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Einundzwanzigstes Kapitel.
Eine Lüge.

Die höhere Schule in Quinnebasset gedieh und wuchs, dank der unendlichen Mühe, welche Emmy sich gab, um die Lücken auszufüllen, welche die Oberflächlichkeit des Direktors überall bestehen ließ. Herr Palmer fand in dem allen nichts Besonderes; es fiel ihm auch nicht ein, daß seine junge Lehrerin die eigentliche Seele der Anstalt sei und vielleicht zu sehr überbürdet werden könne.

Die Stunden waren beendet; er lehnte sich in seiner Lieblingsstellung an das Pult, strich sich wohlgefällig das Kinn und meinte, zu Emmy gewendet: »Wir vollführen hier Wunderdinge. Wie denken Sie über das nächste Halbjahr?«

Emmy hatte die Hand bereits auf den Thürdrücker gelegt; sie vermied nach dem Schluß der Schule sonst jede Unterhaltung. »Ich habe diesem Teil des Missionswerkes einen besonderen Geschmack abgewonnen, und wenn Sie den Unterricht ferner übernehmen wollen, so bin ich bereit, Ihr bisheriges Gehalt zu verdoppeln,« fuhr Herr Palmer fort, der Emmys augenblickliche Verhältnisse jetzt sehr wohl kannte und wußte, daß sie ein so vorteilhaftes Anerbieten gar nicht zurückweisen könne. Sie hatte es zwar nicht vom Dache herab ausgerufen, aber doch auf andere Weise ihren lieben Nächsten klar gemacht, daß sie keineswegs ein Vermögen zu erwarten habe.

Sie sah ihn prüfend an, als sie neben ihm an der Thür stand. Die Diamantenknöpfchen, die er an der Brust und an den Händen trug, funkelten in hellem Glanz, und an seinem kleinen Finger strahlte ein kostbarer Brillantring. Wäre es nur ein Verlobungsring gewesen, dann hätte sie sich keinen Augenblick besonnen, »ja« zu sagen, aber wahrscheinlich war es keiner, und durfte sie dann noch länger an der Anstalt dieses Herrn unterrichten, ohne den Vorwurf zu verdienen, daß sie mit seinen Gefühlen ein leichtsinniges Spiel triebe?

Arme Emmy! sie quälte sich mit ganz überflüssigen Bedenken! Hätte sie doch gewußt, daß ihre falsche Freundin, Delicia Sanborn, sich schon als Herrn Palmers Verlobte betrachtete – freilich hielt sie sich noch ein Hinterthürchen offen, wie sie stets zu thun pflegte –, daß zu gleicher Zeit Dora Topliff die Überzeugung hegte, ihre Verlobung mit demselben Herrn sei nur eine Frage der Zeit, deren Lösung von ihr allein abhinge! Emmy hätte sich die schlaflose Nacht ersparen können, in der sie das Für und Wider erwog und sich endlich seufzend zur ferneren Mitwirkung entschloß, weil die bittere Not ihr keine andere Wahl ließ.

In Quinnebasset ging es in diesem Winter ungewöhnlich lebhaft zu; es gab Gesellschaften, Liebhabertheater, lebende Bilder, und bei allem spielte der Herr Direktor die erste Rolle. Im Februar wollte der wohlthätige Verein »die emsigen Bienen« in einem Vergnügungslokal einen großen Bazar veranstalten, und man hatte Emmy gebeten, die Rolle einer Wahrsagerin dabei zu übernehmen.

»Ich habe meine Mitwirkung nur zugesagt, um nicht ungefällig zu erscheinen,« sagte sie, als sie sich eines Abends zwischen Frau Fogg und Karl setzte und einen Haufen Schulhefte vor sich hinlegte. »Eigentlich bin ich viel zu alt und stumpf für solche Scherze.«

»Du bist überarbeitet, Emmy; das kann ein Blinder sehen,« erwiderte Karl und blickte zornig auf den gewaltigen Stoß von Aufsätzen, welche durchzusehen und zu verbessern waren. »Ich werde dir helfen, ruhe dich einstweilen aus.«

Emmy warf ihm einen dankbaren Blick zu und überließ ihm willig die Hefte. »Was sollte ich wohl ohne dich beginnen, Karl? Du bist immer mein Helfer in der Not. Mein Schreibpult in der Schule bedarf dringend einer Ausbesserung; wenn du dich nicht darüber erbarmst, wird es wohl nie instand gesetzt werden.«

»Ich werde es besorgen,« versetzte der junge Rechtsgelehrte und zog die Stirn kraus, nicht aus Ärger über Emmy, sondern über ihren Direktor.

Das junge Mädchen lehnte sich in ihren Stuhl zurück und sah mit mattem Blick ins Feuer. Es war nicht nur körperliche Ermüdung, unter der sie litt, und die treue Esther sah oft mit Kummer die düstere Wolke, die sich über die sonst so klare, heitere Stirn legte. Ach, das Leben war so ernst, es brachte so schwierige Verwickelungen, und die arme, kleine Emmy hatte manchmal das Gefühl, als müßte sie sich ganz allein hindurchwinden, als hätte nicht einmal ihre Mutter die Kraft und Fähigkeit, ihr dabei zu helfen.

Frau Karoline war abends zu Frau Hackett gegangen, bei der Herr Palmer wohnte; sie wollte ihr die Nachtwache bei einem kranken Kinde abnehmen. Emmy zitterte heimlich davor, daß der junge Mann, trotz der Abwesenheit ihrer Mutter, hier erscheinen könnte und verfolgte mit stiller Angst die Zeiger der alten Uhr, die eben die neunte Stunde verkündete. Da ließ der wohlbekannte Schritt und das eigentümliche Klopfen sich hören, das stets diesen Gast anzeigte; Karl sprang sogleich auf und zog sich zurück, ohne auf Emmys flehenden Blick zu achten. Frau Fogg blieb zwar im Zimmer, aber in diesem Fall konnte die Taubstumme ihrer jungen Freundin wenig nützen. Herr Palmer trat ein, erstattete Bericht über Alice Hacketts Befinden und nahm, ohne darauf zu achten, daß Emmy ihn stehend empfing und gar nicht zum Sitzen nötigte, seinen gewohnten Platz auf dem Lehnstuhl ein.

»Haben Sie schon gehört,« begann er, »daß unsere gemeinsame Freundin Tryphosa nächstens einen Witwer mit drei Kindern heiraten wird?«

»Ist's möglich? der arme Isaak!«

»Die Hochzeit soll in aller Stille begangen werden, damit Isaak nichts davon erfährt.«

Emmy mußte lachen und schob noch einige Scheite Holz in den Kamin.

»Draußen ist es ein Wetter für Eisbären, aber hier innen ist es um so wärmer und behaglicher,« fuhr er fort. »Ihr Haus ist das gemütlichste im ganzen Ort.«

»Wahrscheinlich deshalb, weil es so altväterisch ist.«

»O nein, Fräulein Howe, sondern weil Sie darin walten.«

Emmy errötete wider Willen und trat ans Klavier. »Soll ich Ihnen etwas vorspielen?« fragte sie – Musik schien ihr noch leichter, als diese Unterhaltung zu zweien.

»Bitte, singen Sie mir das schottische Lied: ›Ich liebe dich, o Annie traut‹,« sagte Herr Palmer gefühlvoll, »es geht so zum Herzen.«

Emmy sang ein Lied nach dem andern, bis ihr die Stimme versagte, und spielte alles, was sie konnte. »Sind Sie noch nicht müde vom Hören?« fragte sie endlich in halber Verzweiflung.

»Ich könnte nie müde werden, Ihrer Stimme zu lauschen,« war seine Antwort.

Draußen tobte ein starker Sturm, und die Fenster klirrten immer heftiger unter seinen scharfen Stößen. Emmy schob den Vorhang zurück und sah hinaus. »Welch ein Wetter!« rief sie, »ich glaube, die Welt geht unter, und ich weiß nicht, wie Sie nach Hause kommen werden.«

Den Wink mußte der beharrliche Gast verstehen, und da in diesem Augenblick die alte Uhr elf schlug, so erhob er sich eilends und bat wegen seines späten Besuches um Entschuldigung. Emmy zündete ihm eine Laterne an, und er begab sich endlich auf den Rückweg.

Der Wind tobte furchtbar, als er das Haus verließ, aber das Wetter bekümmerte ihn weniger, als seine eigne Thorheit; denn wenn er auch ein Großstädter war, so kannte er den Klatsch kleiner Orte doch aus dem Grunde und wußte, welche Deutung die geschäftigen Zungen einem so langen Besuch in einer Familie, zu der ein junges Mädchen gehörte, unfehlbar geben würden. »Dummkopf, der ich war!« sagte er zu sich selbst, »was werden Dora und Delicia dazu sagen? Hoffentlich erfahren sie es nie!«

Während dieses Stoßseufzers wurde Herr Palmer plötzlich von einem rasenden Windstoß in die Höhe gehoben und wie ein Kreisel um und um gedreht. In demselben Augenblick vernahm man durch das Heulen des Sturmes ein entsetzliches Krachen: eine riesige alte Ulme, die in dem Garten des Herrn Topliff stand, war dem Orkan zum Opfer gefallen; auseinander geborsten, stürzte sie gerade auf den Weg des erschrockenen Wanderers. Von Schnee und Hagel geblendet und völlig atemlos, watete Herr Palmer knietief im Schnee; die Laterne war ausgegangen, sein Hut fortgeflogen; er konnte sich nur willenlos der entfesselten Naturgewalt unterwerfen und sich barhaupt vom Sturm nach Hause treiben lassen.

Glücklicherweise befand er sich im Besitz eines zweiten Hutes, den er am nächsten Morgen zum Gange nach der Schule aufsetzte. Im Vorübergehen sah er Dora Topliff, welche am Zaune stand und den Verlust ihres Lieblingsbaumes beklagte; er trat auf sie zu, um ihr seine Teilnahme auszudrücken.

»Beinahe hätten Sie, außer diesem alten Freunde, noch einen jüngeren, aber nicht weniger treuen, zu betrauern gehabt, mein Fräulein,« sagte er scherzend, »denn bei einem Haar hätte dieser stürzende König der Bäume mich unter seiner gewaltigen Krone begraben.«

»Waren Sie bei dem Unwetter noch so spät draußen?« fragte Dora.

Herr Palmer biß sich auf die Lippen; da hatte er durch seine eigne Unvorsichtigkeit gerade das zur Sprache gebracht, was er gern sorgfältig verborgen hätte. »Es war nicht so spät!« sagte er leichthin, »Herrn Willards Unterhaltung hielt mich nicht allzulange fest.«

»Herr Willard?« versetzte Dora sehr erstaunt, »aber der wohnt ja am andern Ende der Stadt – wie konnten Sie von dem hier vorüber kommen?«

Wieder sah sich der gewandte Weltmann in seiner eignen Falle gefangen. »Ich liebe es, dem Sturm kühn die Stirn zu bieten,« erwiderte er lachend, »daher unternahm ich noch einen kleinen Spaziergang. Aber ich muß sagen, daß ich froh war, als ich um zehn Uhr unter Dach und Fach war; das Unwetter war heftiger, als ich gedacht hatte.«

Dora schüttelte in neuem Erstaunen das Haupt. »Ich erwachte von dem Krachen des brechenden Baumes und hörte gleich darauf die Mitternachtsstunde schlagen. Ahnten Sie den Sturz schon zwei Stunden vorher?«

»Wahrhaftig, Sie sind zum Groß-Inquisitor geboren, Fräulein Topliff!« rief der junge Mann mit etwas erkünstelter Heiterkeit. »Doch da schlägt es acht Uhr, und ich muß mich Ihnen leider empfehlen, um in die Schule zu eilen.« Und mit einem höflichen Schwenken seines alten Hutes entfernte er sich schnell aus dem Bereich dieser ernsten, fragenden Augen, die ihm herzlich unbequem wurden. »Delicia ist doch viel harmloser und liebenswürdiger,« sagte er ärgerlich zu sich selbst, »sie würde mich nie so ausgeforscht, sondern mir gleich geglaubt haben.«

.

Dora freilich suchte der Sache auf den Grund zu kommen, und da ihr auf eine offene Anfrage Emmy die Antwort nicht schuldig bleiben konnte, so kam die Wahrheit bald an den Tag. Es war eine bittere Erkenntnis für das stolze Mädchen, daß der Mann, der alle jungen Leute ihrer Bekanntschaft an Geist und Gewandtheit so weit zu überragen schien, dessen Huldigung ihr so sehr geschmeichelt hatte, sich als unwahr und doppelzüngig erwies. Sie haßte Lüge und Verstellung so sehr und fühlte sich tief gekränkt. Um ihn zu bestrafen, wollte sie seine Aufforderung, sie auf den Bazar zu begleiten, rundweg ablehnen – aber sie kam gar nicht in die Versuchung, denn er forderte nicht sie, sondern Delicia dazu auf.

Der Bazar erfüllte alle Gedanken und setzte alle Hände in Thätigkeit; manchen Abend brachten Lizzie und Emmy im oberen Zimmer zu, um den Zigeuner-Anzug anzufertigen, wobei ihr Eifer das fehlende Kaminfeuer ersetzen mußte; denn ein Feuer im Schlafzimmer anzuzünden, hätte die Großmutter für eine himmelschreiende Verschwendung erklärt.

»Nun, wie gefalle ich euch?« fragte Emmy, als sie sich der Familie in ihrer phantastischen Tracht als Wahrsagerin vorstellte. Karl ließ sein Buch, ihre Mutter die Feder und Großmama ihr Strickzeug fallen, als sie plötzlich in blendendem Glanze vor ihnen stand; nur der Großpapa schnarchte ruhig fort, ihn quälte ein arger Schnupfen, und er war eben in seinem Lehnstuhl ein wenig eingenickt.

»Wunder – wunder – wundervoll!« sagte Dina, während die alte Frau Howe ihre äußerste Mißbilligung aussprach, daß ein anständiges Mädchen sich in solchem Firlefanz anderen Leuten zeigen wolle. Emmy trug ein rotseidenes Mieder mit einem Jäckchen von goldgesticktem schwarzem Sammet. Ein grüner Sammetrock reichte nur wenig über die Kniee, unter demselben guckten türkische Beinkleider von scharlachroter Seide und goldig schimmernde Pantöffelchen hervor. Um den Leib war eine schmale Schärpe befestigt, in der ein reich verzierter Dolch steckte; in den schwarzen Haaren leuchteten Sterne von blitzenden Steinen, und die weißen Arme, so wie der schlanke Hals waren mit kostbaren Gehängen, Ketten und Armbändern umwunden. Die dunklen, glänzenden Augen und der frische, rosige Hauch auf dem feinen Gesicht vollendeten das reizende Bild, und zum erstenmal in ihrem Leben sah Emmy wirklich schön aus.

»Bist du die Königin von Saba?« rief Karl erstaunt, und es hätte nicht viel gefehlt, daß er bewundernd das Knie vor ihr gebeugt hätte.

»Nein, ich stelle keine bestimmte Persönlichkeit vor, und das ist ein Fehler. Wir haben den Anzug aus dem hergestellt, was wir gerade hatten, und Lizzie hat alle Kostbarkeiten darüber ausgestreut, deren sie habhaft werden konnte.«

»Das Ganze macht keinen üblen Eindruck,« bemerkte Frau Karoline, indem sie ihre Bewunderung weise mäßigte, »nur ist kein rechter Stil darin, der Anzug ist weder ›historisch‹ noch ›ethnographisch‹ richtig, und das werden die Gebildeteren unter den Zuschauern bald herausfinden, Herr Palmer vor allen.«

»Liebe Mutter, was Herr Palmer davon denkt, ist mir wirklich ganz gleichgültig – ein Mensch, der nicht einmal den Mut hat, die Wahrheit zu sagen!«

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»Du bist zu hart gegen ihn, Emmy. Er schämte sich nur seines späten Besuches, weil er dadurch einen Verstoß gegen die gute Sitte begangen hatte.«

»Darum brauchte er doch nicht zu lügen – das thut kein rechter Mann, nicht wahr, Karl?«

»Laß doch in solcher unbedeutenden Sache Gnade für Recht ergehen, Emmy,« erwiderte Karl, der zum erstenmal für Herrn Palmer eintrat; »es wäre für keinen erfreulich gewesen, Dora Rede zu stehen, während sie wie eine Rachegöttin mit dem zweischneidigen Schwert vor ihm stand.«

»Und doch hättest du dich nie zu einer so kleinlichen Unwahrheit erniedrigt, Karl Preston! Verteidige jenen Schwächling nicht, ich hege keinen Funken Achtung mehr für ihn!« sagte Emmy mit großer Würde, während sie mit kräftigem Schwunge ihren Mantel umnahm.

»Ihr jungen Mädchen seid immer gleich so unbarmherzig, ihr wollt nie den Umständen Rechnung tragen,« sagte Frau Karoline mit einem tiefen Seufzer. Diese offene Abneigung ihrer Tochter drohte ihren Lieblingsplan rauh zu zerstören; denn natürlich konnte sie nicht daran denken, Emmy zu einer Verbindung zu zwingen, die ihr verhaßt war. Bisher hatte jene geschwiegen, da sie Herrn Palmer, als ihrem Vorgesetzten, Rücksicht schuldig war, und ihre Mutter hatte daraus geschlossen, daß sie ihm nicht abgeneigt sei.

»Wahrhaftig, Emmy, du hast deinen Kopf für dich,« sagte Karl mit einem sehr vergnügten Lächeln. »Ich dachte, du bewundertest diesen jungen Mann gerade so wie alle anderen jungen Mädchen. Wollen wir gehen?«

»Ich versprach, auf Will und Virginia zu warten.« Karl sagte nichts weiter, machte sich aber auf und ging allein fort. Frau Fogg sah ihm verwundert nach – was war denn plötzlich in ihn gefahren? Eben lachte er noch über das ganze Gesicht, und auf einmal war seine Stirn mit dunklen Wolken umzogen – was hatte das zu bedeuten?


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