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Viertes Kapitel.
Unterhaltungen auf der Schiefertafel.

»Ich muß Ihnen etwas bekennen, Frau Fogg: ich bin halb verhungert! Großmama starrt mich bei Tische so erstaunt an, daß ich mich meines gesunden Appetites schäme; sie selbst ißt nur wie ein Sperling – aus Sparsamkeit, glaube ich. So faßte ich heute einen verzweifelten Entschluß und lief nach dem Essen spornstreichs in den Schmutz hinaus, um mir irgendwo etwas sehr Stärkendes, Austern oder Caviar, zu kaufen und meinen sinkenden Kräften aufzuhelfen. Ich band einen dichten Schleier um, und da ich hier ganz fremd bin, glaubte ich, niemand könne ahnen, welcher Familie ich angehöre. In einer Ladenthür stand ein einfältig aussehender Mann, den ich bat, mir den Weg nach einem »Restaurant« zu zeigen. Er sah mich eine Weile ganz verblüfft an und fragte dann, ob ich das Unterdorf meine; den Ausdruck »Restaurant« schien er noch nie gehört zu haben. Ich verbiß mit Mühe das Lachen und wollte weiter gehen, als er mich zurückhielt. »Sind Sie nicht die Tochter von Friedrich Howe aus Boston?« fragte er, indem er mir derb die Hand schüttelte; »meiner Treu, die kleine Emmy! Wie geht es Ihren Eltern? kommt Ihr Vater nicht bald wieder 'mal nach Quinnebasset? Sie haben ihn gewiß von mir reden hören.«

Ich entfernte mich eiligst, denn ich wollte nicht gern einen Bekannten merken lassen, daß ich hungrig sei. Es hätte wohl auch nichts genützt, noch weiter nach Austern zu fragen; ich wollte mich schon mit Schiffszwieback begnügen, trat in einen Laden und fragte danach. Ein halbes Dutzend junger Leute, die müßig umherstanden, stürzte dienstbeflissen herbei, um meine Wünsche zu erfüllen. »Sie sind die Großtochter des Kapitän Howe, nicht wahr?« fragte einer, »es freut mich, Sie hier zu sehen; bitte, beehren Sie uns recht bald wieder!« Ärgerlich wollte ich aus dem Laden schlüpfen, als eine alte Dame mit hervorstehenden Augen mir den Weg verlegte und mich bei den Schultern packte. »Dies ist natürlich die kleine Howe, Friedrichs Tochter! welch ein glücklicher Zufall, daß ich nicht rechts abbog! (Ich fand den Zufall gar nicht so glücklich!) Ich bin mit deinem Vater in die Schule gegangen und habe ihn später auf deine Mutter aufmerksam gemacht, sonst hätte er nie an sie gedacht. Besuche mich einmal, mein Kind, mein Name ist O'Neil.«

»Was sagen Sie zu diesen Erlebnissen, Frau Fogg? Ich bildete mir ein, hier völlig fremd zu sein, und nun scheint es, als wäre ich bekannt wie ein bunter Hund.«

* * *

»Seit der langweilige Regen aufgehört hat, gefällt es mir in Quinnebasset viel besser, es muß hier sogar reizend sein, wenn erst alles grün ist. Lizzie sagt, es gäbe hier viele lauschige Plätzchen, schattige Heckengänge und weite Aussichten; wie freue ich mich darauf! Unsere Schule liegt sehr hübsch, und Miß Lightbody gefällt mir, trotz ihrer blauen Brille, sehr gut; sie hat so feine Manieren und ist gar nicht streng. Es machte mich ganz verlegen, daß ich die Erste in der Klasse wurde; es kam mir so anmaßend vor, da ich die Jüngste bin. Aber was kann ich dafür, daß ich in Boston so gut gedrillt worden bin? Übrigens bin ich im Zeichnen sehr schwach; meine Blumen sehen immer aus wie Apfelklöße und mein Baumschlag wie gesträubtes Haar.

Die Mädchen gefallen mir, ich finde sie sehr nett. Ich kann nur keinen solchen Unterschied unter ihnen machen, wie Lizzie, die »unser Kränzchen« sorgfältig von den andern scheidet; in ihren Augen gehören nur fünf unbestritten zur »guten Gesellschaft«. Ich will sie Ihnen vorführen.

Virginia Curtis ist schwarzäugig, verständig und wohlerzogen; niemals sagt oder thut sie etwas Unpassendes. Ich bin neugierig, ob dies gesetzte Wesen nie langweilig werden wird.

Katie Hackett ist voll guter Einfälle und lustiger Scherze. Sie gefällt mir ausnehmend, doch sagt Lizzie, ich solle mich mit Reden vor ihr in acht nehmen, denn sie sei eine Erzklätscherin.

Maggie Gelden sieht blaß und lieblich aus; ich muß bei ihrem Anblick an ein junges Mädchen in Boston denken, das im vorigen Frühjahr starb und mit Lilien in den Händen im Sarge lag.

Meine süße Lizzie kennen Sie, sie kommt ja zum Glück öfter her. Sie ist die beste von allen, und ich liebte sie vom ersten Augenblicke an. Ihre Mutter lächelt, wenn sie mich zu ihren Füßen sitzen und bewundernd zu ihr aufschauen sieht, aber sie sollte es doch schon gewohnt sein, daß alle Welt Lizzie liebt und verehrt. Die Königin unseres Kränzchens ist Dora Topliff, aber Lizzie sagt, sie sei sehr unliebenswürdig, und eigentlich könne niemand sie leiden. Und doch die erste unter uns – wie ist das zu begreifen? Dora ist soeben von New-York zurückgekehrt und soll sich einen großen Haufen falscher Haare mitgebracht haben; ich werde sie wohl bald kennen lernen.

Es berührt mich sehr unangenehm, daß ein junges Mädchen unseres Alters, Lena Giddings, ganz außerhalb unseres Kreises steht und an den Scherzen der andern keinen Teil hat. Sie ist freilich aus nicht sehr guter Familie, und ihre Mutter, eine Witwe, hat einen Krämerladen im Dorfe. Sie hat ein Gesicht voll Sommersprossen und eine sehr ungeschickte Gestalt, die einem gefüllten Mehlsacke gleicht. Es ist überhaupt nichts Hübsches an ihr, und dazu sieht sie immer so aus, als ob sie sich grenzenlos unbehaglich fühle. Aber wissen Sie, Frau Fogg, ich habe sie doch gern, denn einmal thut sie mir leid, und dann tröstet sie sich über die Vernachlässigung der andern dadurch, daß sie – Gedichte macht! Das kann doch nicht jede.«

* * *

»Ich habe die Königin unseres Kränzchens kennen gelernt, gestern abend kam Lizzie mit ihr her. Ich habe in Boston manche Töchter hochgestellter Männer gesehen, aber so stolz und großartig wie diese Dora Topliff war doch keine von ihnen. Ich hatte das Gefühl, als müßte ich für mein bescheidenes Dasein um Entschuldigung bitten, ich hätte wie eine kleine Maus unter den Stuhl kriechen mögen. Großpapa freilich empfand gar keine Scheu vor der feinen, jungen Dame, sondern machte seinen gewohnten Lärm am Kamine. »Freut mich, euch zu sehen, ihr Mädels!« murmelte er zwischen den Zähnen, denn er kaute gerade seinen Pfefferkuchen – ich glaube, er würde mit den Töchtern der Königin Viktoria auch nicht mehr Umstände machen. »Ist das nicht Deborah Topliff?« fuhr er fort, »wie sie gewachsen ist! Früher war sie solch ein elendes, kleines Ding!« Ich sah Dora zusammenzucken, offenbar liebt sie die ursprüngliche Form ihres Namens nicht; die Abkürzung kommt ihr wohl vornehmer vor.

Großmama dagegen war ganz zuckersüße Freundlichkeit; sie hatte sich sogar ihre gute Haube aufgesetzt, das gelbe Ding, womit sie mir immer vorkommt wie eine Butterblume auf einem kurzen Stengel. Sicher that sie das alles nur, weil die Topliffs reich sind, daher wollte ich es ihr nicht gleichthun, überwand meine Schüchternheit und redete ganz keck mit dem stolzen Fräulein. Großpapa lobte mich nachher deshalb. »Du brauchst dich vor diesen Topliffs nicht zu beugen,« sagte er. »In ihrer Familie gab es, einige Jahrzehnte rückwärts, einen Schurken, von dem das Geld herstammt. Ja, ja, mir können sie nichts weiß machen, ich kenne sie alle!«

* * *


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