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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
In der Grotte der Sibylle.

In einer Ecke des großen, hallenartigen Raumes, in welchem der Bazar stattfand, war aus bemalter Leinwand ein Zelt hergestellt, über dem eine Tafel mit der Inschrift prangte: »Grotte der Sibylle.« Am Eingang saß eine grimmige, alte Hexe, welche das Geld einstrich und halb verständliche Worte unter ihrer überhängenden Kapuze murmelte. Natürlich war es Lena – wer sonst hätte die häßliche Alte darstellen sollen? »Du siehst genau aus, wie eine der grauen Schicksalsschwestern aus dem Macbeth,« sagte Dora zu ihr; »deine Gestalt paßt vortrefflich dazu.« Es sollte eine Anerkennung sein, und Lena versuchte, dazu zu lächeln; es wußte ja niemand, außer Emmy, wie großer Selbstüberwindung das arme Mädchen bedurfte, um mit Gleichmut die Last ihres unschönen Körpers zu ertragen, der zu ihrer glühenden Seele so wenig paßte.

Jonathan Page war der erste, der sein Glück bei der Sibylle versuchte, und als er etwas verlegen eintrat, fingen Emmys Augen an, vor Schelmerei und Lust an ihrer Rolle zu funkeln. Sie hatte nur wenig Zeit gehabt, sich vorzubereiten; nur eine Menge geheimnisvoll klingender Verse hatte sie sich abgeschrieben und flüchtig in ein Buch über »Chiromantie« hineingeblickt. »Diese kleinen Erhöhungen in der Handfläche nennt man Berge, dies ist die Lebenslinie, diese bedeutet Glück, diese eine Heirat u. s. w.« wiederholte sie eben, als Herr Page ihr Studium vorzeitig unterbrach. »Es thut nichts, ich werde ein ungeheuer weises Gesicht machen,« dachte sie und schaute den beschränkten Kurpfuscher mit so durchdringendem Blicke an und sprach so wundersame Dinge zu ihm, daß jenem ein Schauer nach dem andern über den Rücken lief. Er wollte keinem sagen, was ihm in der Grotte der Sibylle verkündet worden war, aber er sah ganz ernsthaft und betreten aus und entsagte von diesem Tage an der Hexenbrühe, durch die er so manche unschuldige Kuh zum Tode befördert hatte.

»Soll ich hineingehen?« fragte Will Curtis, der mit Karl vor dem Zelte stand.

»Gehen Sie nur, junger Mann,« sagte Herr Page eifrig, »aber nehmen Sie sich in acht, die Augen da drinnen sprühen wirkliche Funken.«

Will war einer der angesehensten und bedeutendsten unter den jungen Leuten von Quinnebasset, es fehlte ihm nur an Entschiedenheit und Thatkraft. Emmy mochte ihn sehr gern, aber sie hätte längst gewünscht, ihm einmal die Wahrheit zu sagen, und dazu war jetzt die beste Gelegenheit.

»Wehe dem Mattherzigen!« sagte sie in feierlichem Ton, als läse sie die Worte von seiner Hand ab. »Die Linien sind gut, aber verschwommen, die Berge treten nicht deutlich hervor. Ihr hängt zu fest an der Heimat, junger Freund, Ihr scheut jedes Wagnis. Aber bedenkt:

Zweifel sind Verräter,
Sie reißen den Gewinn uns aus der Hand,
Weil wir zu sehr vor dem Verlust uns fürchten.«

»Sie kennt mich in- und auswendig,« dachte Will, ein wenig gedemütigt; denn er schätzte die Meinung des hübschen Mädchens von ihm mehr, als er sagen konnte. »Willst du mir nicht einen guten Rat geben, weise Sibylle?« fragte er; »ich will mich gern umwandeln, wie es dir gefällig ist.«

»Du sollst kein andrer werden, als du bist,
Gebrauch' die Kräfte nur, die Gott dir gab«

citierte Emmy so passend, daß es klang, als spräche sie aus ihrer eignen Seele heraus.

»Gut gesagt! aber wie fang' ich's an?«

»Wählt Euch einen Beruf, junger Freund:

Wer kein bestimmtes Ziel im Auge hat,
Dem dünkt das ganze Leben öd' und leer.«

Will zuckte leise zusammen; die Worte trafen mitten ins Schwarze. »Ich will darüber nachdenken – aber nun sage mir noch etwas Gutes voraus, du Königin der Zigeuner.«

Emmy sah wieder in seine Hand. »Diese Linie verkündet Glück in der Liebe und eine reizende Frau.«

»Wie sieht sie aus?«

»Als ob:

Der Blume Duft wär' ihre Speise
Und Paradiesestau ihr Trank.«

»Ganz gut, aber Gestalt und Gesicht?«

»Sie ist klein, zart und anmutig,« sagte Emmy entzückt, als ob sie ein unsichtbares Wesen sähe – sie dachte an Maggie Selden. »Und ebenso gut wie schön, viel zu gut für Euch, mein junger Freund.«

»Schwarze Augen und Haare?« fragte Will mit einem vielsagenden Blick auf die Sibylle.

»Nein, sie hat Haare wie gesponnenes Gold, und Augen, in denen sich der Himmel spiegelt, ein Wesen wie ein Engel.«

»Ich danke für Ihre Engel, sie passen nicht für einen gewöhnlichen Sterblichen wie mich!« versetzte Will ungestüm und sichtlich ärgerlich und wandte sich, um zu gehen.

»Nun, was hat sie dir gesagt?« fragte Karl, als er seinen Freund mit etwas gerötetem Gesicht heraustreten sah.

»Sie hat mich schlecht genug behandelt! Geh selbst und sieh, ob du besser fortkommst,« entgegnete Will, heimlich besorgt, daß es wirklich der Fall sein könnte.

Karl zögerte noch, und als er nach einer Weile die Grotte betrat, hatte Emmy schon so vielen Menschen ihr Schicksal verkündet, daß sie sich in einem Zustande höchster Erregung befand und beinahe selbst an eine Art Hellseherei glaubte. Karl näherte sich ihr, blieb aber überrascht stehen, denn ihr leuchtender Blick hatte fast etwas Übernatürliches.

»Gieb mir deine Hand,« sagte sie mit fremdklingender Stimme, und ihre Augen begegneten den seinen, als kennten sie ihn nicht. »Eine gute Hand, klare, kräftige Linien, Berg und Thal deutlich ausgeprägt. Hast du keine Fragen an das Schicksal zu stellen, junger Mann?«

»Nein, ich möchte nur hören.«

»Du bezweifelst meine Macht, aber die Zukunft liegt klar vor meinem Blick. Ich sehe deine Laufbahn vor mir wie ein aufgeschlagenes Buch – ich sehe dich deinen ersten Prozeß führen.«

»Wo?«

»Im Gerichtssaal zu Quinnebasset, im Angesicht der zwölf Geschworenen. Du sprichst mit den Worten des Dichters:

»Ihr werten Herrn, mit Freuden steh' ich hier,
Und bitt' euch, euer Ohr leiht gütig mir.«

Karl zuckte die Achseln. »Kannst du mir nicht einen besseren Platz, als das Nest hier, anweisen, da du einmal dabei bist, schöne Sibylle?«

»Treibe keinen Scherz mit ernsten Dingen, allzu kühner Jüngling. Meine Aussprüche dürfen nicht angezweifelt werden.«

»Verzeihung! Werde ich den Prozeß gewinnen?«

»Ja.«

»Andere auch?«

»Ja, der Erfolg wird dich begleiten, doch hüte dich, stolz zu werden, denn das ziemt der Jugend nicht.«

»Es überrascht mich, weise Sibylle, daß du mir einen Erfolg voraussagst. Ein junges Mädchen meiner Bekanntschaft hat mich so beständig geschulmeistert, bis auch nicht ein gutes Haar an mir blieb. Sie nannte mich langsam, schwerfällig – sie erwartet gar nichts von mir, diese kleine Emmy.«

»Sprich nicht leichtfertig, junger Mann. Du bist langsam, aber der Vogel, der am wenigsten mit den Flügeln schlägt, fliegt am weitesten.«

»Ei fürwahr! Solche angenehme Dinge hat mir Emmy Howe nie gesagt!«

»Geh – verlaß mich!« sagte die Sibylle errötend und winkte ihm mit der Hand, »ich habe schon zu lange mit dir gesprochen.«

So gern Karl diese Unterhaltung auch noch fortgesetzt hätte, so sah er sich doch genötigt, zu gehen, denn schon schob sich Miß O'Neil herein. Sie wollte durchaus sehen, was an Emmy heute so Besonderes sei, daß alle Welt ganz begeistert davon war.

»Der Tausend! Kind, wie siehst du aus!« rief sie, »hat eine christliche Frau und Mutter dir wirklich erlaubt …«

»Eure Hand, gute Dame!«

»Da ist sie. Früher war sie sehr weiß und zart, und man rühmte …«

»Lebt sie nur dazu, um mit leerem Wort
Die Welt zu füllen?«

sagte Emmy in ernstem Ton.

»Was sagst du da? ich verstehe dich nicht …«

»Und nähmt Ihr auch das Meer zu Hilfe, nie
Geläng's, die Seifenblase voll zu gießen.«

»Natürlich nicht! wer wird auch solchen Unsinn versuchen?«

Als Emmy sah, daß die alte Dame durch ihre geheimnisvollen Reden ganz verblüfft wurde, schüttete sie ihren ganzen Satz von Citaten, guten und schlechten, passenden und unpassenden, über sie aus und weidete sich an ihrer steigenden Verwirrung. Um sie zu versöhnen, verhieß sie ihr zuletzt liebe Gäste und einen Sammetmantel – das war wenigstens verständlich.

»Das ist ja hier eine wahre Heidenwirtschaft!« schalt Miß O'Neil, als sie mit Jonathan Page die Halle verließ. »Einen richtigen Dolch hatte sie im Gürtel stecken, und ihr thörichtes Geschwätz ging mir wirklich an die Nerven.« –

»Wo haben Sie so lange gesteckt, Herr Palmer?« sagte Delicia Sanborn mit holdem Lächeln zu diesem jungen Mann, der sich zu ihrem Ärger ganz von ihr getrennt und ihrer Nebenbuhlerin Dora gewidmet hatte – Lizzie lächelte immer am bezauberndsten, wenn sie sich im stillen gekränkt fühlte.

»Ich bin einsam umhergestreift,« gab jener ebenso wahrheitsgetreu zur Antwort, »denn Sie waren so von Verehrern umgeben, daß ich nicht an Sie herankonnte. Wollen Sie nicht in die Grotte treten, um sich Ihre Zukunft deuten zu lassen?«

»Ich danke, ich war eben drin, aber ich rate Ihnen dringend, Ihr Glück zu versuchen,« erwiderte Delicia, und mit einem noch lieblicheren Lächeln verschwand sie wieder in der Menge. Doch ging sie nicht weit; man konnte vom Ankleidezimmer aus bis hart an die Leinwand des Zeltes gelangen; dorthin schlich sie heimlich und verbarg sich hinter dem Vorhang, denn es verlangte sie, seine Unterhaltung mit Emmy zu belauschen, der Herr Palmer mitunter mehr Aufmerksamkeit bewies, als ihr lieb war.

Als der Direktor in die Grotte trat und Emmy wie eine Königin des Morgenlandes auf ihrem Stuhle thronen sah, vergaß er Delicia und Dora und beugte seine Kniee mit den Worten: »Erlaubt, erhabene Fürstin, Eurem ergebensten Diener, daß er sich Euch zu Füßen lege.«

»Stehen Sie auf, mein Herr,« erwiderte sie kühl, »das Knieen ist an diesem Hof nicht Sitte.«

»Nicht eher, als bis ich einen gütigeren Blick aus diesen Augen erhalten habe.

Ihr Sterne meiner Seele! tief hinab
Tauch' ich den Blick …«

In diesem Augenblick hob die Pförtnerin den Vorhang und ließ Dora Topliff herein – zerstreut, wie Lena immer war, hatte sie ganz vergessen, daß noch jemand darin war. »Ich störe wohl,« sagte Dora mit einem stolzen Blick auf den Knieenden und wollte sich zurückziehen.

»Als ob Sie jemals stören könnten!« versetzte Herr Palmer, indem er aufsprang. »Die Sibylle ist eine unumschränkte Herrscherin in ihrem Reich, sie befahl mir, mein Schicksal knieend anzuhören. Aber sobald ich meinen Spruch vernommen habe, weiche ich ehrerbietig dieser hohen Dame.«

Emmy ergriff die weiße, wohlgeformte Hand, die er ihr darbot und runzelte die Stirn. »Was soll ich aus solcher Hand heraus lesen?« sagte sie unwillig und warf einen strafenden Blick auf den jungen Mann. »Lauter unsichere, gekrümmte Linien, kein einziges festes, untrügliches Kennzeichen.«

Jetzt war an dem selbstbewußten Großstädter die Reihe, verlegen zu werden. »Bemühen Sie sich nicht weiter«, sagte er hastig, »ich habe schon gehört, daß Sie an Ihren Mitmenschen ein schonungsloses Gericht üben.« Er wollte seine Hand zurückziehen, aber Emmy hielt sie noch einen Augenblick fest und sprach in gedämpftem, halb singendem Ton:

»Fließende Gewässer halten
Fest kein Bild in ihrem Spiegel;
Gleich zerrinnt's nach allen Seiten«.

»Ein seichter, unlauterer Strom, dessen trügerisches Geplätscher bald Überdruß erregt!« warf Dora herbe dazwischen.

Herr Palmer errötete bis unter die Haarwurzeln. »Ist das ehrliches Spiel, meine Damen, zwei gegen einen? Was ist denn mein ganzes Verbrechen? Nur dies, daß mein Herz zu empfindlich für Schönheit und Liebenswürdigkeit ist, um zwischen zwei bezaubernden jungen Damen eine Wahl zu treffen …«

Ein Gepolter unterbrach seine Worte; der dreibeinige Tisch, auf den sich Delicia immer fester gelehnt hatte, um kein Wort zu verlieren, gab plötzlich nach und stürzte in die Grotte. Hätte das junge Mädchen ihre gewöhnliche Geistesgegenwart besessen, so hätte sie leicht entfliehen können; aber sie war durch alles, was sie gehört hatte, so erregt, daß sie selbst mit einem Schrei zu Boden fiel. Herr Palmer sprang hinzu, hob den Vorhang auf und fand sie so, als ertappte Lauscherin, in der demütigendsten Lage. Aber schon hatte sie sich gefaßt und sprang auf ihre Füße. »Ich kam, um meinen Fächer zu suchen, dabei stolperte ich und fiel«, sagte sie mit erzwungenem Lachen. »Es hat aber nichts zu sagen.«

»Mein liebes Fräulein …« fing Herr Palmer an.

»Ich bitte Sie, gehen Sie!« stammelte Lizzie, blaß wie der Tod, während Dora ihr stolzes Haupt mit der Würde einer beleidigten Königin erhob.

»Wir ersuchen Sie, uns allein zu lassen!« sagte sie mit Eiseskälte. »Die Mädchen von Quinnebasset lassen nicht mit sich spielen.«

Herr Palmer schlug die Augen nieder, und obgleich er ein Mann von Welt war, so war er doch in diesem Augenblick aufrichtig beschämt. Er verbeugte sich schweigend und verließ die Grotte; sein letzter Blick fiel auf Emmy. »Thor, der ich war!« murmelte er in sich hinein, »hätte ich mein Herz doch besser gekannt!«


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