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Zweites Kapitel.
Die neue Heimat.

Kapitän Howe hatte keine Erfahrung mit Mädchen; er hatte nur fünf Söhne gehabt, und von denen hatte keiner mehr eine Thräne vergossen, seit er dem Kinderkleidchen entwachsen war, wenigstens hatte nie einer an seinem Halse geweint. Der Auftritt brachte ihn daher in einige Verlegenheit. »Still, still, mein Liebling!« sagte er besänftigend, »dein Vater war immer ein bißchen vergeßlich, aber das thut nichts!« und dabei klopfte er Emmy auf den Rücken, als ob sie ein kleines Kind sei und einen Knopf verschluckt hätte. »Ich wundere mich nicht, daß du Heimweh hast – es regnet so, und das Feuer ist ausgegangen. Vorher brannte es so lustig, aber wir wollen es schon wieder anzünden. He, Karl! woran denkst du? baue das Holz auf und zünde es an, aber schnell, hörst du?«

Karl durfte sonst niemals das geheiligte Feuer anrühren und zeigte sich aus Überraschung und Verlegenheit etwas ungeschickt dabei. Emmy hörte den Schritt der Großmutter sich der Thür nähern, ließ den Großvater los und warf ihr üppiges, dunkles Lockenhaar aus der Stirn zurück. »Ich will nicht mehr kindisch sein und weinen!« rief sie entschlossen. »Es kam wider Willen über mich.«

»So ist's recht,« sagte der Kapitän sehr erleichtert, »sei nur recht tapfer und vergnügt, damit kommt man am besten durch. Und nun wende dich einmal der Lampe zu, mein Kind, damit ich dich ordentlich besehen kann. Ei, ei, du bist eigentlich zu dunkel für eine Howe und auch gerade keine Schönheit, aber du gefällst mir trotz alledem. Komm und gieb mir noch einen Kuß und deiner Großmutter auch einen, mein Herzchen!«

Frau Howe ertrug diese Zärtlichkeit mit christlicher Ergebung und hielt ihre Wange dar, als sollte sie einen Schlag erhalten. »Vermutlich hast du noch nicht zu Abend gegessen,« sagte sie kühl, ehe noch Emmy mit ihrer Liebkosung fertig war.

»Nein, Großmama, die Post wollte nicht warten,« versetzte die Reisende in einem unbestimmten Gefühl, daß sie sehr zu tadeln sei, ohne recht zu wissen, weshalb. Sie sah sich im Wohnzimmer um, welches mit dem jetzt hell prasselnden Feuer sehr behaglich aussah; die altväterischen Möbel, der Kamin mit seiner Einfassung von blendendem Stahl, das alles war sehr alt, aber es sah aus, als wäre jedes Stück gestärkt und geplättet und glänzte heller als die Sonne, denn diese hat, wie uns die Gelehrten sagen, Flecken auf der Oberfläche, während an diesen Sachen auch das schärfste Auge keinen entdecken konnte.

Emmy setzte sich auf die äußerste Ecke eines Stuhles. »Ich will mich ganz still verhalten und nur sprechen, wenn ich gefragt werde,« dachte sie. Aber das lag nicht in ihrer Natur, denn sie war ein sehr regsames, kleines Wesen und eigentlich immer in Bewegung, wie die Ringe im Ohr einer lebhaften Dame.

»Die Wege waren wohl ziemlich schlecht, nicht wahr?« fing der Kapitän die Unterhaltung an.

»Ja, Großpapa.«

»Hattest du große Angst?«

»Nein, Großpapa.«

»War noch jemand außer dir in der Postkutsche?«

»Ja, Großpapa, das reizendste, liebenswürdigste Geschöpf unter der Sonne, Delicia Sanborn!« rief Emmy, alle ihre Vorsätze vergessend, begeistert aus. »Ist sie nicht entzückend? ich denke, jeder muß sie lieb haben!«

»So, so! das fandest du alles auf der kurzen Strecke heraus? Es muß doch so dunkel gewesen sein, daß du kaum ihr Gesicht sehen konntest!«

»Ich sah es, während wir im Posthause warteten, Großpapa. Sie hatte in Poonosac Einkäufe gemacht, und als sie hörte, daß ich mich nach Quinnebasset erkundigte, fragte sie, wer ich sei. Denke dir, wir haben schon vor zehn Jahren als kleine Mädchen zusammen gespielt – sie erinnerte sich dessen noch sehr gut, denn sie ist zwei Jahre älter, als ich. O, sie ist so schön und dabei so fein und gewandt in ihrem Benehmen, solch eine vollkommne Dame!«

Emmy hielt diese lange Rede, ohne daran zu denken, daß die Großmutter in der Nähe sei, und war sehr erschrocken, als diese jetzt ausrief: »Wie kann Delicia Sanborn in Poonosac Einkäufe machen und überhaupt in diesem Wetter eine Fahrt unternehmen? Aber das ist ganz ihre Art, sie ist ein sehr thörichtes Mädchen!«

Emmy war zu Mute, als würde ihr ein Eimer kalten Wassers über den Kopf gegossen. »Du bist aber auch gar zu hart, Mutter,« sagte der gutmütige Kapitän; »was hast du denn gegen Lizzie Sanborn?«

»Eigentlich habe ich gar nichts gegen sie; ich höre nur immer, daß sie bei allem, was die Mädchen hier unternehmen, an der Spitze steht.«

»Das ist noch kein Verbrechen; ich halte sie für die Klügste von allen, wenigstens ist sie die einzige, mit der man ein verständiges Wort sprechen kann. Was schadet es, daß sie gern herumtänzelt und sich die Haare kräuselt? dafür ist sie jung.«

Frau Howe erwiderte nichts, sondern holte einiges Geschirr aus dem Schranke und deckte den Tisch; denn wie wenig willkommen sie ihr auch sein mochte, so konnte sie Friedrichs kleine Tochter doch nicht ohne Abendbrot zu Bett schicken.

»Worüber spracht ihr denn zusammen, du und Delicia?« fragte der Großvater weiter.

»O, über viele, viele Dinge,« versetzte Emmy, indem sie ihre Augen ängstlich auf die Großmutter geheftet hielt, »z. B. über die Menschen, die ich hier kennen lernen würde.«

»Auch über uns? da bin ich neugierig – laß doch hören!«

»Sie sagte, eure Köchin sei wunderbar geschwätzig,« erwiderte Emmy ausweichend.

Der Kapitän lachte, seine Frau aber wendete den Kopf um und rief geringschätzig: »Sagte ich's nicht? sie ist ein albernes Ding!«

»Laß gut sein, Mutter, das war nur eins ihrer Späßchen. Nun, was mehr?«

»Sie sagte, euer Karl sei ein sehr interessanter, junger Mensch,« fuhr die Kleine vorsichtig fort, »seine Lebensgeschichte sei höchst ungewöhnlich, und das Schicksal habe ihm übel mitgespielt.«

»Davon unterschreibe ich jedes Wort; Karl ist ein braver, ehrlicher Bursche, und es ist ihm schlecht genug ergangen.«

»Nun darf er aber nicht weiter fragen!« dachte Emmy und rückte verlegen auf ihrem Stuhle hin und her. »Großpapa,« sagte sie schnell, »darf ich dir das Bild unsrer kleinen Dina zeigen? es steckt in der Tasche meines Regenmantels.«

Sie sprang auf und lief, als sie hastig die Thür öffnete, gegen eine Frau an, die ein Theebrett in den Händen trug. »Ich bitte um Verzeihung – hoffentlich habe ich doch nichts zerbrochen?«

Die Frau lächelte und wies auf ein Tuch, das auf die Erde gefallen war; Emmy hob es auf. »Es thut mir leid, daß Sie meinetwegen Mühe gehabt haben,« sagte sie höflich, denn der Empfang ihrer Großmutter hatte sie sehr bescheiden gemacht. Die Frau ging an ihr vorüber, ohne ein Wort zu sagen. »Kühl!« dachte Emmy und sah ihr überrascht nach; dann gewahrte sie durch die offene Thür, daß Karl nebenan lachte. Er sah gar nicht so unglücklich oder interessant aus, wie sie sich vorgestellt hatte, und sie kam schnell zu dem Schlusse, daß er sich über die Schicksalsschläge, die ihn betroffen, getröstet hätte, und daß es nicht lohne, ihn zu bemitleiden.

Auf dem Mitteltische war inzwischen ein einfaches Abendessen aufgestellt worden, die schweigsame Frau goß Emmy eine Tasse heißen Thee ein, wofür diese ihr dankte.

»Schone deinen Atem,« sagte der Kapitän, »Esther Fogg ist taubstumm.«

Emmy ließ vor Erstaunen den Theelöffel fallen und betrachtete Esther mit großen, erschrockenen Augen. Sie sah, daß jene eine Schiefertafel am Gürtel hängen hatte, und nun wurde es ihr klar, was Delicia mit der eigentümlichen Art ihrer Unterhaltung gemeint habe, – was für ein Spaßvogel doch diese Lizzie war!

Emmy hatte das Gefühl, als ob die Großmutter ihr jeden Bissen in den Mund zähle, und obgleich sie recht hungrig war, konnte sie nur wenig essen. »Aber ach!« seufzte sie im stillen, »wenn ich nicht genug Nahrung zu mir nehme, so wird das mein Wachstum aufhalten, und ich bin doch noch so klein! Am Ende werde ich ganz von Kräften kommen und umknicken wie eine Blume, der man kein Wasser giebt!«

Als der Tisch wieder abgeräumt war, holte Frau Howe eine Bibel, rief Karl und Esther und begann in einförmigem Ton daraus vorzulesen. Das junge Mädchen konnte nicht folgen, die neuen Eindrücke nahmen ihre ganze Seele gefangen; es kam ihr so seltsam vor, sich als ein Glied dieses Kreises zu fühlen. Als die Andacht beendet war, wurde sie auf die zweitbeste Fremdenstube geführt, wo die Hollunderbüsche unablässig ans Fenster klopften. Es war sehr unheimlich, das bescheidene Licht erhellte den Raum nur ungenügend und ließ die Ecken ganz im Dunkeln. Wie einsam sah das große Bett aus! Sie hatte bisher ihr Lager stets mit der kleinen Dina geteilt und fühlte sich nun traurig allein und verlassen. »Ich dachte es mir gar nicht schön hier bei den alten Großeltern,« sagte sie zu sich selbst, »aber es ist tausendmal schlimmer, als ich es erwartete. O mein Gott, wie soll ich dies Leben ertragen? hoffentlich werde ich bald sterben! Aber nein – es ist Sünde, so etwas zu denken, vergieb mir's, lieber Gott! Du wirst ja für dein armes Kind sorgen – und morgen werde ich Delicia Sanborn wiedersehen, und dann wird alles gut werden! Sie sagte, irgendwo müßten wir uns treffen, und wär's auf Besenstielen in der Luft. Wenn ich mit ihr zusammen sein kann, werde ich vielleicht – kein Heimweh mehr …« und damit schlief sie ein.

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