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Meinem Versprechen gemäß fange ich heute an, ein Tagebuch für Sie zu schreiben, beste Frau Fogg. Ich sitze im Schulzimmer, in welchem eine große Stille herrscht, seit die Kinder es verlassen haben.
Sie ermahnten mich beim Abschied, nicht zu viel zu erwarten, damit ich nicht zu oft getäuscht würde. Meine erste Hoffnung hat mich bereits betrogen, denn ich erwartete, von der Familie Wix in Kost und Pflege genommen zu werden; Herr Wix aber fuhr an seinem Hause vorbei und hielt erst vor der baufälligen Thür des Herrn Applebee stille. Mein Mut sank, als ich die verwahrloste Umgebung gewahrte, den verfallenen Zaun, die zerrissenen Gardinen an den Fenstern – und dann die Kinderschar, die wie ein nicht endender Strom aus dem Hause quoll und mich mit neugierigen Blicken begrüßte.
»Lange sollen Sie hier nicht bleiben,« sagte Herr Wix mit beruhigendem Lächeln, »Frau Applebee wünscht Sie aber gerade jetzt in ihrem Hause zu haben, weil ihr Mann verreist.« Diese Nachricht freute mich außerordentlich, denn ich hatte gehört, daß der Mann ein Trinker sei, und vor solchen habe ich eine grenzenlose Scheu.
Mit schwimmenden Augen und mattem Lächeln erschien besagter Herr Applebee und half mir aus dem Wagen. Ich trat ins Wohnzimmer, alle Kinder kribbelten um mich herum; die Hausfrau, die ihre seifigen Hände erst an ihrer Schürze abwischen mußte, kam mir aus der Küche entgegen. Sie würde ganz gut aussehen, wenn ihr Kleid nicht so lächerlich kurz wäre und ihr falscher Zopf besser zu ihrem eignen Haar paßte. Zuerst stellte sie mich einer jüngeren Frau in Trauer vor, welche ihre Schwester war und Tryphosa Patterson hieß; dieselbe wollte zwischen mir und einem Vetter ihres teuren, unvergeßlichen Gatten eine wunderbare Ähnlichkeit finden und war davon so überwältigt, daß sie in Thränen ausbrach und das Zimmer verließ. Dann folgte die Vorstellung aller neun Kinder, vom ältesten, fünfzehnjährigen Sohn an, bis zum sechs Monate alten Säugling herab, was eine lange Zeit in Anspruch nahm. Zum Schlusse hoffte die gute Frau, ich würde mich unter ihnen bald wie zu Hause fühlen. Ich bin nur neugierig, wo ich schlafen werde; das Haus ist so niedrig und verbaut, daß man gar nicht weiß, wo die Stuben stecken. Ein großes Wespennest an der Decke scheint man hier für ein lehrreiches Naturspiel anzusehen; ungehindert flogen die Wespen aus und ein und umsummten uns recht gemütlich.
Niemandem fiel es ein, mir mein Zimmer anzuweisen; als es Zeit war, in die Schule zu gehen, stand mein Koffer noch in der Hausflur; das Jüngste saß davor und saugte am Schlüssel.
Ich verließ das Haus, von sieben Applebees begleitet, von denen drei größer waren als ich; unterwegs trafen wir einen Sohn der Familie Wix mit einer brennenden Zigarre im Munde, und es dauerte einige Sekunden, ehe er sie fortwarf. Vermutlich dachte er erst darüber nach, ob ich wirklich die Ehrfurcht heischende Lehrerin, oder irgend ein kleines Mädchen wäre, das ganz unter seiner Beachtung stände. Ich ließ daher den Schlüssel des Schulhauses recht auffällig an meinem Zeigefinger baumeln, um meine Würde ins rechte Licht zu setzen.
Mit geheimem Zittern betrat ich das Schulhaus, das innen recht schmucklos und dürftig aussieht, und hängte meinen Hut auf den höchsten Nagel, den ich erreichen konnte. Die Kinder strömten hinter mir herein, aber ich fühlte einen Kloß in meinem Halse, den ich erst hinunterschlucken mußte, ehe ich sprechen konnte. Es fehlten noch mehrere Minuten bis zum Anfang; ich trat ans Fenster und sah hinaus. Mein Blick fiel auf eine Wiese voll bunter Blumen, dahinter der glänzende Fluß – es war ein hübsches Bild, aber mir war es doch, als gälte es, ein langes Lebewohl zu sagen. War meine Kindheit nicht auf Nimmerwiederkehr entschwunden? lag sie vielleicht unter jenem Wiesenteppich begraben? In diesem Augenblicke fühlte ich mich am Kleide gezupft; ein kleines Mädchen von Dinas Alter stand neben mir. ›Ich bin Phöbe Clock,‹ sagte sie zutraulich und spitzte ihr Mäulchen. Ich beugte mich herab und gab ihr einen Kuß, da drängten sich alle Kleinen um mich herum und reichten mir ihre Gesichter dar, die ich der Reihe nach herzlich küßte, indem ich sie dabei nach ihren Namen fragte. ›Und wie heißt du?‹ fragte Phöbe zuletzt. Ich richtete mich auf, das Gefühl meiner Stellung kam über mich. ›Ich bin Miß Howe,‹ sagte ich ernst, ›setzt euch auf eure Plätze, Kinder, und verhaltet euch ruhig.‹
Aber so schnell ließ sich Phöbe nicht abweisen. ›Haben Sie schon einmal gesehen, wie ein Mann eine Frau ins Wasser wirft?‹ fragte sie geheimnisvoll. Ich wußte nicht, was sie meinte, aber ihre ältere Schwester erklärte mir, die Kleine habe gestern einer Baptistentaufe am Flusse beigewohnt. »Ich glaube,« meinte Phöbe nachdenklich, »sie war aus Versehen hereingefallen, und er hat sie herausgeholt.«
Diese Anschauung brachte mich zum Lachen, zu sehr ungelegener Zeit, denn mit Gekicher kann der Unterricht doch nicht beginnen. Die größeren Mädchen, die mich aufmerksam betrachtet hatten, lachten verstohlen mit, die Knaben machten wenig ehrfurchtsvolle Gesichter, als hielten sie mich für ein willenloses, kleines Ding, dem sie auf der Nase herumtanzen dürften. »Ich wette,« hörte ich einen seinem Nachbar zuflüstern, »ich kann sie mit meinem kleinen Finger niederwerfen.«
»Halt!« dachte ich, »das darf nicht sein! Ich muß mein Übergewicht von vornherein feststellen.« So drehte ich mich entschlossen um, trat auf das Pult zu und klingelte. Die Kinder standen auf; ein Knabe suchte noch durch leises Pfeifen einen neugierigen Hund durch die Thürspalte hereinzulocken, aber ich warf die Thür zu, öffnete meine Bibel und las einen Abschnitt vor, den ich schon lange vorher ausgesucht hatte. Mit gefalteten Händen hörten alle andächtig zu; als das letzte Amen gesprochen war, kam ein großer Mut über mich; ich begann die Stunden in vollkommener Sammlung und fühlte bald, daß ich in meinem Reiche Gebieterin sei und die Kinder meine Oberhoheit anerkannten.
Ich habe dreiundzwanzig Schüler, dreizehn Mädchen und zehn Knaben, alle sind nett und sauber gekleidet. Ein wahrer Engel ist darunter, die neunjährige Lucie Pote. Sie sollten ihr süßes Gesichtchen sehen, Frau Fogg!
Die Zeit schlich langsam dahin; als ich alles durchgenommen hatte, was für den ersten Tag an der Reihe war, zeigte meine Uhr doch erst dreiviertel auf zwölf. Es ist beinahe ein Unglück, daß mir alles so flink von der Hand geht! Ob es Lena ebenso ergangen sein mag? sie hat heute den Unterricht an der Schule in Johannet begonnen.
Als ich mittags nach Hause kam, war Herr Applebee bereits abgereist. Ich brachte guten Appetit mit, aber leider war das Kalbfleisch hart und zähe. Ich möchte der braven Hausfrau, die immer in Bewegung ist, raten, die Zeit beim Braten abzukürzen und dafür ihre Kleider zu verlängern – so wäre beiden geholfen. Das Jüngste saß in seinem hohen Kinderstühlchen mit bei Tische, und seine Mutter rühmte, daß es alles äße, was gekocht würde, nur in Fleischspeisen sei es noch wählerisch!
Tryphosa Patterson vergoß aufs neue einige Thränen bei meinem Anblick – hoffentlich stumpft sich die Macht der traurigen Erinnerung, die ich in ihr erwecke, mit der Zeit ab. Sie erzählte mir, sie sei vor einigen Wochen mit dem Wagen umgefallen und habe sich das Rückgrat verletzt, so daß sie sich nur mit Mühe aufrecht halte. Sie wäre bei dem Bezirksvorstand bereits um Unterstützung eingekommen, denn sie wäre zu jeder Arbeit unfähig und seit dem Tode ihres unvergeßlichen Isaak fast mittellos – und dabei flossen ihre Thränen schon wieder. Trotz dieser Ströme kommt mir ihr Kummer nicht recht aufrichtig vor, sie scheint mir immer etwas Komödie zu spielen.
Heute Nachmittag gefiel es mir außerordentlich in der Schule; ich werde mich für das Unterrichten noch ordentlich begeistern. Beim Schlusse sagte ich den sieben Geschwistern Applebee, die auf mich warten wollten, sie möchten ohne mich nach Hause gehen, und sitze nun wieder ganz allein hier; das einzige lebende Wesen in meiner Nähe ist eine dumme, summende Fliege, die durchaus mit dem Kopf durch die Wand will.
Gute Nacht für heute! Die Zeit des Abendessens naht.
Zweiter Tag. Als ich gestern in der Dämmerung langsam durch die Felder schlenderte, begegnete mir Herr Palmer. Er lüftete höflich seinen Hut und fragte mich, wie mir meine Stellung als Herrin über das Birkenreis gefiele? Ich antwortete mit Zurückhaltung, doch schien ihn das nicht zu stören; er ging neben mir weiter und köpfte mit seinem Stock eine Menge lieblicher Tausendschönchen, die wahrlich ein besseres Los verdient hatten.
»Macht Ihnen das Unterrichten wirklich Freude?« fragte er ungläubig.
»Die allergrößte!« erwiderte ich warm.
»Nun,« meinte er kopfschüttelnd, »ich für meine Person würde noch hundertmal lieber als Missionär nach Upernivik gehen, als hier einer Herde dummer Jungen das ABC einbläuen.«
Ich ärgerte mich, daß ich rot wurde, konnte es aber nicht hindern. Wie unfein, immer wieder auf diesen schlechten Scherz zurückzukommen! Herr Palmer hat eine gewisse angelernte Lebensart und Gewandtheit, aber von Hause aus ist er dreist und taktlos. Er gab mir so viele weise Ratschläge für mein Lehramt, daß sie für ein Jahrhundert ausgereicht hätten; als ich ihn aber fragte, wie lange er denn schon geschulmeistert hätte, da kam es heraus, daß er noch nie eine einzige Stunde gegeben habe. In Zukunft werde ich mir seine weisen Belehrungen bestens verbitten!
Unterdessen waren wir am Applebeeschen Zaun angekommen, und ich hoffte, er würde sich verabschieden; er erklärte aber, er müsse seiner alten Freundin Tryphosa guten Tag sagen und kam mit hinein. Bei seinen ersten Worten sah ich ihre Thränen fließen und machte mich schleunigst aus dem Staube. Melissa Applebee mußte mir endlich mein Zimmer zeigen, das unter dem Dache liegt, aber freundlich und geräumig ist. Leider teile ich es mit der thränenreichen Tryphosa, welche abends mit ihren Mitteilungen über den seligen Isaak kein Ende finden konnte. Während der rührenden Liebes- und Verlobungsgeschichte lag ich in süßem Halbschlummer, doch wurde ich durch die lebhafte Schilderung ihrer Hochzeit aufgerüttelt und mußte auch wachend dem feierlichen Leichenbegängnisse beiwohnen. Immer wieder versicherte sie mich, daß sie ihren teuren Isaak nie vergessen würde und daß kein lebender Mann ihm gleichkomme. Eugen Palmer sei zwar ihr Jugendfreund, er sei sehr reich und habe die ganze Welt bereist, habe auch sehr schöne, anziehende Augen – aber mit ihrem Isaak sei er doch nicht entfernt zu vergleichen. Ihr Geschwätz war mir zuletzt wie das Murmeln eines Baches, das mich in tiefen Schlummer wiegte.
Dritter Tag. Alles ist im besten Gange. Sechs Kinder brachten mir Blumensträuße, darunter Lucie Pote, dieses süße, kleine Geschöpf, das mir immer lieber wird. Ich bin ihnen zwar allen herzlich gut, aber die Kleinen sind mir doch besonders anziehend. Ginge es nach mir, dann sollten sie die Hälfte der Schulzeit im Freien zubringen und spielen dürfen; aber da dies gegen die Schulordnung verstieße, so gebe ich ihnen wenigstens hin und wieder eine Pause und lasse sie Turnübungen machen.
Gestern Abend traf ich Herrn Palmer wieder, gerade an der sogenannten Seufzerbrücke, an welcher Frau Patterson aus dem Wagen geworfen wurde. Er erkundigte sich nach seiner leidenden Freundin, und ich sagte, sie sei ganz wohl, denn ich hätte sie heute früh beim Plätten gefunden.
»Sie plättet?« rief er aus, »eine Frau mit gebrochenem Rückgrat kann plätten? Sagen Sie das nicht weiter, Fräulein Howe, sonst werden Sie als Zeugin vernommen werden; man glaubt ohnehin nicht recht an eine schwere Verletzung.«
Ich war sehr erschrocken und sagte, ich wäre ganz zufällig durch die Küche gegangen; allerdings wäre Tryphosa bei meinem Anblick davongelaufen. Für so falsch und lügnerisch hätte ich sie nicht gehalten.
»Sie lügt nicht gerade mit Bewußtsein,« versetzte Herr Palmer, »vielmehr redet sie sich die Dinge vor, bis sie selbst daran glaubt, und dann möchte sie sie den andern auch glaubhaft machen. Da sie arm ist, betrachtet sie dies Gesuch um Unterstützung vom Bezirk als die einfachste Art, zu Geld zu kommen.«
Wie gefällt Ihnen diese Dame, Frau Fogg?
Vierter Tag. Meine Musterschülerin, Lucie Pote, versetzte mich heute in namenloses Erstaunen. Sie sollte ihr Buch an Phöbe Clock abgeben, widersetzte sich dem aber und erhob ein furchtbares Geschrei. »Ich will es nicht thun! ich thue es nicht! ich hasse Phöbe und werde sie totschlagen!« Darauf fuhr sie der armen Phöbe mit allen zehn Fingern ins Gesicht und kratzte sie blutig. Wie versteinert stand ich da, während die andern Kinder gar kein Erstaunen zeigten, da sie an solche Auftritte schon gewöhnt waren. Es scheint, daß dieses Kind, das ich für einen Engel hielt, ein leibhaftiger kleiner Teufel ist! O ich will niemals wieder dem ersten Eindruck trauen.
Ich überlegte einen Augenblick, was ich thun solle, dann befahl ich zwei größeren Mädchen, Lucie festzuhalten, zog meine Schere aus der Tasche und schnitt ihr die Nägel ab. Sie schrie, als ob sie am Spieße steckte, und drohte mir verschiedene Male, mich totzuschlagen. Ich hoffte nur, es würde nicht gerade jemand vorübergehen und den Lärm hören; Lucie war aber noch mitten im besten Geheul, als die drei Herren von der Aufsichtsbehörde mit heiterer Miene in die Klasse eintraten.
Ich steckte Lucie unter mein Pult, wo sie außer Sicht und ihr Schluchzen nicht sehr zu hören war und that, als sei nichts vorgefallen. »Es handelt sich wohl um ein ernstes Vergehen?« sagte Dr. Prescott und überreichte mir die am Boden liegende Schere.
Ich wurde so rot wie eine holländische Nelke, bejahte aber nur kurz und fing an, die Kinder zu fragen. Es ging ganz gut, auch war Dr. Prescott nicht so spöttisch gelaunt, wie manchmal, sondern lobte die Klasse und ermahnte sie zu allem Guten.
Sechster Tag. Es ist heute Montag. Sagen Sie es nicht der Mama, daß ich bitterlich geweint habe, weil ich Sonnabend nicht nach Hause kommen konnte. Herr Wix hatte sich ein Faß Mehl aus Quinnebasset holen wollen und mir einen Platz in seinem Wagen angeboten, doch unterließ er die Fahrt, weil es regnete; hätte ich das eher gewußt, ich wäre zu Fuß nach Hause gelaufen!
»An welchem Tage findet das Begräbnis statt, Fräulein Howe?«, fragte mich Herr Palmer, als er am Sonnabend bei Applebees vorsprach.
»Welches Begräbnis?« fragte ich unruhig.
»Ich entnahm aus Ihrer Miene voll düsterer Feierlichkeit, daß jemand gestorben sein müsse, und vermutete, daß die engelgleiche Lucie Pote einen Mord begangen hätte.«
Welche Dreistigkeit! ich lachte nicht einmal.
Siebenter Tag. Heute habe ich halb Quinnebasset gesehen. Zuerst kam Miß O'Neil mit Jonathan Page angefahren; sie hatte eigentlich Buttergeschäfte mit Frau Wix abzumachen, stieg aber bei Applebees ab, um »Friedrich Howes kleine Tochter« zu begrüßen, die davon nur mäßig entzückt war; denn die alte Dame hat eine Art, einen bis aufs Blut auszufragen, die nicht mehr schön ist. Ich hoffte, hier wenigstens den ewigen Fragen nach Papa zu entgehen, aber ich habe mich getäuscht; auch hier muß jeder seine Verwunderung aussprechen, daß er nicht mit uns zusammen lebt.
Dann suchten Will und Virginia Curtis mich in der Schule auf, wo sie sich alles mit großer Neugier besahen. »Aber Emmy,« sagte Virginia, »warum steckst du deine Locken nicht auf? so kannst du doch deinen Schülern keine Ehrfurcht einflößen!« Als ob die Würde in der Haartracht läge! ich werde trotz der Locken ganz gut mit meiner Schar fertig. Virginia ist so gut, ich glaube, sie hat keinen einzigen Fehler; ist es da zu verwundern, daß alle Menschen sie lieben und auch Karl sie so sehr schätzt? Für uns andere arme Sterbliche aber ist diese Vollkommenheit fast entmutigend. – Maggie Selden schickt mir durch Will ein Sträußchen Vergißmeinnicht; leider ist sie wieder krank. Sie ist so zart und engelgleich, daß ich manchmal fürchte, sie sei nicht zu langem Leben bestimmt, und doch wünsche ich so sehr, daß aus ihr und Will einmal ein Paar werden möchte; ich glaube, sie hat ihn sehr gern. Er kommt Sonnabend wieder, um mich nach Hause abzuholen, ist das nicht gutmütig und freundlich von ihm?
Abends kamen Delicia und Dora Topliff angefahren. Dora wollte ohne Zweifel recht leutselig gegen die Familie sein, erreichte aber das gerade Gegenteil ihrer guten Absicht, denn die braven Leute waren unbeholfener und verlegener als sie. Frau Applebee stob bei dem Anblick der Gäste davon und zog alle ihre Kinder mit sich, um eine ordnende Hand an sie zu legen, ehe sie sich sehen ließen; als sie endlich wiederkam, war sie verstört und atemlos. Tryphosa ließ sich weniger einschüchtern, sie spielte die Leidende und blieb, mit dem Kissen im Rücken, sitzen, als wäre sie unfähig, sich zu bewegen. In jedes Gespräch mischte sie ihre thränenvollen Anmerkungen, die sich auf den seligen Isaak und ihren Unfall bezogen. Vergebens suchte Dora sie durch kühle Hoheit zum Schweigen zu bringen; Lizzies Holdseligkeit machte den erkältenden Eindruck wieder zunichte. Diese ließ sich jedes Knöchelchen des zerbrochenen Rückgrats beschreiben, was Tryphosa so entzückte, daß sie erklärte, sie würde das liebe Fräulein besuchen, sobald sie das Fahren wieder ertragen könne. Ein schöner Lohn für Lizzies Höflichkeit!
Worin liegt der Zauber, den Delicia um sich verbreitet? Jeder fühlt sich in ihrer Nähe behaglich, weil sie jedem etwas Angenehmes zu sagen weiß und immer so thut, als bewundere sie ihn und finde ihn höchst bedeutend. Aber sie thut nur so – da sitzt der Haken. Sie erzählte mir, sie hätte Mama besucht und sie sehr heiter gefunden. Hätte Dora das gesagt, so würde es mich ganz glücklich machen; ihr hätte ich ohne Rückhalt geglaubt, aber Lizzie sagt es vielleicht nur, weil ich es gern höre. Ich lerne Dora immer mehr schätzen; es liegt etwas Großes in ihrer Natur, in ihrer ungeschminkten Wahrheitsliebe.
Doch nun zu meiner Schule. Lucie Pote nahm heute den zinnernen Trinkbecher für sich in Beschlag und wollte ihn den andern nicht abgeben. Ich war höchst aufgebracht darüber, riß ihr ihn aus der Hand und begoß sie dabei von oben bis unten. Im nächsten Augenblick schämte ich mich sehr, doch durfte ich es mir nicht merken lassen, sondern hieß Lucie nach Hause gehen und sich umziehen. Hatte die Mutter nicht recht, als sie sagte, ich wäre zu jähzornig für eine Lehrerin? O wie demütigend sind alle diese Rückfälle! Es thut mir wahrlich not, zu wachen und zu beten. Ich glaube, ich habe eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Apostel Petrus, von dem jemand gesagt hat: Die Gnade, welche aus einem Johannes einen Heiligen an Sanftmut und Geduld macht, verhindert einen Petrus erst, seinen Gegner niederzuschlagen.
Lucie mußte heute nachbleiben; sie war wieder sehr störrisch gewesen und hatte Fides Applebee totschlagen wollen. Die andern Mädchen nahmen großen Anteil an der Sache und zögerten beim Fortgehen; ich glaube, sie fürchteten wirklich, Lucie könnte mir ein Leid anthun. »Fräulein Howe,« sagte Willy Wix, »darf ich Ihnen einen kräftigen, biegsamen Stock holen? Der vorige Lehrer brauchte sehr starke Stöcke, um Lucie zu bändigen.«
Ich dankte ihm und schickte die Kinder nach Hause. Dann befahl ich der kleinen Übelthäterin, sich anzuziehen, da ich einen Weg mit ihr zu machen habe.
»Jetzt zeige mir einmal die Stelle, wo alle die Menschen begraben werden sollen, die du totschlägst,« sagte ich ganz ernsthaft, als wir draußen waren.
Sie vergaß vor Überraschung das Weinen und sah fragend zu mir auf.
»Kommen sie alle in ein großes Grab?«
Sie starrte mich entsetzt an.
»Wie viele Menschen hast du schon getötet?«
»Noch keinen.«
»Aber, Lucie, dann hältst du dein Wort nicht und sprichst lauter Lügen.«
Sie wußte augenscheinlich nicht, was sie von meinen Worten denken sollte.
»Ich kannte einmal ein kleines Mädchen,« fuhr ich fort, indem ich mich auf einen Stein setzte und sie nahe an mich zog, »das war ebenso heftig wie du. Einmal, als sie in solche Wut geriet, schnitt sie sich die Augenwimpern ab, ein andermal die Haare. War dies nicht häßlich von ihr?«
Keine Antwort.
»Möchtest du wissen, was aus jenem heftigen, kleinen Mädchen wurde?« Sie nickte nur. »Du denkst vielleicht, sie wäre immer schlechter geworden, bis niemand sie mehr leiden konnte. Aber höre einmal: sie besserte sich.«
Lucie sah erstaunt auf; die Geschichte nahm entschieden einen andern Verlauf, als sie erwartet hatte. Ihre schönen Augen wurden immer größer, je weiter ich sprach. »Du kannst dich auch bessern und noch liebenswürdiger werden als jene. Wer den guten Willen hat, dem kommt Gott selbst zu Hilfe. Lucie,« sagte ich sehr sanft, indem ich ihr kleines Gesicht an das meine drückte, »möchtest du nicht, daß der liebe Gott im Himmel seine Freude an dir hätte?«
Sie fing an zu schluchzen. »Ist der liebe Gott sehr böse über meine Unart?« fragte sie in leisem, ängstlichem Ton.
»Ja, sie schmerzt ihn sehr.«
»Sind Sie mir auch böse, wenn ich so häßlich bin?«
»Ja, gewiß, Lucie.«
»Aber ich kann nicht anders! ich kann nicht gut sein!« rief sie ganz verzweifelt. »Wenn Mama mich schlägt, dann laufe ich hinaus und schreie und trampele mit den Füßen, bis ich nicht mehr kann. Nun kommt es immer ärger über mich, ich kann es nicht unterdrücken.«
Armes Kind! welche verkehrte Erziehung! Sie ist Frau Potes Stieftochter, und ich fürchte, jene läßt es an der rechten Liebe fehlen und sucht sie durch Schläge zu ersetzen. »Ich will dir helfen,« sagte ich, und mein Herz wurde sehr weich gegen das kleine Geschöpf. »Sieh, Lucie, jenes heftige Mädchen, von dem ich dir erzählte, war ich selbst. Noch heute muß ich streng über mich wachen, aber wenn der Zorn in mir aufwallen will, dann beiße ich die Zähne zusammen und sehe zum lieben Gott auf – dann geht es vorüber. So mußt du es auch machen; wenn dich die Heftigkeit übermannen will, dann komm zu mir gelaufen und lege deine Arme um mich; ich will dir helfen, den Zorn zu überwinden.«
»Auch in der Schule?«
»In der Schule erst recht.«
»Ich werde es thun, Fräulein Howe,« sagte das Kind und lehnte seinen Kopf zutraulich an meine Schulter. Ich sah, wie ergriffen sie war, küßte sie herzlich und sagte, sie solle nach Hause gehen.
»Also das ist Ihre Art, unartige Kinder zu bestrafen,« sagte Herr Palmer, der plötzlich neben mir auftauchte und meinen Abschied noch gesehen haben mußte. Wenn er sich doch um seine eigenen Angelegenheiten kümmern wollte – aber leider hat er keine. Er brachte mir einen Brief von Karl, den er schon einen ganzen Tag in der Tasche getragen hatte – der Abscheuliche!
Karl schreibt, er werde nächsten Sonntag nach Hause kommen; dann bin ich auch da, und wir wollen so froh zusammen sein, wie in alten Zeiten, liebe Frau Fogg! Karl steht mir so nahe wie mein eigener Bruder, und ich habe an seinen Fortschritten eine unaussprechliche Freude. Er spricht es immer wieder aus, wieviel er mir zu verdanken habe; aber ich verdiene wahrlich kein Lob für die geringe Hilfe, die ich ihm ehemals leistete und die mir selbst so viel Vergnügen machte. Auch jetzt gewährt es mir die größte Befriedigung, wenn ich meine Schüler so aufmerksam dasitzen und meinen Worten mit glänzenden Augen lauschen sehe.
Nächste Woche verlasse ich dies Haus und siedle zur Familie Fettyplace über; es ist mir recht lieb, von der weinerlichen Tryphosa mit dem gebrochenen Herzen und Rücken loszukommen.
Achter Tag. Lucie Pote brachte mir heute ein Körbchen mit Erdbeeren und war so sanft wie ein Lamm. Der Blick ihrer großen Augen schien mir zu sagen: »Du und ich, wir haben ein Geheimnis, deshalb habe ich dich noch lieber als früher.« Du armes, unerzogenes Kind, Gott helfe mir, dir zu helfen!
Als ich gestern Abend dieses Buch eben verwahrt hatte, trat Lena Giddings bei mir ein. Sie hatte die zwei Meilen von Johannet bis Tiffin in Regen und Schmutz zurückgelegt und war so durchnäßt, daß Frau Applebee sie mitleidig bat, die Nacht hier zu bleiben. Tryphosa ging zur Familie Wix hinüber, und Lena kam zu mir. Sie muß große Sehnsucht nach mir gehabt haben, sonst hätte sie sich nicht allen Unbilden von Weg und Wetter ausgesetzt; aber meine Erwartung, daß wir unsere beiderseitigen Erfahrungen in der Schule gründlich austauschen würden, ging nicht in Erfüllung. Sie war voller Seufzer und Thränen, schien sich sehr unglücklich zu fühlen und klagte, es sei eigentlich eine Entwürdigung für einen hochstrebenden Geist, immer dieselben Anfangsgründe zu lehren und niemals auf einen höheren Standpunkt zu kommen. Die Kinder seien aufsäßig und widerwillig, und in ihrer Schule ginge es alle Tage geräuschvoller zu. Dazwischen schwärmte sie viel von ihrer Freundin Gracia Morris, die ihr durch überspannte Briefe ganz den Kopf zu verdrehen scheint. Ich dachte an meine trübe Erfahrung mit Lizzie und suchte sie vor allzu großem Vertrauen zu einem Mädchen, das sie nur einmal gesehen hat, zu warnen – aber vergeblich. Schließlich konnte ich mich nicht mehr wach erhalten, und so entging mir die Hälfte ihrer hochtönenden Reden. Einmal, als ich aus einem sanften Schlummerchen zur Besinnung kam, hörte ich sie sagen: »Ich begreife dich nicht, Emmy; zuweilen zeigst du ein Verständnis, das in die zartesten Seelenstimmungen eines andern eindringt; du sprichst mit einer Tiefe und Erfahrung, als hättest du ein halbes Jahrhundert hinter dir, und ein andermal hast du kein Fünkchen Teilnahme für meine Gefühle und benimmst dich wie ein kleines Kind!«
»Thue du es auch, Lena,« sagte ich gähnend, »und schlafe, wie es sich für gute Kinder in der Nacht gehört.«
Da schwieg sie endlich, aber ich fürchte, ich habe sie sehr gekränkt; sie ging heute früh mit düsterer, verschlossener Miene fort und sagte kein Wort mehr über ihre Seelenstimmung.
Neunter Tag. O Frau Fogg, was muß ich erleben! Jemand hat mein Pult in der Schulstube geöffnet und das Tagebuch gelesen. Denken Sie nur, was auf der nächsten Seite mit Bleistift geschrieben steht:
»Ein aufrichtiger Freund möchte die launige und geistreiche Schriftstellerin daran mahnen, daß das Schulgebäude nicht ihr Privateigentum ist. Die Schule ist jeden Mittwoch Abend zum Wochengottesdienst geöffnet, und unter den andächtigen Zuhörern könnte einer oder der andere weniger gewissenhaft sein, als
Ihr
ergebener Diener
Zephanja Coolbroth,
Missionar a. D. für Grönland.«
Was meinen sie, Frau Fogg, hat er wirklich alles gelesen, was hier geschrieben steht? Es wäre abscheulich, könnte ihm aber nicht sehr schmeichelhaft gewesen sein. Wenn er es nicht lassen kann, in fremde Töpfe zu gucken, so hat er sich hoffentlich die Finger ordentlich daran verbrannt!