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Elftes Kapitel.
Allerlei Trübsal.

»Nun, wie steht's, mein kleines Fräulein?« fragte Dr. Prescott, als Emmy ihn morgens begrüßte. »Wie hat sich unsere Kranke seit gestern befunden – aber Sie haben sich wohl nicht genau genug um sie bekümmert, um mir darüber Auskunft zu geben?«

Emmy lächelte dazu; der leise Spott berührte sie nicht mehr, seitdem sie wußte, daß der Arzt sie für eine »vortreffliche kleine Pflegerin« hielt.

»Großmama war schrecklich – ich meine nur, etwas verdrießlich, Herr Doktor, aber Frau Hackett meint, das sei ein besonders gutes Zeichen.«

»So? das freut mich zu hören.«

»In der Nacht war sie übrigens sehr munter und hatte einige sehr sonderbare Einfälle.«

»Schien sie Ihnen etwas verwirrt zu sein?«

Emmy schlug sich vor die Stirn. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht, aber natürlich war sie nicht ganz bei Sinnen. Sie machte mir nämlich ein Geschenk von fünf Dollars, und das war doch sehr unnatürlich.«

Der Doktor rieb sich seine lange Nase und lächelte über das treffende Bild, welches die Enkelin ganz unbewußt von der alten Frau entworfen hatte.

»Wenn sie Ihnen ein Geschenk macht,« sagte er höchlich belustigt, »so thut sie etwas sehr Vernünftiges, denn Sie haben es reichlich verdient. Halten Sie nur alles recht fest, was sie Ihnen giebt.«

»Aber doch nicht, wenn sie geisteskrank ist, Herr Doktor,« entgegnete das junge Mädchen unruhig; »es wäre doch unredlich, davon Nutzen zu ziehen.«

»Sehr feinfühlig!« dachte der Arzt, dessen Achtung für Emmy in beständigem Wachsen begriffen war. »Ich nenne es nicht Geisteskrankheit, mein Kind,« sagte er laut, »sondern fieberhafte Erregung und Nervenüberreizung.«

»Wenn nur der Großpapa erst wieder da wäre!« seufzte Emmy aus tiefstem Herzen; »ich weiß mir manchmal gar nicht zu helfen, wenn die Großmutter so seltsame Wünsche äußert.«

»Wann erwarten Sie ihn zurück?«

»Er kommt mit Herrn Willard, den Tag wissen wir nicht genau.«

Der Arzt bürstete eifrig an seinem Hut und sagte, während er Emmy einen scharfen Blick zuwarf: »Herr Willard ist bereits gestern abend angekommen.«

Das junge Mädchen wurde blaß. »O, Dr. Prescott,« rief sie angstvoll, »was ist aus dem Großpapa geworden? Wissen Sie nichts von ihm?«

»Er ist in Cambridge bei seinem Sohn; seine Lunge scheint nicht ganz in Ordnung zu sein.«

»Gewiß hat er sich erkältet,« sagte Emmy betrübt; »wenn ich ihn nicht daran erinnerte, vergaß er stets, sein Halstuch umzubinden. Vielleicht ist es nur einer seiner heftigen Schnupfenanfälle,« setzte sie hinzu, indem sie eine sorglose Miene anzunehmen suchte.

»Wir wollen es hoffen,« erwiderte der Arzt sehr erleichtert; er hatte einen leidenschaftlichen Ausbruch befürchtet.

Heute abend schienen Frau Howes Gedanken verwirrter, denn je; sie verlangte wieder nach ihrem Juwelenkasten und breitete alle ihre Schätze vor sich auf dem Bette aus. Dann erzählte sie heitere Geschichtchen aus dem munteren Leben, das sie in alter Zeit geführt, ehe sie sich von der Welt zurückgezogen hatte. Am nächsten Morgen war die Erregung gewichen, und als die Enkelin ihr das Frühstück brachte, sprach die Großmutter ihre große Besorgnis wegen der verzögerten Rückkehr ihres Mannes aus. Emmy, der das eigne Herz schwer und beklommen war, küßte die alte Frau mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit und suchte sie zu beruhigen, wagte es aber nicht, ihr die unbestimmte Nachricht von seiner Erkrankung mitzuteilen.

»Sieh, Kind,« sagte Frau Howe in bekümmertem Ton, »mir wird nicht eher wieder ruhig und behaglich zu Mute sein, als bis ich tröstlichen Bescheid – über meine Wertpapiere habe.« Da wandte sich Emmy erkältet und voll Widerwillen von der Kranken ab.

Am Vormittag erschien Lena Giddings' breite Gestalt in der Thür. »Bitte, komm mit in den Stall, dort ist es nicht kälter, als in der Speisekammer,« sagte Emmy eilig. Die jungen Mädchen waren an solchen Empfang schon gewöhnt, denn Emmy kannte jetzt keine höflichen Rücksichten; Lena folgte ihr, als ob das ganz selbstverständlich sei, und half ihr sogar einen Eimer für die Kuh in den Stall tragen. Dann setzten sich beide bequem auf das duftende Heu, und Emmy erzählte kurz von Großpapas Krankheit und dem wechselnden Befinden der Großmutter.

»Arme Kleine! so viele Sorgen! Miß Lightbody hat recht, wenn sie sagt, daß Menschen von heiterer Gemütsart oft ganz besonders heimgesucht würden,« sagte Lena teilnahmsvoll, »aber:

Wenn Kummer nie dich hätt' betroffen,
Wenn jeder Wunsch erfüllt dir wär',
Wo blieb' dein Glauben, wo dein Hoffen?
Dein Leben wär' an Inhalt leer!«

»Das mag schon wahr sein,« erwiderte Emmy etwas zerstreut, »aber denke nur, unsere Bella, die gute, alte Kuh, ist krank.«

»O!« sagte Lena, doch schien dieser Gegenstand sie nicht sehr zu fesseln; ihre Gedanken hatten einen höheren Flug genommen. – Die beiden Mädchen bildeten einen seltsamen Gegensatz; Emmy mit ihrer leichten, anmutigen Gestalt und dem feinen Gesichtchen hätte eher für eine poetische Natur gelten können, als die übergroße Lena, deren Backen denen eines Posaunenengels auf einem Grabdenkmal glichen. Dennoch hatte sie wirklich eine poetische Ader in sich.

»O Emmy, wäre ich doch schön wie Helena!« seufzte sie.

»Wozu denn? hast du einen besonderen Grund, dies zu wünschen?«

»Ich will nachmittag nach Poonosac fahren, um mich photographieren zu lassen,« versetzte Lena mit einem schmerzlichen Zittern ihrer Stimme, »und ich schäme mich, dir zu gestehen, daß ich – – zweiunddreißig Zoll im Umfang habe.«

»Das thut nichts, das Bild kann unmittelbar unter dem Kinn aufhören.«

»Das wohl!« seufzte Lena, »aber meine Sommersprossen!«

»Deine Haut ist eigentlich ganz hübsch, Lena – wäre nur nicht dieses Netz von braunen Punkten darüber! Es erinnert mich an den Kattun-Überzug auf den Staatsmöbeln. Aber der Photograph kann sie übermalen! Und dann kräusele dein Haar besser; du hast deinen Tafelstein nicht ordentlich heiß gemacht, sonst müßten die Löckchen besser sitzen.«

»Besten Dank für deinen Rat, liebste Emmy; du bist eine wahre Freundin,« sagte Lena, und ihr breites Vollmondgesicht strahlte vor aufrichtiger Liebe. »Ach warum ist mein Dasein an solche erbärmliche Umgebung gekettet – immer Heringe und Seife, Sirup und Rosinen! Es zieht den Geist herab und macht mich so gewöhnlich!«

»Das ist nicht wahr, Lena; du bist in deiner Art, zu denken, nicht gewöhnlich, und drückst dich sehr gut aus!«

»Ach, Emmy, ich bin keine so gut angelegte Natur wie du!«

»Viel Thränen wein' ich alle Tage,
Mein Herz durchzieht die stete Klage:
Vergebens, ach, hast du gelebt!«

»Höre, Lena, solche Stimmungen kommen manchmal aus dem Magen!«

Die andere errötete schuldbewußt; ganz im Geheimen hatte sie eine Hungerkur begonnen, um sich schlanker zu machen, und heute erst einen Zwieback gegessen.

»Du solltest für eine Weile alles Denken und Grübeln unterlassen, das würde sicher sehr heilsam für dich sein,« fuhr Emmy sehr weise fort.

»O Liebe, das verstehst du wirklich nicht! Lesen, Schreiben und Nachdenken – das ist der Inbegriff meines Lebens. Dies und die Briefe meiner Freundin Gracia Morris, die ich nur einmal im Leben sah und dennoch …«

Aber hier erschien Esther an der Hinterthür und klingelte. Emmy sprang auf und flog ins Haus, ohne das Ende von Lenas vertrauensvoller Mitteilung abzuwarten. Arme Lena! sie hatte solch ein Bedürfnis, sich gegen eine teilnehmende Seele auszusprechen! –

»Emmy, Emmy, zuweilen thut dir's eine Schnecke an Schnelligkeit zuvor!« sagte Frau Howe tiefgekränkt. »Laufe schnell zu Jonathan Page, er soll kommen und nach der Bella sehen.«

»O bitte, lieber nicht, Großmama, er hat so wenig Verstand!«

Aber das ließ die alte Dame nicht gelten; die Behandlung kranker Kühe war, nach ihrer Ansicht, eine besondere Gabe, die mit dem Verstande nichts zu thun hatte.

Meister Page erschien; als er aber seine Anstalten in der Küche traf, sahen Esther und Emmy einander angstvoll an, denn sie hegten wenig Vertrauen zu der Hexenbrühe, die auf dem Herde brodelte und abscheulich roch.

»O bitte, Herr Page, geben Sie der alten Bella das Zeug nicht ein, sie ist schon ohne das so krank!« bat Emmy. »Lassen Sie sie ruhig sterben!«

»Das geht nicht an!« sagte der Quacksalber und schwenkte mit wichtigem Ernst seinen eisernen Löffel. »Es muß den Tieren bis zu ihrem letzten Atemzuge etwas eingegeben werden. Sie können mir schon einige Erfahrung zutrauen, Fräulein, denn ich habe bei der letzten Seuche fünf eigene Kühe verloren.«

Vielleicht trug Bellas Krankheit von Anfang an den Keim des Todes in sich; jedenfalls half ihr der Trank nicht, und am nächsten Morgen berichtete Jonathan Page mit grimmigen Lächeln, daß die Kuh eben ihren letzten Atemzug ausgehaucht habe. Emmy weinte ihr einige Thränen nach; sie flossen jetzt nur zu leicht aus ihren überwachten Augen. Ach, es gab nur noch Kummer und Herzeleid! Ein Brief von Onkel Stephan Howe, der heute eintraf, besagte, daß sein Vater an einer ernsten Lungen-Entzündung erkrankt und noch nicht außer Gefahr sei.


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