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Der kurze, heiße Sommer war vorüber und mit ihm die zwei Monate Ferien, die in der Erinnerung der jungen Mädchen wie ein einziger Tag voll Sonnenschein und Jugendlust erschienen; denn die Freundinnen hatten sich bald hier, bald da in kleinerem oder größerem Kreise getroffen, und unter Scherzen und Lachen, Wanderungen und Spielen war die Zeit wie ein köstlicher Traum entschwunden. Nun trat die Arbeit wieder in ihr Recht, man ging täglich in die Schule, wo Emmy Howe sich immer mehr Ansehn und Liebe erwarb. Zwar hatte sie eine Art, ihre Meinung frei heraus zu sagen, die mitunter unbequem war; aber niemand war so schnell bereit, ein Versehen einzugestehen und eine ohne Absicht zugefügte Kränkung wieder gut zu machen, wie unsere kleine Heldin, die stets bereit war, zu helfen und zu trösten, wo nur eine dessen bedurfte. Selbst Dora Topliff, der zum erstenmal ein junges Mädchen gegenübertrat, das sich vor ihrem Übergewicht nicht beugte, bewies ihr eine rücksichtsvolle Zuneigung.
Es war an einem sonnigen Oktobertage, als Emmy und Lizzie von einem Spaziergang in den Wald zurückkehrten, wo sie die letzten Blumen und Farnkräuter in reicher Fülle gesammelt hatten. Sie machten Rast auf einer Bank, welche von den weithin ragenden Zweigen einer riesigen Weide beschattet wurde, und Emmy ließ den entzückten Blick über Himmel und Erde schweifen, die in herbstlicher Farbenpracht strahlten. »O wie schön, wie schön ist es hier!« sagte sie träumerisch. »Wer es mir vor einem Jahr gesagt hätte, ich könnte mich je, fern von Vater, Mutter und Geschwistern so glücklich fühlen – ich hätte ihm ins Gesicht gelacht!«
»Es gehört nicht viel dazu, um dich glücklich zu machen, Kleine,« erwiderte Delicia, »ich wollte, ich wäre noch so jung, so natürlich und anspruchslos wie du. Aber wenn man zwei Jahre älter ist, so hat man schon so viele Dinge in seinem Kopf; da giebt es z. B. Verehrer, und man hat die Plage, sich für den einen oder den andern zu entscheiden.«
»Vor der fürchte ich mich freilich nicht!« sachte Emmy lachend; »ich weiß immer gleich, ob mir jemand gefüllt, oder nicht. Besinnst du dich noch, wie ich mich spornstreichs in dich verliebte, als du noch kaum in die Postkutsche gestiegen warst?«
Lizzie nickte; sie liebte es, Huldigungen zu empfangen und verstand es, sie in der liebenswürdigsten Weise hinzunehmen. Als Emmy ihr, während sie so sprach, eine lange Ranke ins Haar wand und sie voll Bewunderung betrachtete, küßte sie ihr leise die Fingerspitzen und lächelte ihr in anmutigster Befriedigung zu.
»O Welt, wie bist du so wunderschön!« sang Emmy in jubelnden Tönen. »Wahrhaftig, Lizzie, wenn meine Mutter und die Geschwister hier wären, so wollte ich mir nichts Lieberes vom Himmel erflehen, als in Quinnebasset zu leben und zu sterben!«
»Hoffentlich kommen sie recht bald her,« meinte Lizzie, immer bereit, dem andern etwas Angenehmes zu sagen.
»Vielleicht! Neulich, als Großmama zufällig meine Schlittschuhe sah, sagte sie: wenn du je diese Dinger gebrauchen solltest, so werde ich nach deiner Mutter schicken, um es dir verbieten zu lassen.«
»Da hast du ja das beste Mittel in der Hand, um deine Mama herbeizuziehen; hoffentlich bringt uns der nächste Winter eine ebenso prächtige Eisbahn wie der vergangene.«
Also geschah es; schon im Dezember war der Teich vor dem Städtchen spiegelblank zugefroren und von der gesamten Jugend des Ortes belebt, die mit stahlbeschwingten Füßen darüber hinglitt. Emmy gab sich mit Entzücken diesem Vergnügen hin, und bald konnte weder Männlein, noch Fräulein es mit ihrer Gewandtheit und Schnelligkeit aufnehmen. Es war ein reizender Anblick, wenn sie so leicht und sicher über die glatte Fläche dahinflog, und der alte Kapitän hinkte manchmal hinaus, um dem lustigen Treiben zuzusehen.
»Unser Kind übertrifft sie alle, Mutter,« berichtete er ihr mit stolzer Freude, »höchstens Karl kommt ihr gleich. Du solltest sie nur sehen, wenn sie diese ungeschickte Lena Giddings auf dem Eise umherzieht, gerade wie ein kleines, zierliches Dampfboot, das einen schweren Schoner bugsiert.«
»Du sprichst wirklich kindisch, Vater,« versetzte Frau Howe verächtlich. »Wie kannst du einer Sache das Wort reden, die so unpassend und gefährlich ist? In meiner Jugend war es nicht Sitte, daß junge Mädchen mit Knaben öffentliche Wettläufe veranstalteten, und du wirst es noch erleben, daß einige dieser jungen Dinger in eine offene Stelle geraten und ertrinken.«
Emmy hörte solche Bemerkungen an, wie andere Reden der Großmutter, d. h. sie ließ sie an ihrem Ohr vorübergehen, ohne ihnen den mindesten Wert beizulegen. Aber Frau Howe, welche die Schlittschuhläufer von ihrem Fenster aus sehen konnte, ließ den Gegenstand nicht wieder fallen; sie wurde immer reizbarer, und eines Tages, als das junge Mädchen sich eben anschickte, den gewohnten Gang anzutreten, hielt sie dieselbe auf und sagte in nörgelndem Ton: »Ich kann es nicht mehr ertragen, daß du dich in solche Gefahr stürzest, die tägliche Unruhe macht mich krank. Gieb mir deine Schlittschuhe, ich will sie verwahren.«
Emmy stand zuerst da wie versteinert, dann wallte der Zorn über diese unnötige, engherzige Grausamkeit heiß in ihr auf, und eine Fülle von Gegengründen drängte sich ihr auf die Lippen. Aber ehe sie dieselben öffnen konnte, fiel ihr der Tag ein, an dem Großmama ihre Haare abgeschnitten hatte, und ohne ein Wort zu sagen, huschte sie in ihr Zimmer hinauf. Der Jähzorn sollte nicht noch einmal Herr über sie werden, sie hatte ihn zu bitter bereut. Sollte sie versuchen, die alte Frau durch vernünftige Vorstellungen zu überzeugen? sollte sie Großpapas Beistand anrufen? Ach nein, das war ein hoffnungsloses Beginnen, denn jene ging nie von einer vorgefaßten Meinung ab, und der gute, alte Mann, mochte er auch zuerst auf ihrer Seite stehen, ging doch stets mit fliegenden Fahnen zum Feinde über. So kämpfte Emmy tapfer alle Erregung und allen Widerstand nieder und kehrte nach wenigen Minuten ins Wohnzimmer zurück. »Da hast du die Schlittschuhe, Großmama,« sagte sie freundlich; »ich glaube, du mußt krank sein, um in einer so wohlthätigen und harmlosen Bewegung eine Gefahr zu sehen; aber um deine Nerven zu schonen, bringe ich dir das Opfer.«
Frau Howe nahm die Schuhe höchst kaltblütig in Empfang und verschloß sie vor Emmys Augen; für die Größe des Opfers und der Selbstbeherrschung hatte sie gar kein Verständnis. Auf dem Eise aber fand ein förmlicher Aufstand statt, als der Grund von Emmys Ausbleiben bekannt wurde; zwanzig Taschentücher wehten grüßend und lockend zu ihr hinüber, und sie ließ zur Erwiderung ihren bunten Shawl in der Luft flattern. Aber sie ging nicht hinaus, um sich nicht selbst in Versuchung zu bringen und die Stichelreden gegen die Spielverderberin nicht mit anzuhören.
»Ohne dich ist das Schlittschuhlaufen kaum noch das halbe Vergnügen,« sagte Karl, »es ist, als fehlte dem Ganzen die Seele und das Leben.« –
Karls Stellung in Quinnebasset hatte sich seit dem Sommer sehr verändert; man lud ihn von allen Seiten ein, die jungen Leute boten ihm die biedere Rechte zum Zeichen der Freundschaft, und die Familie Curtis bewies ihm ein ganz besonders freundliches Entgegenkommen. Das gefiel ihm natürlich sehr viel besser, als seine frühere Einsamkeit im Winkel der Küche; auch Emmy hatte herzliche Freude daran und genoß jedes Vergnügen doppelt, wenn Karl dabei war. Doch sollte dies hübsche Zusammenleben ein baldiges Ende nehmen, denn Karl mußte sich im Januar in die weit oberhalb des Ortes belegenen Wälder begeben, um dort die Arbeit der Holzschläger zu beaufsichtigen. Er nahm eine ganze Ladung von Büchern mit, die ihm der Richter Davenport geliehen hatte, um an den langen Winterabenden fleißig zu studieren.
Wie endlos lang erschienen Emmy diese Abende, wenn sie allein mit den beiden Alten zu Hause war! Nichts, als das Ticken der Uhr, das Schnurren der Katze und Großmamas gelegentliche Bemerkungen über das Steigen und Fallen der Wertpapiere unterbrach die stundenlange Stille! Und dabei wurde Frau Howe immer nervöser; sie mußte wirklich krank sein, denn sie aß fast gar nichts mehr und wurde noch viel sparsamer, als früher. Emmy lernte in dieser Zeit nicht nur sehr eifrig für die Schulstunden, auch das Leben stellte ihr tägliche Aufgaben in der Geduld und Selbstbeherrschung, und sie bemühte sich ernstlich, eine gelehrige Schülerin zu sein.
»Ich glaube, du wirst selbst nach Boston reisen müssen, Vater,« sagte Frau Howe eine Abends, »um dich nach den Aktien der Pacific-Bahn zu erkundigen; man kann aus dem Zeitungsbericht gar nicht klug werden.«
»Großpapa soll reisen? mit seinem kranken Fuß? und ganz allein?« rief Emmy entsetzt, »davon kann doch keine Rede sein!«
»Beruhige dich, Kind, dies ist nur so ein Gedanke von Mutter, aber es hat noch gute Wege bis zur Ausführung,« sagte der Kapitän mit sicherem Lächeln. »Denkst du, dein alter Großvater sei ein Narr, daß er mitten im Winter nach Boston reisen würde? Es fällt ihm gar nicht ein.«
Aber Emmy kannte zur Genüge die zähe Willensstärke dieser Frau, die nie von einem einmal gefaßten Gedanken abging, und ihre Sorge war vollständig begründet. Acht Tage später endeten diese Auseinandersetzungen damit, daß nach einem frühzeitigen Imbiß der alte Herr die Postkutsche bestieg, um von Poonosac aus den Frühzug nach Boston zu benutzen.
»Du lieber, guter Großpapa, nimm dich nur vor dem Fallen in acht und halte deinen Hals recht warm,« sagte Emmy, indem sie ihn zärtlich umarmte.
»Ja, ja, Kind,« erwiderte er mit einem Kuß, aber seine Augen hingen dabei an dem Fenster seines Hauses, wo seine Frau zu sehen war; ihr Gesicht zeigte eine gewisse Bewegung, die wahrscheinlich ihren Pfandbriefen galt. Der gute Kapitän gab seiner Enkelin noch viele Botschaften an seine Ehehälfte mit und ermahnte sie, gut für sie zu sorgen; dann reiste er in der vollen Überzeugung ab, daß er diese Reise aus freiem Willen unternommen habe.
Als Emmy in das Haus zurückkehrte, erschien ihr dasselbe unbeschreiblich leer und öde, und ihr bangte vor dem Alleinsein mit der Großmutter. Sie fand dieselbe am Kamin sitzen und das Gesicht über eine Schaufel voll glühender Kohlen halten.
»Zahnschmerzen, Großmama?«
»Auch die, aber eigentlich thut mir jedes Glied am Körper weh.«
»Ich fürchtete lange schon, daß du krank wärest; willst du dich nicht lieber hinlegen?«
»Wenn ich wie gewisse andere Leute wäre, deine Mutter zum Beispiel, so hätte ich mich schon längst ins Bett gelegt, aber ich verachte solche Zimperlichkeit.«
Emmy nahm den Nadelstich hin, ohne etwas zu erwidern, sie hatte schon gelernt, zu schweigen. »Soll ich nicht nach dem Arzt schicken?« fragte sie nach einer Weile, »du scheinst große Schmerzen zu haben.«
»Ich schicke nicht bei jeder kleinen Veranlassung nach dem Arzt,« erwiderte die starkgeistige Dulderin. »Außerdem nimmt Dr. Prescott immer ein halben Dollar für das Ausziehen eines Zahnes, gleichviel, ob er groß oder klein ist.«
Am nächsten Tage jedoch mußte selbst Großmamas Heldengeist die Waffen strecken; sie fühlte sich so elend, daß sie sich nicht rühren konnte, aber der Geist der Sparsamkeit hatte noch nicht gelitten. »Vermutlich werde ich doch einen Arzt um Rat fragen müssen, aber nur nicht Dr. Prescott. Er kommt sonst zu oft, und es wächst unversehens eine Rechnung an, so lang wie mein Arm. Ich möchte lieber Dr. Rider aus Poonosac haben; er ist ohnehin deinem Großvater noch etwas Geld schuldig.«
»Was machen wir?« schrieb Emmy auf Esthers Tafel. »Die Morgenpost ist längst fort – ach, warum ist Karl nicht hier? Großmama geht es von Minute zu Minute schlechter.«
»Laufen Sie zu Jonathan Page hinüber,« erwiderte Esther, »er ist gefällig und wird den Gang übernehmen.«
Zum Glück traf Emmy den besagten Meister Page schon auf der Straße und richtete ihre Botschaft aus.
»I was Sie sagen!« versetzte der redselige Mann, »die alte Dame hat sich also hingelegt! das kommt nicht oft vor. Ein seltsamer Einfall, nicht nach Dr. Prescott zu schicken, den sie so nahe hat – was hat sie nur gegen ihn? Ich glaube Dr. Rider ist viel zu schwach, um den Weg zu machen, aber gewiß weiß ich es nicht.«
»Bitte, Herr Page, gehen Sie so schnell Sie können,« sagte Emmy zitternd vor Ungeduld, »und sollte Dr. Rider krank sein, so telegraphieren Sie es mir auf der Stelle.«
»Telegraphieren? Ei ja, das soll augenblicklich geschehen, ist ja auch heutigen Tages solch eine bequeme Art, Erkundigungen einzuziehen,« sagte der wackere Jonathan und rieb sich vergnügt die Hände; denn die Aussicht, eine Drahtbotschaft zu entsenden, erschien ihm äußerst lockend.
Emmy wartete zwei Stunden in steigender Besorgnis; die Krankheit der Großmutter schien sich immer noch zu verstärken. Endlich hörte sie ein Geräusch an der Hausthür und ging eiligst, um zu öffnen. Es war die kleine Susanna Giddings, deren älteste Schwester Nanny den Telegraphendienst in Quinnebasset versah. »Es kostet einen Dollar,« sagte die Kleine lächelnd, »Nanny meint, Herr Page hätte wohl die Kosten nicht berechnet, als er's so ausführlich machte.«
»Ei Susy, das ist ja ein ganzer Brief,« meinte Emmy erstaunt, als sie die Depesche öffnete. Sie fing an zu lesen: »Dr. Rider ist tot und kann deshalb beim besten Willen nicht kommen.«
»Hat man je von solcher Einfalt gehört?« rief Emmy indem sie in ein unwiderstehliches Gelächter ausbrach. »Als ob das einzige Wort: »tot« noch nicht genügte! Aber es ist noch nicht aus, höre nur weiter, Susy. »Er starb plötzlich, doch hat er einige Zeit vorher an nervöser Schwäche, die sich bis zu völliger Geisteszerrüttung steigerte, sowie an beständigem Hustenreiz gelitten. Er hinterläßt eine Frau und drei Kinder.« – O Susy, Susy, das ist ein vollständiger Nachruf für den ehrenwerten Doktor. Jetzt höre noch den Schluß: »Ich rate Ihnen, Dr. Prescotts Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sagen Sie Susanne Giddings, daß sie sofort zu ihm gehen soll, wenn sie Ihnen dies Telegramm bringt.«
Emmy lief lachend in ihr Zimmer hinauf, um das Geld zu holen; sie wagte es nicht einmal, die Großmutter um die Bezahlung solchen Unsinns anzugehen. Dennoch konnte sie den Dollar nicht ohne Seufzer hingeben; sie hatte auch nicht einen Heller, den sie nicht notwendig brauchte.
Dr. Prescott, nach dem inzwischen geschickt worden war, erschien bald. »Was, Kind, du hier am Krankenbett?« fragte er mißtrauisch und musterte Emmy, die ihm wie ein hübscher, aber gänzlich unbrauchbarer Schmetterling vorkommen mochte, mit keineswegs freundlichen Blicken.
Sie errötete und folgte ihm später auf den Flur hinaus. »Ist sie sehr krank, Herr Doktor?« fragte sie ängstlich.
»Das kann ich noch nicht beurteilen. Vorläufig will sie noch nicht recht zugeben, daß ihr überhaupt etwas fehlt. Doch muß sofort eine Wärterin besorgt werden.«
»Das würde Großmama nicht gern sehen,« erwiderte Emmy mit so erschrockenem Blick, daß Dr. Prescott lachen mußte.
»Wer soll sie denn pflegen?«
»Frau Fogg und ich.«
»Nebel und Mondschein, eine Taubstumme und ein Kind – das geht nicht an.«
»Aber Großmama ist so sehr sparsam, Herr Doktor,« sagte Emmy mit gefalteten Händen und einem flehenden Blick; »es würde sicher ungünstig auf ihr Gehirn wirken, wenn wir eine bezahlte Wärterin besorgen wollten.«
»Nun, dann wollen wir die Sache noch überlegen,« nickte Dr. Prescott gutmütig, »morgen früh werde ich wieder kommen. – Ein nettes, kleines Mädchen!« sagte er beim Fortgehen zu sich selbst, »aber was kann so ein windiges Ding leisten?«