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Während im Jahre 1633 in Deutschlands Gauen die Furie des Dreißigjährigen Krieges wütete, ging in der stillen bayerischen Alpenwelt ein anderer Würgengel von Haus zu Haus. In den sonst so gesunden Gebirgstälern am Fuße der Zugspitze, wo Amper und Loisach ihre klaren Bergwasser über Fels und Gestein rollen lassen, wo Gemse und Adler keine seltenen Gäste sind, und der Forstmann, der Wilderer, der Schmuggler und der Grenzjäger ihre verborgenen Pfade im Dickicht und in den Schluchten kennen wie ihr Vaterunser, da schritt um jene Zeit ein finsterer Wanderer, der schwarze Tod. Partenkirchen, Garmisch, Kohlgrub und Oberammergau sind die bekannten und in der Bergtouristenwelt so oft genannten Orte, wo damals die Pest in allen Bauernhäusern erschien, nicht etwa bloß den Zehnten fordernd wie ein Steuerbote, sondern fast alles mit sich raffend, was in der gesunden Gottesluft der Berge atmete. Oberammergau war noch verschont, als in den Nachbarorten der schwarze Tod seine Ernte heischte; das friedliche Dörfchen mit seinen gottesfürchtigen Bewohnern hatte sich durch eine Wachkette abgesperrt und ließ keine Menschenseele in seinen Ort herein.
Treue Bewohner hielten Wache, man glaubte sich so am sichersten vor der Pest zu schützen. Da, eines Nachts – so berichtet die Sage – kam atemlos ein von Jägern grimmig verfolgter Wildschütz bis ans Weichbild des Dorfes und flehte mit erbarmenden Worten um Einlaß und Schutz, da sonst sein Leben verwirkt sei. Man verweigerte dem Bedrängten das Gastrecht. Erst nach heißem Flehen und Händeringen ließ man ihn ein. Tags darauf erkrankte dieser unglückliche Wilddieb an der Pest, er starb, und nun klopfte der Würgengel auch in Oberammergau an jedes Haus. Die Chronik meldet, jener Wildschütz sei ein Oberammergauer Kind gewesen, das heimlich von Eschenlohe gekommen, um mit den Seinen das Kirchweihfest zu feiern, und in drei Wochen seien 84 Personen in Oberammergau durch die Pest hinweggerafft worden. In dieser allgemeinen Not suchten die wenigen noch übrig gebliebenen Bewohner des Ortes eine Hilfe bei dem Allmächtigen. Sie taten ein feierliches Gelübde, die Leidensgeschichte des Heilandes öffentlich aufzuführen und dieses »Passionsspiel« alle 10 Jahre zu wiederholen. Treu haben sie es gehalten, die wackeren Leute und ihre Nachkommen bis auf den heutigen Tag, und diese Treue ist – man darf es wohl sagen – angesichts der großen Bedeutung dieses Passionsspieles mit dem Segen des Himmels belohnt worden. Wie der Christenglaube im Laufe eines Jahrtausends immer mächtiger seine Strahlen über den Erdball ausgegossen, so hat auch dieses, aus kleinen Anfängen hervorgegangene Spiel einfacher Bauersleute sich im Laufe von 2½ Jahrhunderten zu immer größerer Bedeutung emporgeschwungen, und was vor 25 Jahrzehnten eine kleine Schar begonnen, das ist jetzt wie ein kleines Weltwunder von Millionen von Menschen besucht und angestaunt worden, sodaß im Jahre 1850 ein Mann wie E. Devrient, der das Passionsspiel besucht hatte, schreiben konnte: »Von diesem merkwürdigen Volksschauspiel kann man gar nicht genug reden oder schreiben, damit die Aufmerksamkeit recht allgemein darauf gerichtet und eine möglichst lebendige und vollständige Anschauung davon verbreitet werde.«
Die wahrhaft frommen Bewohner von Oberammergau, ein frisches, gesundes Gebirgsvolk mit hübschen Gesichtern, groß und schlank gewachsen, die Männer mit wallenden Locken und vollem Bartschmuck, die sich als kleine Künstler von der weltbekannten Bildschnitzerei ernähren, sagten sich wohl oft den genannten Spruch:
Ist's Gottes Werk, so wird's bestehen,
Ist's Menschenwerk, wird's untergehen!
Es ist nicht untergegangen, es bestand und wuchs; ein altehrwürdiges Überbleibsel unserer mittelalterlichen Mysterienbühne, ragt dieses Oberammergauer Passionsspiel hervor aus dem Trümmerwuste des Mittelalters, alle schlechten Zeiten, Krankheiten, Kriege und Wandlungen des Menschengeschlechts überdauernd und alle 10 Jahre, treu dem felsenfesten Gelübde, sich neuer und schöner gestaltend. Bezeichnend für die Eigenartigkeit und Großartigkeit dieses Volksschauspiels ist die umfangreiche Literatur, welche sich seit der Mitte unseres Jahrhunderts über das Passionsspiel von Oberammergau entwickeln konnte; es gibt seit dem Jahre 1870 wohl an 200 Bücher und Schriftwerke, welche sich mit Oberammergau, seinen Bewohnern und seinem Spiele beschäftigen; Männer wie Döllinger, Devrient, Staub, Sepp, Hermann Schmid, Holland und eine Reihe von Ausländern haben sich liebevoll damit befaßt, über Oberammergau zu schreiben und zu berichten, unsere angesehensten Zeitungen und illustrierten Blätter greifen alle 10 Jahre wieder zu diesem Thema, und so wollen auch wir unseren Lesern, den eigenen Eindrücken folgend, das erzählen, was uns die Stunden und Tage in Oberammergau liebenswert und interessant gemacht.
Es sind bei dem Spiele auf dieser großen Bühne im Freien, welches (zuletzt 1910) alle Sonntage im Sommer wiederholt wird und von früh 8 Uhr bis abends ½5, mit einer einstündigen Mittagspause, dauert, etwa 500 Personen, Männer, Frauen und Kinder, beschäftigt; alle sind Bewohner des Ortes, man hat stets pietätvoll darauf gehalten, keine Mitwirkenden von auswärts heranzuziehen. Der neue Zuschauerraum, der zum Teil gegen Sonne und Regen geschützt ist, faßt 5000 Menschen. Das Spiel hat schon dadurch nichts Gewerbsmäßiges, daß es, strenge dem Gelübde, tatsächlich nur alle 10 Jahre wiederholt wird; wollte man es irgendwo, sei es in Berlin oder London, aufführen vor den Augen einer müßigen, schaulustigen und neugierigen Welt, so würde die Darstellung sofort ihren kindlich-schlichten Charakter und ihre Weihe verlieren. Ein Passionsspiel von solcher eigenen Wirkung ist nur möglich in einer Gegend, wo die Darsteller nicht angekränkelt sind von der Aufklärung des Jahrhunderts; nur ein schlichter, gottergebener Sinn, welcher von dem Geiste des Friedens, der Verträglichkeit und Menschenliebe beseelt ist, in einem Orte, wo ein guter Gemeinsinn und das Ringen nach den idealen Gütern der Menschheit gefördert wird, konnte eine solche Erscheinung im Kulturleben unseres Volkes gebären. Als man vor Jahren in England den Versuch machen wollte, das Ammergauer Passionsspiel nach London zu verpflanzen, ging ein Schrei der Entrüstung durch die Zeitungen, man betrachtete es wie einen Kirchenraub, der aus goldenen und silbernen Altargeräten Münzen prägt. Künstler wie in Oberammergau können nicht künstlich auf den ersten besten Bühnenbrettern gezüchtet werden, nur durch Familienüberlieferung war es möglich, den Geist und die Liebe mit allen ehrwürdigen Gewohnheiten in die Herzen der Enkel zu verpflanzen. So kommt es denn auch, daß das Passionsspiel in allen Häusern und Familien des Dorfes ein besonders liebgewordener Gesprächsstoff ist. Eltern und Großeltern berichten, wie es vor 10, vor 20, vor 40 Jahren war, was sich dabei alles zugetragen, wer diese, wer jene Rolle gespielt, und die Kinder, welche schon das letztemal in Kinderrollen mitwirken durften, träumen von zukünftigen Tagen, wo es ihnen vergönnt sein wird, als Erwachsene mitzuwirken. Manches Schulmädchen im Dorfe träumt sich wohl als zukünftige Maria, wofern ihr Gott eine gute Gestalt und den Wohllaut der Sprache verliehen, mancher Bursche, der an der Schnitzbank sitzt, weiß, daß es eine Ehre ist, dereinst keine Nebenrolle zu haben, sondern 10 Jahre lang oder noch länger der Christus, der Petrus, der Judas, der Pilatus, der Johannes des Dorfes genannt zu werden.
Die schwierigsten Rollen, die eine besondere dramatische Begabung verlangen, sind Christus, Judas und Kaiphas und nicht zuletzt die Maria, obwohl diese nicht zu den Personen gehört, welche fast beständig auf der Bühne sind. Die ganzen Vorgänge während des Spieles teilen sich in mehrere Aktionen: Musik und Melodrama, Präludium und Chorgesänge, welche die Handlung begleiten; der Chor aus Männern und Frauen betritt die Bühne vor Beginn einer neuen großen Szene und gibt die weihevolle Einleitung, der Prolog erklärt die lebenden Bilder, welche auf einer Mittelbühne hinter einem Sondervorhang von Zeit zu Zeit gestellt werden. Es sind Bilder, welche in Parallelstellen aus dem Alten Testament, mit den dargestellten Szenen und Dialogen der fortschreitenden Handlung Hand in Hand gehen. Diese beginnt mit dem Einzug Christi in Jerusalem und der Tempelaustreibung und endet mit der Auferstehung. Links und rechts von dieser Mittelbühne erblickt man das Haus des Hohenpriesters Hannas und des Landpflegers Pontius Pilatus, ein Ausblick in die Straßen Jerusalems ist geöffnet, in welchen sich die wunderbarsten, oft aufregendsten Volksszenen abspielen. Als besonders wirkungsvoll sind die Szenen in Bethanien mit dem rührend poetischen Abschied Christi, in dem er unter anderem sagt: »Stehe auf, Maria, die Nacht bricht ein, und die winterlichen Stürme brausen heran! Doch sei getrost: in der Morgenfrühe im Frühlingsgarten wirst du mich wiedersehen!« – Daran reihen sich dann die Gefangennahme in Gethsemane, die erregten Anschläge des Hohen Rates, der Verrat des Judas und die lärmenden Volksaufläufe vor dem Hause des Pilatus. Dieses »Kreuziget ihn!« aus Hunderten von Kehlen, dieses Menschengewühl und das Hinüber und Herüber der Parteien ist von dramatisch packender Wirkung, ebenso wirksam oder noch gewaltiger als das Leben einer Volksszene im Julius Cäsar auf der Shakespearebühne der Meininger Truppe. Die 18 größeren Szenen oder Abteilungen des Dramas erheischen nicht weniger als 47 Verwandlungen, welche sich schnell und glatt abwickeln, trotzdem die Bühne keinen Schnürboden hat; alle Prospekte werden von unten geregelt, wobei auch das Hilfsmittel der Wandeldekoration zur Anwendung kommt, doch diese bewegt sich keineswegs vor den Augen des Publikums, sondern dient nur dazu, eine größere Anzahl von Prospekten, von drehbaren Walzen abgewickelt, schnell vor den Augen der Zuschauer erscheinen zu lassen. Während die Oberammergauer einen Stolz dareinsetzen, alles im Orte selbst anzufertigen und es insbesondere den Frauen mit obliegt, bei den herrlichen kleidsamen Trachten zu helfen, so sind doch die Dekorationen in Wien und München gefertigt; sie sind so ziemlich das Einzige, was nicht im Orte selbst gemacht werden konnte. Der Vorhang zeigt jetzt eine Neuigkeit, eine eigenartige Vorrichtung, wie ich sie noch auf keiner Bühne gesehen. Der frühere Vorhang brachte bei Regen und Wind, wo er sich nach dem Innern des großen Bühnenraumes zu mächtig ausbauchte, manche Unzuträglichkeiten mit sich. Deshalb wurde ein fester Vorhang aus Lattengefüge gebaut, der sich wagrecht in der Mitte teilt, wobei ein Teil nach oben, einer nach unten entschwindet. An das Rechteck der Mittelbühne schließt sich das geräumige alte Übungstheater an, in welchem jetzt die Garderoben eingerichtet sind. In peinlicher Ordnung hängen hier die Gewänder an den Nägeln, durch Zettel mit den Namen der Darsteller bezeichnet, unter jedem Gewande steht ein Paar Sandalen oder Schuhe, auf Gestellen liegen die Kopfbedeckungen; Christus und Kaiphas haben besondere Garderoben für sich; der Darsteller des Erlösers muß sich wohl zwanzigmal während des Spieles umkleiden, wie seine Rolle denn überhaupt eine körperliche Kraftleistung ersten Ranges ist, die eine bewunderungswürdige Ausdauer, zumal in der Kreuzigungsszene, erfordert. Wer sich hier unter dem Begriff »Garderobe« etwa Glanzkattun, Shirting, Theatergold oder Pappschwerter vorstellt, der irrt sich; sie ist kostbarer und dauerhafter als bei jedem Hoftheater, und muß es sein, weil sie in einem Spieljahr fast zugrunde geht und in dem nächsten Jahrzehnt erneuert werden muß; das erklärt sich daraus, daß ja im Freien, im Sonnenschein und zuweilen auch bei Regen gespielt werden muß; die Stoffe sind von schwerem Tuch, Samt und Seide; wenn sie es nicht wären, so würde das Tageslicht eine schlechte Wirkung hervorbringen; das Lampenlicht unserer Stadttheater ist bekanntlich duldsamer. Wir müssen nun auch einen Blick in die Korridore und in die sogenannten »Passionsstadel« werfen, wo wir eine Menge biblischer Instrumente und Gerätschaften finden; wenn das Alte und das Neue Testament hier friedlich nebeneinander liegen, so kommt das eben von jenen erwähnten alttestamentlichen lebenden Bildern, welche die Handlung der Passion begleiten. Da ist einmal der Hund des alten Tobias, ein ausgestopftes Tierchen, das vielleicht einmal der Lieblingspinscher einer Engländerin gewesen, dann die Posaunen für Josephs Triumphzug, das Flammenschwert des Engels, der die ersten Eltern aus dem Paradiese treibt, die Harfen der Gespielinnen der Braut im Hohen Liede, einige ausgestopfte Vögel aus dem Paradiese, die Spieße und Rutenbündel der römischen Krieger und Liktoren, welche den Zug nach Golgatha führen, die Fackeln von der Gefangennehmung in Gethsemane, die Gefäße und Krüge und Tauben der Händler bei der Tempelaustreibung. Auch die einzelnen Ankleideräume haben ihre Türaufschriften: z. B. Henker, Geißler, Kaiphas, Römer oder Hoher Rat und Apostel. Daß sich bei allem feierlichen Ernst und der ganzen Würde des Passionsspiels auch einmal ein unfreiwilliger Sonnenstrahl der guten Laune durchbricht, davon erzählt der Pfarrer des Ortes, der von einem Fremden vor langen Jahren einmal gefragt wurde: »Warum habt ihr denn diesmal eine so alte Maria genommen?« Antwort: »Ja, wir hätten gerne die frühere wieder gehabt, die in der Rolle so unübertrefflich war; aber sie hat inzwischen den linken Schächer geheiratet.« Dieser Scherz ist keine Erfindung, sondern zu lesen in den »Beiträgen zur Geschichte, Topographie und Statistik des Erzbistums München-Freysing«. In der großartigen Requisitenkammer sehen wir auch den Walfisch des Jonas, die eherne Schlange des Moses, Kamele, Palmen, Bundeslade und – die drei mächtigen Kreuze. Das des Heilandes ist fast 20 Fuß hoch; da, wo die Fußsohlen hinkommen, befindet sich ein kleines halbrundes Blech, worauf der eine Fuß ruhen kann. Der Darsteller des Christus hängt gut 20 Minuten am Kreuz, er ist ein kräftiger Mann, unter seinem Trikot ist eine Art Korsett verborgen, das mit einer besonderen Vorrichtung hinter dem Rücken das Hauptgewicht des Leibes an dem Kreuze festhält. Man kann sich nichts Täuschenderes denken als das Aussehen der Hände und Füße des Gekreuzigten; auch bei naher Besichtigung hat man den Eindruck, als ob die Nägel diese Glieder durchbohrt hätten. Die beiden Schächer haben es besser, sie hängen nur 15 Minuten und nicht mit ausgespannten Armen. Der ganze Vorgang während der Kreuzigung hat etwas Pathologisch-Anatomisches, von der Aufrichtung bis zur Totenstarre im Schoße der armen Maria, nichtsdestoweniger wird das Gemüt nicht abgestoßen, sondern in tiefer Rührung erschüttert und mit frommem Schauer erfüllt. Das ist die tiefe Wirkung des Passionsspiels überhaupt, daß es wie ein Balsam in die Herzen der Heimkehrenden sich ergießt, ja die zweifelsüchtigsten Besucher, die im großstädtischen Taumel der Arbeit und des Genusses nie zu einer Einkehr in sich selbst kommen, tief erschüttert. Wir hörten die Worte eines berufsmäßigen Zeitungsschreibers, der während der ersten Stunde des Passionsspieles noch im Bette lag, sich denkend, daß er zu dieser »Komödie« immer noch zu rechter Zeit käme; einmal aber im Proszenium sitzend, versäumte er die Mittagspause, um ja seinen Platz behalten zu können, während alles zur Restauration eilte. Nach der Aufführung schrieb er: »Freund, diese Vorstellungen erregen Gefühle, die weder Jahre noch Verhältnisse zu verwischen vermögen, lebhaft bleibt der Eindruck für das ganze Leben und warm stets die Erinnerung an diese vollendeten Leistungen.«
In früheren Jahrzehnten war Oberammergau schwer zu erreichen; eine acht- bis zehnstündige Fahrt im Stellwagen oder in einem Gefährt auf holperiger Bergstraße mit öfterem Aussteigen bei dem Bergan war bei dem großen Andrang auf allen Landstraßen, die zu dem Passionsdorfe führen, nicht recht ermutigend für manche Besucher, trotzdem war auch damals schon der Besuch so stark, daß die Sonntagsvorstellungen regelmäßig am Montag wiederholt werden mußten. Jetzt verbindet die Eisenbahn das inmitten seiner Berge so anmutig hingebreitete Pfarrdorf mit Murnau und dem Schienenweg, der schon seit zwei Jahrzehnten das bayerische Hochland bis zum Fuß der Zugspitze durchschneidet. Kommen doch auch viele amerikanische Familien eigens zum Ammergauer Passionsspiel über den Ozean, und in manchen Kirchen Englands wird von der Kanzel herab gepredigt, die »Wallfahrt« nach dem Passionsdorfe nicht zu unterlassen. Natürlich haben sich demgemäß die Bewohner vortrefflich vorgesehen, so viele liebe Gäste zu beherbergen, ohne dabei in eigennütziger Absicht es gewinnsüchtig auf die Fremden abzusehen. 3000 Betten sind im Orte zu haben, und in Massenquartieren kann für 2000 Anspruchslosere noch weiter Raum geschafft werden; was aller Ehren wert, wenn man bedenkt, daß der Ort nur 1600 Einwohner hat, die in etwa 200 Häusern wohnen. Auch für Speise und Trank ist hinlänglich gesorgt, Hotels, Speisehäuser, Wein- und Bierwirtschaften sind hinlänglich vorhanden, und um die Preise nicht bis zu einer Höhe zu treiben, wie man sie gelegentlich einer Pariser Weltausstellung zu zahlen hat, so hat die Gemeindeverwaltung eine sehr dankenswerte Verfügung getroffen: die Preise für Speisen und Getränke müssen überall leserlich angeschlagen sein. Damit ist etwaigen Bestrebungen erfindungsreicher Gastwirte einigermaßen ein Damm gesetzt. In der Aufführung des Passionsspiels hält die Gemeinde, wie gesagt, daran fest, daß nur eingeborene Oberammergauer mitwirken; die Bewohner sind alle sehr brave, friedliebende Leute, vergleichbar einer Herrnhuter Kolonie, welche in Gemeinschaft für das geistige und leibliche Wohlergehen der Einzelnen und der Gesamtheit besorgt ist. Jeder ist schon jahrelang vor Ablauf des Jahrzehnts mit seinen Aufgaben und Pflichten beschäftigt, welche ihm bei der nächsten Aufführung zu erfüllen obliegen; natürlich ist die Rollenverteilung bei weit über 500 Mitwirkenden eine schwierige, die meisten Rollen sind doppelt besetzt, damit bei plötzlicher Erkrankung der Ersatzmann einspringen kann. Sehr löblich ist es auch, daß in den 10 Jahren, die zwischen jedes Spiel fallen, über die Spielenden eine Art Sittengericht gehalten wird, so zwar, daß, wenn z. B. einer, der eine heilige Rolle spielt, sich allzu oft im Wirtshause beim vollen Bierkrug oder gar auf dem Wege eines niederen Lasters betreten läßt und auf die wiederholten Mahnungen zur Mäßigkeit nicht hört, beim nächsten Spiel in seiner Rolle herabgesetzt wird. Es ist sehr bemerkenswert, daß auch die Nebenrollen in dem volkreichen Schauspiel scharf durchdacht dargestellt werden, sodaß sich daraus eine Menge kurzer Episoden ergibt, welche in ihrer Erscheinung sehr wesentlich zum künstlerischen Zusammenspiel beitragen. So tragen unter anderem die Gefährten des Judas, welche ihn zum Verrat durch allerlei Versprechungen kirre machen, sehr zur scharfen Hervorhebung des Charakters des Judas bei; Figuren wie Simon von Kyrene, der Kreuzträger des Heilandes, die Henkersknechte, welche um den Rock des Gekreuzigten würfeln und den Schachern die Beine brechen, die römischen Kriegsknechte, die Veronika, welche dem Heilande den Schweiß abtrocknet, die Grabeshüter bei der Auferstehung, der Spötter Ahasver und die Mägde, welche unter dem dreimaligen Krähen des Hahnes den armen Petrus zur Verleugnung des Herrn reizen, sie alle geben ihre kurze Rolle so abgerundet und ausdrucksvoll, wie man sie auf einer Hofbühne nicht besser sehen kann, und auch die Schreckens- und Marterszenen, von denen man meint, sich abwenden zu müssen, werden mit einem wohldurchfühlten Takt dargestellt, daß man keinen Augenblick das Gefühl des Abscheus an sich herantreten sieht. Lautlos und in ehrfurchtsvollem Schweigen wie in einer Kirche sitzen die Tausende von Zuschauern da, jeder fühlt und versteht sich stumm mit seinem Nachbar, wohl wissend, daß niemand gerne in seiner weihevollen Stimmung unterbrochen sein will. Dabei gewähren die dichtgedrängten Zuschauer einen interessanten Anblick; es ist eine bunte Menge, versammelt wie zu einem großen Gottesdienste im Freien; vorne die vielen Landleute in ihren farbigen Sonntagsgewändern, Bauern und Bäuerinnen, Mägde und Kinder aus der Nachbarschaft, aus Tirol und Schwaben, mit ihren roten und weißen Kopftüchern und vereinzelten roten baumwollenen Regenschirmen zum Schutze gegen die Sonne, weil das leuchtende Tagesgestirn oft als eine der eifrigsten Zuschauerinnen hell und warm auf Bühne und Proszenium niederblickt. Ist doch heute einer jener Sonntage, wo die nahen Berggipfel von einem weißen Wolkenschimmer umkränzt, wo die Föhren dunkeler und der Himmel in seinem Feiertagsgewande in einem fleckenlos tiefen südlichen Blau erscheinen; die Lerchen schwirren trillernd in der Maienluft, ringsum im Kreise grüßen in stiller Majestät die Alpen herab, und hoch auf der schwindelnd überhängenden Kofel-Spitze, des Ammergauer-Männels blickt das Kreuz hernieder, welches fromme Männer des Ortes dort aufgerichtet. Weiter rückwärts auf den teilweise gegen Sonne und Regen geschützten Sitzen des Theaters sehen wir die große Schar der Touristen und Fremden, der Städter von nah und fern, man hört viele englische Laute, bei denen man den Tonfall des Yankees von Boston sofort unterscheidet von den schmiegsameren Lauten des Londoner High Life. Ganze Fremdenkolonien von jenseits des Ozeans haben sich in den Logen gruppiert, alle sorgfältig mit einem Operngucker bewaffnet und in Gesellschaft eines Reiseordners, der zugleich den Dolmetsch machen muß. Auch die Fürstenloge ist zum Teil besetzt, einige uns fremde hohe Herrschaften haben sich darin niedergelassen. Endlich wird das Summen und Schwirren dieser 5000 Stimmen durch die Musik unterbrochen, die in ihrer einfachen, getragenen Weise wie aus ferner Zeit herüberklingt. Es sind dieselben Spielleute, die am Abend vorher gleichsam als Vorfeier des Passionssonntages in den Gassen des Dorfes einige mehr weltliche Weisen gespielt; jetzt aber sitzen sie alle mit einem feierlichen Ernst und vertiefen sich in die Chorgesänge und Fugen des Dramenvorspiels, dessen Musik von dem 1779 zu Oberammergau geborenen, späteren Schullehrer Dedler komponiert worden und bis auf den heutigen Tag erhalten blieb. Die Chronik von Oberammergau gedenkt in rühmlicher Weise des wackeren Komponisten, dessen Talent schon damals in den Kreisen der Hauptstadt Anerkennung gefunden. Sein Grab wird auf dem Friedhof des Dorfes gepflegt und in Ehren gehalten, sein Geist lebt fort in der prunklosen, aber rührend schönen Musik zum Passionsspiel, welche viele Anklänge an Webers Euryanthe hat; auch Mozartsche Requiemakkorde und vor allem der Geist Joh. Sebastian Bachs leben in diesen Rhythmen von Geigen und Pauken. Das Stück beginnt mit dem Prolog, welcher in schlichten Worten das Publikum ermahnt, in weihevoller Stimmung dem heiligen Drama zu folgen; eine Hymne, von Frauen- und Männerstimmen vorgetragen, geht der ersten Handlung voran. Diese ist zunächst der wahrhaft großartige Einzug Christi in Jerusalem. Schon von weitem hört man hinter den Kulissen, welche einen Ausblick in die Straßen von Jerusalem gestatten, das rührende Hosianna der Kinder; immer näher braust, immer gewaltiger ertönt das Geräusch, und eine Menschenmenge, palmenschwingend und jauchzend, wälzt sich durch die engen Tore auf die Bühne, gefolgt von dem auf einem Eselfüllen reitenden Heiland. Verblüfft schauen die Priester und Pharisäer darein, aber heller Jubel über den Messias erfüllt die Luft, und immer lauter erschallt das Hosiannarufen aus dem Munde der jerusalemischen Kinderwelt, unter welcher sich dreijährige Bübchen und Mädchen befinden. Unmittelbar hieran reiht sich die Tempelaustreibung, welche ja den ersten Groll und Haß im Volke schürt, und damit beginnt die Leidensgeschichte, die Verfolgung, die sich von Szene zu Szene leidenschaftlicher gestaltet. Wir können hier kein Bild entwerfen von alledem, was sich durch die 18 Handlungen des Dramas, oft erschreckend, oft rührend gestaltet, es würde ein unvollkommenes, ja unrichtiges Bild werden, vielmehr können wir hier nur die biblischen Worte gebrauchen: Wer Augen hat, zu sehen, der sehe, wer Ohren hat, zu hören, der höre! Und diese freundliche Mahnung geht alle 10 Jahre wieder durch die Welt, eingedenk der mehr und mehr sich verbreitenden Erkenntnis, daß jeder Gebildete wenigstens einmal in seinem Leben bei den Passionsspielen in Oberammergau gewesen sein müsse.
Ein herrlicher, schöner Maientag hat heute über dem Passionsdorfe gelegen, die Dämmerung bricht herein, und von den Matten der Almen weht ein kühlender Hauch. Jetzt wollen wir uns an einem Trunk echten Müncheners gütlich tun. Im sogenannten Herrenstübchen des Wittelsbacher Hofes treffen wir am langen Tisch die Honoratioren des Dorfes. Da sitzt dem Fenster zunächst der Herr Bürgermeister, der 30 Jahre eine der schwierigsten Rollen im Passionsdorfe inne hatte, den Kaiphas, der fast beständig auf der Bühne, in dessen Händen alle Fäden der Ränkesucht gegen Jesum von Nazareth zusammenlaufen; aber er ist auch der Regisseur des ganzen Stückes, was man nicht ohne Bewunderung erkennt, wenn man bedenkt, daß 4-500 Personen in dem Stücke beschäftigt sind. Schon als vierjähriges Bübchen wirkte unser Bürgermeister auf der Ammergauer Bühne mit; er hielt in dem lebenden Bilde Adam und Eva als kleiner Abel auf dem Schoße der Mutter einen Apfel, und wenn er brav still gehalten – so erzählt er jetzt selbst –, durfte er ihn verzehren. Im Jahre 1890 hatte er die Freude, seine Tochter als Maria, die Mutter des Heilands, auftreten zu sehen – eine anmutige Erscheinung, jungfräulich und frauenhaft zugleich, und begabt mit einem schönen Organ und Augen von seelischer Tiefe. Seit der Aufführung im Jahre 1900 ist seine Rolle mit einer jüngeren Kraft, dem Mesner und Herrgottschnitzer Sebastian Lang, besetzt. Auch die Mutter Gottes wird nicht mehr von des Bürgermeisters Tochter gespielt, denn die ist längst verheiratet, und es ist Vorschrift, daß diese Rolle nicht von einer verheirateten Frau gespielt werden darf.
Doch kehren wir zu unserm Stammtische zurück, zu den Herren des Ausschusses, denen während einer zehnjährigen Pause die Aufgabe zugefallen, alles für das kommende Spiel zu erwägen und neu zu bedenken; sie haben den Geist der Dorfbewohner wachzuhalten für das Gelübde der Väter, dessen Erfüllung von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sich schöner gestaltet. Eine Unzahl von englisch geschriebenen Briefen laufen täglich aus Amerika und England ein, manche enthalten nur müßige Anfragen, andere bestellen Quartier und Eintrittskarten für einen bestimmten Spieltag im Sommer oder Herbst.
Dort sitzt auch der neue Christus des Passionsspieles, der 25jährige Anton Lang, seines Zeichens ein Hafner (Töpfer), er trägt lange, bis auf die Schultern herabfallende blonde Locken und einen schönen Christusbart; aber diese Äußerlichkeiten sind nicht die Hauptsache an ihm; vielmehr machen ihn sein freundliches, mildes, fast feierliches Wesen, sein weiches, aber durch kräftigen Wohlklang ausgezeichnetes Organ zu dieser Rolle besonders geeignet. Zwei Männer sind noch zugegen, die ein gewichtiges und verantwortungsreiches Amt bei diesen merkwürdigen Aufführungen bekleiden, der Hauptlehrer des Ortes und der Zeichenlehrer an der Distriktsschnitzerschule. Letzterer leitet mit wahrhaft künstlerischem Verständnis die Aufstellung der lebenden Bilder; sie sind schwierig, weil sie schön sind, sie sind mühevoll, weil eine große Anzahl von Kindern in den Gemälden mitwirken, aber nicht minder schwierig ist die Aufgabe des Hauptlehrers als Dirigent des Orchesters, als Leiter und Übungsdirektor der Gesangschöre, in welchen oft recht schwierige Gänge vorkommen. Aber wer hat nicht Mühe im Dorfe, wer unterzieht sich nicht ihr gerne, wenn nach zehnjähriger Pause es gilt, ein Gelübde zu erfüllen, welches ehrwürdige und gottergebene Vorfahren gewollt und geleistet; wenn es gilt, einer großen Wallfahrermenge, denn nicht anders als Wallfahrt darf man diesen ungeheuren Zulauf nennen, das Beste zu bieten, was ein geordnetes Ganze nur irgend zu bieten vermag. Wer aber hat sich an den Nebentischen gruppiert? Es sind die ehrsamen Frauen des großen Ortes: die Frau Doktorin, die Frau Försterin, die Lehrersgattin und deren Töchter, die einen Sonntagabend an der allgemeinen Unterhaltung gerne teilnehmen, und denen das Lob gebührt, die fleißigen Hände an die wundervollen Gewänder des Dramas gelegt zu haben. Es ist rührend, mit welcher Befriedigung sie von ihrem Amte sprechen, das um so schwieriger, als man stets darauf gehalten, keine fremde Hilfe von auswärts dafür heranzuziehen. Auch einige Fremde haben sich schon eingefunden, es sind junge Kaufleute, Handlungsreisende, die Lieferungsverträge an Betten, Bettfedern, Wein, Tabak, Kolonialwaren, Selterwasser usw. abgeschlossen haben und darob alle ein vergnügtes Gesicht machen; sie bemühen sich, die Frauen eifrig zu unterhalten über Dinge aus der Stadt, die sonst nicht in dieses stille Alpental dringen. In einer Ecke, mit sich selber grübelnd, sitzt auch noch eine männliche Gestalt, die einen Zug ins Wunderliche in ihrem etwas scheuen Gesichte trägt; sie murmelt abgerissene Laute mit sich selbst, und ihr Lockenhaar ist wirr, ihr Blick irre, ihre Bewegungen sind eckig. Das ist der Ahasver des Stückes, der ewige Jude. Die Legende erzählt, daß auf Golgatha ein Mann unter das Kreuz trat und den Heiland beschimpfte; der Gekreuzigte hat ihm den Fluch hinterlassen, daß er fortan unausgesetzt, ruhelos um die Welt wandern werde, ohne jemals sterben zu können. Diese Rolle des bekannten Ahasver ist kurz in dem Stück; dennoch scheint dieser Mann sehr tiefsinnig damit beschäftigt zu sein. Man nennt ihn im Orte einen wunderlichen Heiligen.
Von den lebenden Bildern, die als Parallelstellen aus dem Alten Testament die Handlung der Leidensgeschichte begleiten, fanden wir besonders bewunderungswürdig die staunenswerte Regungslosigkeit, in welcher die Darsteller dieser Gemälde verharren. Ein jedes dauert reichlich eine Minute, aber keine Miene, kein Finger zuckt, alle stehen und oft in recht unbequemen Stellungen, wie zu Standfiguren versteinert, wenn nicht ein Windzug hier und da Falten eines Gewandes bewegte, glaubte man wirklich ein Gemälde zu sehen, nicht lebende und atmende Menschen; und bei alledem wird sogar in künstlerischer Hinsicht eine rührende Pietät für unsere alten Meister beobachtet, aus deren Kunstwerken manche Gruppen wieder zu erkennen sind. Wir nehmen Abschied von dem hübschen Passionsdorfe mit voller Befriedigung von allem Gesehenen und Gehörten und sagen: »Auf Wiedersehen im Jahre 1920!«