven Hiob erblickte oder seine stotternde Redeweise hörte.

Das junge Mädchen lebte jetzt im Hause des Herrn Jonathan Wix, der der angesehenste Mann in der ganzen Nachbarschaft war; sie war also die Hausgenossin Eugen Palmers, welchem es in Tiffin so sehr zu gefallen schien, daß er seinen Besuch dort von einer Woche zur andern verlängerte. Sein Benehmen versetzte Emmy in viel größeres Unbehagen, als die Verlegenheit der Fettyplaceschen Söhne, und oft wünschte sie dem jungen Manne eine Beschäftigung, damit er sie nicht unausgesetzt beobachten und mit schmeichelhaften Aufmerksamkeiten überschütten möchte.

»Ich glaube, Sie sind das glücklichste Geschöpf auf Erden, Fräulein Howe,« sagte Herr Palmer, während er eine Rauchwolke vor sich hinblies und zusah, wie Emmy Ada Wix ein Häkelmuster zeigte.

»Fleißige Leute sind immer glücklich,« bemerkte Großmama Wix trocken.

»Derartige spitze Pfeile muß ich oft hinnehmen, aber sie verletzen mich nicht,« erwiderte er lachend. »Es ist doch nicht meine Schuld, Großmutter, daß ich nicht als Betteljunge geboren bin und mich erst mühsam heraufarbeiten mußte. Bewundern Sie solche Männer, Fräulein Howe, die sich selbst ihre Stellung im Leben erworben haben?«

»Ganz gewiß.«

»Zum Beispiel die Fettyplaceschen Söhne?«

Emmy lachte, während Großmama Wix die Stirn runzelte.

»Wenn du eine so gediegene und fromme Gesinnung hättest, wie sie, würde ich sehr zufrieden sein, lieber Eugen.«

»Ich werde mich nächstens irgendwo niederlassen und mich ihrer Tugenden zu befleißigen suchen,« erwiderte der junge Mann, indem er den Hals reckte und die Ellenbogen krümmte, wie es Hiob zu thun pflegte. »Haben Sie je gefunden, Fräulein Howe, daß ein selbstgemachter Mann wirklich feine Manieren besessen hätte?«

»O gewiß, weshalb denn nicht?«

»Bitte, nennen Sie mir einen.«

»Karl Preston zum Beispiel.«

»Aha, dieses Vorbild aller Vollkommenheit, von dem Sie zuweilen sprechen. War er nicht Knecht bei Ihrem Großvater?«

»Knecht?« wiederholte Emmy entrüstet, »o durchaus nicht!«

»Nun, er leistete doch Dienste in seinem Hause, im Stall und auf dem Felde. Und wie liebevoll und geduldig haben Sie ihm die Buchstaben beigebracht!«

»Kein Gedanke daran! ich habe ihm nur einige Nachhilfe im Rechnen und in der Grammatik gegeben. Und wenn Sie Karl Preston kennten, würden Sie nicht wagen, ihn deshalb gering zu achten.« Emmys Augen sprühten Funken vor gerechtem Unwillen, sie kramte eiligst ihre Handarbeit zusammen und verließ das Zimmer.

»Wenn sie in solche Aufregung gerät, sieht sie allerliebst aus,« meinte Herr Palmer, indem er ihr bewundernd nachsah. »Schade, daß sie so hitzig ist, aber das gleicht das Geld, das sie einmal bekommt, schon aus. Wieviel wird ihr die alte Dame wohl hinterlassen, Tante?«

»Hunderttausend Dollars ungefähr, wenn ich recht gehört habe. Du thätest aber besser, Eugen, nicht immer so leichtfertig zu reden; Fräulein Howe wird von deinem gesunden Menschenverstande keinen besonderen Begriff bekommen,« sagte Tante Jonathan, welche es sich selbst nicht übelnahm, das müßige Geklätsch über Emmys zukünftiges Vermögen zu wiederholen. Die alte Frau Howe hatte der Gattin ihres Stiefsohnes ein karges Darlehen von tausend Dollars gemacht, wovon sie noch hohe Zinsen verlangte, aber im Munde von Frau Hackett und Miß O'Neil war die Zahl gewachsen, und einer sprach es dem andern nach, bis ein riesiges Vermögen daraus geworden war.

Emmys Tagebuch.

Den 6. Juli. Heute beginne ich mein Tagebuch aufs neue; hoffentlich ist es in meinem Schreibpult sicher geborgen, zumal ich den Schlüssel in der Tasche trage.

Meine Schule gewährt mir große Freude, nur komme ich mir manchmal sehr würdig vor und mindestens um zehn Jahre älter als vorher. Dabei fallen mir Ihre Worte ein: »Ein weibliches Wesen, das einmal den Ernst des Lebens kennen gelernt hat, kann wohl mit der Zeit ein Engel, aber nie wieder ein harmloses, junges Mädchen werden.« Aber ich fühle mich manchmal doch noch recht jung! Wenn die Felder so prächtig im Sommerglanze daliegen, dann möchte ich mich viel lieber mit den lieben Kleinen draußen herumtummeln und Schmetterlinge mit ihnen fangen, als ihnen langweilige Stunden geben. Nein, nein! ich will noch kein ernsthaftes, reifes Frauenzimmer sein, und wenn ich in den Ferien nach Hause komme, sollen Sie sehen, daß ich noch jung und lustig bin.

Sie fragen, wie mir Herr Palmer gefällt. Er sieht gut aus, ist witzig und nicht ohne Verstand, aber was ich an ihm vermisse, ist ein zielbewußtes Streben. Zuweilen rümpft er die Nase über Menschen, die ihrem Erwerbe nachgehen, dann erklärt er wieder, sehr bald selbst irgend einen Beruf ergreifen zu wollen. Ihnen allein flüstere ich es ganz heimlich zu, daß er mich in manchen Stücken an Papa erinnert.

Übrigens scheint er ein sehr empfängliches Herz für junge Damen zu haben. Ist er in Quinnebasset, so macht er Ruderfahrten mit Dora Topliff, oder holt Delicia Sanborn zu einer Spazierfahrt ab. Hier hält er der leidenden Tryphosa das Garn und macht recht gern einen Spaziergang mit der kleinen Schulmeisterin. Tryphosa erklärte mir sehr anzüglich, da sie leider zu weiten Wanderungen unfähig sei, so müsse er sich wohl irgend eine andere Begleitung suchen, denn allein zu sein, wäre ihm verhaßt. Mag sie ihn für sich in Anspruch nehmen! ich mache ihn ihr gewiß nicht streitig. Im ganzen halte ich ihn für einen Ehrenmann, nur glaubt er als reicher Mann sich alles erlauben zu dürfen und wird dadurch manchmal recht unbescheiden.

Gestern z. B. trat er, ohne anzuklopfen, ins Schulzimmer, setzte sich ohne weiteres an mein Pult und band sich ein seidenes Taschentuch über den Kopf, weil er behauptete, es zöge vom Fenster her. Sie können denken, daß es mich einige Mühe kostete, die Kinder ernst und aufmerksam zu erhalten. Dann bat er mich, mich in meinem Unterricht nicht stören zu lassen, was mir auch gar nicht einfiel, denn Seine Gnaden sollten gewiß nicht denken, daß ich mich vor ihm fürchtete. Er wunderte sich sehr, daß ich aus dem Kopfe frage und nicht nach der Reihenfolge, die im Buch steht, aber ich finde, daß dies die Kinder viel frischer bei der Sache erhält, als wenn sie schon genau wissen, was kommen wird. Außerdem sehe ich sie gern an; mir scheint, als ginge dann ein magnetischer Strom von Auge zu Auge, von Seele zu Seele.

Nachher fing Herr Palmer an, die Klasse selbst zu prüfen. Hätte er einfache, verständige Fragen gethan, dann hätte ich gar nichts dagegen gehabt, aber er suchte sie nur zu verwirren. Meinen kleinen, rotbäckigen Tommy Applebee, der kaum erst lesen kann, fragte er, welche Flüsse sich am besten zur Schiffahrt eigneten. Tom guckte eine Weile nach der Decke, kratzte sich verlegen den Kopf und sagte endlich mit schlauem Gesicht: »Die Flüsse, die genug Wasser haben.« Natürlich lachte Herr Palmer, ich aber streichelte Tommy und sagte, er hätte gut geantwortet.

Dann öffnete jener dreiste Mensch ohne Erlaubnis mein Pult und nahm die Aufsatzhefte heraus. Ich hätte ihn gern gefragt, ob das feine Manieren wären, oder ob er solche Art nicht lieber den Emporkömmlingen überlassen wolle. Ich will nicht behaupten, daß die Erstlingsaufsätze der Kleinen sehr gut sind, sie machen schreckliche Bomber, aber das kann man doch nicht anders erwarten, und es war rücksichtslos von Herrn Palmer, ganz laut darüber zu lachen. Ich bin so ärgerlich auf ihn, daß ich heute nicht mit ihm spazieren gehen werde.

Den 30. Juli. Das jüngste Kind von Applebees ist sehr krank. Ich besuchte es heute abend und trug es ein Stündchen im Flur auf und ab, damit seine Mutter sich ein wenig Ruhe gönnen sollte. Während dieser Zeit saß Tryphosa auf der Bank vor der Thür – das übliche Kissen im Rücken – und Herr Palmer gesellte sich zu ihr. Sie war wieder äußerst gefühlvoll und beweinte den unvergeßlichen Isaak mit Strömen von Thränen. »Lerne dich endlich in dein Schicksal ergeben,« hörte ich ihren Gefährten ziemlich ungeduldig sagen, »und vergiß deinen Verlust.«

»Vergessen?« rief sie schluchzend, »o Eugen, wenn er dein Gatte gewesen wäre, würdest du nicht so gefühllos reden!«

Ich mußte mein Gesicht tief in die Kissen des Kindes drücken, sonst hätte ich laut aufgelacht; dann sang ich dem kleinen Kranken schnell ein Schlummerlied vor, um nichts mehr von dem Gespräch draußen zu hören.

Den 4. August. Mit unserem armen, kleinen Johnny geht es zu Ende. Frau Applebee ist so erschöpft von den Nachtwachen, daß sie sich nicht mehr auf den Füßen halten kann; Tryphosa steht ihr redlich bei, sie denkt nicht mehr an ihr zerbrochenes Rückgrat, sondern ist ganz Liebe und Fürsorge. Sie bat mich, die nächste Nacht zu ihr zu kommen, damit ihre Schwester ruhig schlafen könne, und ich habe es ihr versprochen. Ich denke, Mama würde es billigen.

Den 6. August. Es war eine seltsam feierliche Nacht. Ich hielt den sterbenden Liebling in meinen Armen, während Tryphosa daneben kniete und ihm kühlende Umschläge um das brennende Köpfchen machte. Wie alt sah das kleine Gesicht aus! es hatte ordentliche Runzeln, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

Herr Applebee kam ein paarmal herein und strich ihm sanft über die Wangen; er hatte seinen Jüngsten besonders lieb gehabt. Im Kamin brannte ein schwaches Feuer mit mattem, bläulichem Schein, und durch eine schadhafte Stelle im Dache fiel Tropfen auf Tropfen in den Hausflur herab. Tryphosa und ich sprachen nur im Flüsterton, ein Gefühl heiliger Scheu lag über uns; wir konnten nichts mehr thun, als still den Engel des Todes erwarten. Um Mitternacht schwebte er herein und berührte das Kind; ehe wir seine Mutter rufen konnten, stand sein Atem still. Zum erstenmal sah ich dem Tod ins Angesicht, aber es war nicht schrecklich, sondern sanft und lieblich. Unter seinem Hauch verschwand der alte, müde Blick, die Falten glätteten sich, und wie wenn eine Wolke, die den Mond verdunkelte, plötzlich fortzieht, so lag das holde, lächelnde Kinderantlitz wieder vor uns. Ich konnte um den kleinen Johnny nicht trauern, ich dankte Gott, daß Er ihn von aller Pein erlöst hatte.

Frau Applebee blieb ganz ruhig, sie scheint beständig auf Kummer und Sorge gefaßt zu sein. »Mein süßer, geduldiger Engel!« sagte sie mit einem Ausdruck trauriger, stiller Ergebung.

»Weine nicht, Melissa!« sprach ihr Mann und schlang ihren Arm um sie. »Er wenigstens wird sich nicht zu Grunde richten und seinem Weibe das Herz brechen.« Seine Worte erstarben in lautem Schluchzen – es ist furchtbar erschütternd, einen Mann weinen zu hören.

Frau Applebee nahm seinen Kopf in ihre Hände und küßte ihn. »O mein Rufus!« sagte sie – aber es lag eine ganze Geschichte voll Jammer und Thränen in dem kurzen Wort.

Mir schoß plötzlich ein Gedanke durch den Kopf; ohne mich zu besinnen, nahm ich ein Blatt Papier und schrieb darauf:

»Die Unterzeichneten verpflichten sich an Johnnys Sterbebett, allen berauschenden Getränken für immer zu entsagen.«

Ich schrieb meinen Namen darunter und schob das Blatt Tryphosa zu, die es, ohne ein Wort zu sprechen, unterschrieb und dann ihrem Schwager reichte. »Gott sei mir gnädig,« stöhnte er, indem er ohne Zaudern die Feder ergriff, obgleich seine Hände heftig zitterten. »Melissa, ich glaube, der Herr ist nahe bei uns – wird Er mir helfen, dies Gelübde zu halten?«

»Gewiß, Rufus, wenn du Ihn ernstlich bittest, wird Er dich erhören.«

Es war ein ergreifender Augenblick, nahe bei einander waren die Gesichter des Vaters, der Mutter und des toten Kindes, von welchem Friede und Seligkeit auszuströmen schien. O Frau Fogg, wenn es Wahrheit würde! wenn Herr Applebee sich wirklich besserte – wäre es nicht ein unsägliches Glück! Vielleicht kam es mir, einem fremden, jungen Mädchen, nicht zu, einen solchen Schritt zu thun, und zu anderer Zeit hätte ich es sicher nicht gewagt; aber der Augenblick war so günstig, der Schmerz hatte des Mannes Herz erweicht, ich handelte nach einer plötzlichen Eingebung. Gott gebe Seinen Segen dazu!

Ich konnte mich von dem süßen, kleinen Engel gar nicht trennen; es lag ein Ausdruck von unendlicher Lieblichkeit auf dem wachsbleichen Gesicht, wie der letzte Duft einer verwelkenden Rose.

Den 8. August. Der kleine Johnny wurde heute auf dem Kirchhof, der hoch auf dem Hügel liegt, begraben. Ich folgte mit der ganzen Schule, und jedes Kind warf eine Blume in das Grab. Als nur noch ein kleiner Kreis dort stand, hielt Herr Applebee eine kurze Ansprache, worin er das Gelübde jener Nacht erneuerte und alle Freunde und Nachbarn um ihre Hilfe bat. Alle waren gerührt und schüttelten ihm kräftig die Hand; Frau Applebee flüsterte mir zu, sie habe seit langer Zeit nicht solchen Frieden empfunden, wie in diesen Tagen. Sie sah ganz verklärt aus; für die Thränen sorgte Tryphosa in doppeltem Maße; sie war sehr in Sorge, man könnte die trockenen Augen ihrer Schwester für Gefühllosigkeit halten.

Den 9. August. Ich wohne immer noch bei der Familie Wix; sie wünschen, ich möchte bis zu den Ferien bei ihnen bleiben, um der guten Großmutter, deren Augen schon schwach werden, morgens und abends aus der Bibel vorzulesen. Heute abend nach dem Thee ertönte die Thürklingel. Es war eigentlich schon spät, Großmama Wix saß bei ihrem abendlichen Strickzeug (welches viel gröber ist, als das, woran sie bei Tage strickt), und Herr Palmer hatte sich bereits die Stiefel aus- und seine ungleichen Morgenschuhe angezogen, die zusammen passen wie Hund und Katze. Erzählte ich Ihnen, daß er zwei Paar besitzt, die er von zwei Freundinnen in Boston zum Andenken erhalten hat, und daß er, um keine zu kränken, immer einen Schuh von jedem Paare trägt?

Ada öffnete die Thür, und herein schritt ernst und feierlich – Hiob Fettyplace. Wir waren alle erstaunt, und er selbst auch, wie mir schien. »Seien Sie willkommen,« sagte die Großmama, indem sie ihn durch ihre großen Brillengläser aufmerksam betrachtete, »wir haben Sie lange nicht bei uns gesehen. Warum haben Sie Ihren Bruder nicht mitgebracht?«

»Ich forderte ihn dazu auf, aber er wollte durchaus nicht mitkommen,« versetzte Hiob wahrheitsgetreu, aber kaum war ihm das unglückliche Wort entfahren, als er dunkelrot wurde; er fühlt es immer, wenn er eine Dummheit gesagt hat, nur leider zu spät. Herr Palmer warf mir einen Seitenblick zu, bei dem ich schwer ernst bleiben konnte, und ging davon, indem er den steinernen Gast seiner Großmutter und mir allein überließ. »O, wer doch diese stummen Lippen entsiegeln könnte!« dachte ich bei mir und brachte das Gespräch auf wissenschaftliche Gegenstände, wobei er ein wenig auftaute. Dann ließ sich Großmama über die Applebeesche Familie aus, und er erzählte, Tryphosa hätte ihr Unterstützungsgesuch zurückgezogen, um es nur in dem Falle zu erneuern, daß Bruder Applebee sein Mäßigkeitsgelübde brechen sollte. Dieser hatte den Antrag stets für ungerechtfertigt gehalten.

Den 10. August. Heute hatte ich einen kurzen Besuch von Delicia, die zu mir in die Schule kam. Ich freute mich so sehr, sie zu sehen, daß ich meine Würde vergaß und sie im Beisein der ganzen Klasse herzlich küßte. Sie blieb nur ein paar Minuten, ich begleitete sie bis an die Thür und fand bei meiner Rückkehr die Knaben in hellem Gelächter vor. Bei näherer Nachfrage erfuhr ich, daß Jakob Schnee versucht hatte, Willi Wix zu küssen. Diese Schelme! machen sich über ihre Lehrmeisterin lustig! Ich ließ es durchgehen, bestrafen konnte ich sie doch nicht. – Morgen ist öffentliche Schulprüfung – haben Sie Mitleid mit mir, Frau Fogg!

Den 11. August. Nein, wünschen Sie mir Glück! Alles ging über Erwarten gut! Ich hatte solche Angst vor Dr. Prescott, der ein armes Menschenkind durch seinen beißenden Spott zermalmen kann; aber er war äußerst huldvoll und lobte mich vor der ganzen Schule und allen anwesenden Eltern, so daß ich vor Scham hätte in die Erde sinken mögen. »Heutzutage,« sagte er, »ergreifen viele den Beruf des Lehrers nur um des Erwerbes willen, und weil sie keine andere Beschäftigung finden. Um so erfreulicher ist es, einmal einer Lehrerin zu begegnen, die ihr Werk als eine heilige Aufgabe auffaßt und mit ganzem Herzen betreibt. Gott segne solchen Eifer und solche Treue.«

»Amen,« fügte Herr Applebee mit lauter Stimme hinzu.

Darauf fühlte sich Hiob Fettyplace getrieben, etwas zu sagen und erhob sich von seinem Platze, obgleich ihn Jeremias herunterzuziehen suchte. »Meine christlichen Brüder,« fing er ganz fließend an – dann stockte er; die Anrede, die ihm aus der Andachtsstunde geläufig sein mochte, erschien hier doch nicht ganz passend.

»Meine lieben Freunde und Nachbarn,« begann er aufs neue nach einer Pause, in der ich in Todesangst bis sechzig gezählt hatte – dann war er wieder mit seiner Beredsamkeit zu Ende. Ich wußte den Grund nur zu gut: Herr Palmer hielt seinen Blick mit einem kühlen, spöttischen Lächeln auf ihn geheftet.

»Ich wollte,« fing der unglückliche Hiob wieder an, indem er sich den Angstschweiß von der Stirn wischte, »ich wollte mir erlauben – hm – erlauben, einige Bemerkungen zu machen – aber – aber – es scheinen mir keine mehr – nötig zu sein.« Damit setzte er sich nieder und verhüllte in Verzweiflung sein Gesicht, während Jeremias über und über rot geworden war. Die Versammlung, die sich zuletzt in einer sehr peinlichen Stimmung befunden hatte, zerstreute sich jetzt schnell, nachdem mir die meisten Väter kräftig die Hand geschüttelt hatten.

»Leider mußten wir vergeblich auf die Bemerkungen der ›feurigen Zunge‹ warten,« sagte Herr Palmer nachher zu mir, »vielleicht wären sie von hohem Wert gewesen.«

»O, Sie waren sehr grausam gegen den Armen,« erwiderte ich vorwurfsvoll, »Sie sahen ihn mit Absicht so starr an, um ihn aus dem Text zu bringen.«

»Ich?« sagte er mit der unschuldigsten Miene; »ei, darf doch selbst die Katze den Kaiser ansehen!« –

Morgen kommt Lenas Schule an die Reihe. Ich hoffe, Dr. Prescott wird nachsichtig sein, sie hat sich neuerdings große Mühe gegeben. Frau Bumblebee sagt jetzt, sie nähme das ungünstige Urteil über ihre Lehrerin zurück; die Kinder lernten besser als im vorigen Jahr. Und Sie wissen, Frau Bumblebee hat ein scharfes Auge und läßt keinen Fehler durchgehen.

Herr Palmer hatte heute abend einen Ritt im Mondschein mit Dora Topliff unternommen, und so sprach ich sie ein Weilchen. Sie ist sehr schlecht auf Lizzie zu sprechen, weil diese sich plötzlich von ihrem Bruder James abgewendet hat. Es bestand lange eine innige Freundschaft zwischen den beiden, und Dora betrachtete sie schon ganz wie eine Schwester. »Warum hat sie nicht längst gesagt, daß sie sich nichts mehr aus ihm macht?« fragte Dora vorwurfsvoll. Ich hatte keine andere Entschuldigung, als die, daß es Delicia nicht über sich gewinnen könne, jemandes Gefühle zu verletzen. »Als ob sie das jetzt nicht gethan hätte,« meinte Dora mit Recht. »Aber ich klage nicht um meinetwillen, mir thut nur James leid, der arme Junge, der ihrer Neigung so sicher zu sein glaubte!« –

Noch ein Schultag – dann geht es heimwärts! Ich werde meine Zöglinge sehr vermissen, aber statt ihrer werde ich ja Dina haben. Ach, käme ich doch in ein eigenes Heim, mit meinem Vater und den Brüdern darin! Ich kann die Bemerkung der Großmutter über »Männer, die das Vermögen ihrer Frau durchbringen und ihre Familie der Barmherzigkeit ihrer Verwandten aufdrängen,« nicht vergessen; sie macht mir die Rückkehr unter Großpapas Dach so schwer! Aber wie soll ich es ändern? Ich allein kann nicht so viel erwerben, daß wir alle davon leben können, und Mama darf nicht schwer arbeiten, sie kann es einmal nicht vertragen. Wenn doch Papa plötzlich reich würde! aber hierauf ist nicht zu rechnen. Dabei fallen mir Ihre weisen Worte ein: »Glücklich ist der, welcher nicht zuviel erwartet, denn er kann nicht getäuscht werden.«

Hier mache ich einen Strich unter mein Tagebuch!

* * *

»Da bist du ja wieder!« sagte die alte Frau Howe und sah kaum von ihrem Strickzeuge auf, als Emmy am nächsten Abend mit ihrer Reisetasche ins Haus trat. Die kühlen Worte trafen das Ohr des jungen Mädchens wie ein scharfer Stich, doch drehte sie sich mit freundlichem Lächeln um, schloß Dina in ihre Arme und begrüßte die übrigen. Sie zeigte nicht, wie sehr sie verletzt sei, denn ihre arme Mutter hatte ohnehin genug zu erdulden.

Hätte Emmy nur geahnt, daß ihre Großmutter sich wirklich freute, sie wiederzusehen! Die kaltherzige, alte Frau empfand eine Art Dankbarkeit gegen das junge Geschöpf, das sie in einer schweren Krankheit so treu gepflegt hatte; aber sie verbarg dieses Gefühl sorgfältig, damit es nicht den Anschein hätte, als billige sie das Vorgehen von Emmys Vater, dieses rollenden Steins, der sich quer durch die Vereinigten Staaten gewälzt und immer noch keine bleibende Stätte gefunden hatte.

»Ich wollte, Karl wäre hier,« sagte Emmy am ersten Abend, » er würde sich vielleicht freuen, mich wiederzusehen.«

»Thue ich es nicht, mein Liebling?« fragte Frau Karoline vorwurfsvoll. »Aber die Sorgen, die auf mir lasten, lassen die Freude nicht mehr so hell nach außen scheinen. – Bist du nicht erstaunt, Emmy, daß Karl das Colby-Collegium schon jetzt verlassen darf, um auf die Hochschule zu gehen?«

»Ich habe es nicht anders erwartet,« erwiderte Emmy, und ihr trüber Blick leuchtete auf. »Ich wußte, daß er sich darum bemühte, und daß er das durchsetzt, was er will.« Sie fühlte immer eine gewisse persönliche Genugthuung, wenn es Karl glückte; hatte sie ihm doch den ersten Anstoß dazu gegeben.

»Ich bin froh, daß er künftig in unserer Nähe sein wird; ich brauche jemand, auf den ich mich stützen kann,« sagte Frau Karoline so niedergeschlagen, daß es Emmy zu Herzen ging, doch erwiderte sie nur leichthin: »Stütze dich auf mich, Mutter, ich werde für dich sorgen! Herr Palmer beabsichtigt, eine höhere Schule in Quinnebasset zu gründen, falls ich ihm meinen Beistand bei dem Unternehmen verspreche. Wie würde dir das gefallen?«

»Aber wird Herr Palmer auch die nötige Ausdauer zu solchem Werk haben? Wenn es ihm nun mißglückt?«

»Für das Glücken werde ich sorgen!« sagte Emmy stolz.

»Du baust zu fest auf deinen Erfolg, mein liebes Kind!« entgegnete die Mutter, aber dennoch lag ein Lächeln der Bewunderung auf ihren abgehärmten Zügen, als sie ihre mutige, kleine Tochter küßte.


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