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Von Prof. Dr. Kurt Hassert.
Die Weltstellung Deutschlands wird bestimmt durch seine geographische Lage zwischen 47 und 56° N, 3½ und 20° O. Damit gehört es der Osthälfte der nördlichen Halbkugel an und erscheint als ein Land der nördlichen gemäßigten Zone und des kalten gemäßigten Klimas. Dank seiner nach Norden vorgeschobenen Lage liegt es aber auch in der Nähe des Poles der Landhalbkugel unserer Erde, der in die Nähe des Kanals fällt, und gehört damit demjenigen hochwichtigen Gebiete an, wo die mächtigsten und wirtschaftlich am meisten fortgeschrittenen Staaten liegen, wo die tätigsten und reichsten Völker wohnen und wo darum auch die Hauptfäden und Gewinne des heutigen Welthandels zusammenlaufen.
Im Herzen Europas gelegen, ist Deutschland durch Oberflächengestalt, inneren Bau und Klima ein Vermittelungsland zwischen dem Norden und Süden, Osten und Westen unseres Erdteils. Als Nordhälfte Mitteleuropas den Raum zwischen den Alpen auf der einen, der Nord- und Ostsee auf der anderen Seite erfüllend, vereinigt es in sich die verschiedenartigen Bodenformen Europas. In ihm vollzieht sich der Übergang vom Fels zum Meer, vom Hochgebirge zum Tiefland und von der reich gegliederten Südwesthälfte Europas mit ihren stark gestörten Faltengebirgen zu der ungestörten russisch-skandinavischen Tafel Nordosteuropas mit ihren horizontal gelagerten Gesteinsschichten. Weiter wird Deutschland von den Grenzzonen mehrerer klimatischer Provinzen Europas durchzogen, da sich in ihm das Seeklima des meerdurchdrungenen Westeuropas mit dem rauhen Landklima des kontinentalen Ostens berührt. Westdeutschland besitzt noch die milden regenreichen Winter des ozeanischen Klimas, in Ostdeutschland dagegen nähern sich die scharfen Temperaturgegensätze bereits den russischen, und auch die Niederschläge nehmen nach Osten hin ab, wie es dem allmählichen Übergang vom See- zum Landklima entspricht.
Ethnographisch behauptet Deutschland ebenfalls die Stellung eines Vermittelungslandes. Es liegt inmitten der drei Hauptvölkergruppen unseres Erdteils, der Slawen im Osten und der Romanen im Südwesten, deren zahlreiche Stämme und Sprachen an den Grenzen des Reiches oder schon innerhalb dieser mit den im Herzen Europas wohnenden Germanen zusammenstoßen. Durch seine zentrale Lage erhält Deutschland eine ethnographische und kulturliche Mitteilungsfähigkeit nach allen Seiten hin, wie die überall in Europa verbreiteten Bruchstücke seiner Volksgenossen beweisen. Als ein wild durchflutetes Durchgangsland war es in den stürmischen Zeiten der Völkerwanderung die große Völkerbrücke zwischen Asien und Europa. Als dann die Wogen sich verlaufen hatten, war es durch seine Lage berufen, die alte hohe Kultur, die es von den früh romanisierten Völkern West- und Südeuropas angenommen, nach Nordeuropa und an die jugendliche Welt der Slawen weiterzugeben. Dadurch bildet es den Übergang von den überkultivierten Romanen zu den mancher Kulturerrungenschaften noch entbehrenden Völkern des Ostens und läßt nach dieser Richtung auch innerhalb seiner eigenen Grenzen eine kulturliche Abtönung erkennen. Freilich ist Deutschland durch seine vorgeschobene Lage im offenen Osten der Gefahr einer slawischen Überflutung ausgesetzt, wie die Polenfrage zeigt. Umgekehrt vermag aber auch das deutsche Element in diesen Gebieten niedrigerer Kultur und dünnerer Bevölkerung viel leichter vorzudringen als nach Westen im dicht besiedelten Bereich alter Kulturvölker, die uns selbst erst die Gesittung brachten.
Als Kernland Mitteleuropas wird Deutschland von allen europäischen Staaten mit Ausnahme der südeuropäischen Halbinseln rings umlagert, und zwar umgrenzen es als nachbarreichstes Land der Erde, dem nur das von acht Staaten umschlossene Österreich-Ungarn nahesteht, nicht weniger als zehn Staaten, d. h. die Hälfte aller europäischen Länder, darunter vier Großmächte. Seine unmittelbaren Nachbarn sind nämlich Rußland, Österreich-Ungarn und die Schweiz, Frankreich, Luxemburg, Belgien, Holland und Dänemark, während es bloß schmale Meeresarme von Großbritannien, Schweden und Norwegen trennen. Doch darf man die Handelswichtigkeit jener Staaten für uns nicht rein äußerlich nach ihrer Flächenausdehnung, ihrer Volkszahl und nach der Länge ihres Grenzzusammenhanges mit Deutschland beurteilen. Unser Gesamthandel mit dem kleinen Belgien und der Schweiz z. B. wertet nur etwa 30 % weniger als derjenige mit dem ungleich größeren Frankreich und 30 % mehr als unser Handel mit Italien. Ebenso ist unser Paketverkehr mit Holland umfangreicher als der mit Rußland und England zusammengenommen. Umgekehrt geht von der holländischen Ausfuhr ungefähr die Hälfte nach dem Deutschen Reich, weil Holland und Belgien durch ihre Lage an der Nordsee einen nicht unerheblichen Teil des deutschen Überseehandels zu vermitteln haben.
Nach den Lehren der politischen Geographie liegen die Staaten nicht tot nebeneinander, sondern die Nachbarschaft ist stets eine lebendige Beziehung, indem sie Einwirkungen ausübt und Einwirkungen empfängt. Dementsprechend liegen in der zentralen, nachbarreichen Lage sowohl Momente der Schwäche wie der Kraft, und zwar überwiegen bald die Vorteile, bald die Nachteile, je nachdem das Reich der stärkere oder schwächere Teil war. Im letzteren Falle ist die zentrale Lage bedrohlich und bedenklich, weil sie Deutschland, wie Mitteleuropa überhaupt, mehr zum Tummelplatz fremder Kriegsvölker und Eroberer, als zum friedlichen Markte der europäischen Nationen machte, die mit eifersüchtiger Aufmerksamkeit nach Aneignung der aus Deutschlands zentraler Lage entspringenden Vorteile strebten. Diese Gefahr war um so größer, als die Deutschen infolge der vielgestaltigen Oberfläche ihres Landes, welche die Auflösung in eine ganze Reihe natürlicher Sonderlandschaften und politischer Kleinstaaten begünstigte, lange Zeit hindurch ein uneinig Volk von Brüdern waren. Für das europäische Reich der Mitte aber ward seine Zersplitterung doppelt gefährlich, da es bei seiner nachbarreichen Lage, welche die politischen Reibungsflächen vermehrt, mit allen umwohnenden Staaten in Zwiespalt geriet und durch seine innere Zerrissenheit zum Angriff geradezu einlud. Selten hat darum ein Land so viele Einwirkungen von außen erfahren und so viele Kriegsnöte zu erdulden gehabt, und kein Land zählt so viele Schlachtfelder wie Deutschland, das besonders im Dreißigjährigen Kriege, im Nordischen Kriege, im Spanischen und Österreichischen Erbfolgekrieg, im Siebenjährigen Kriege und in den Napoleonischen Kriegen das Hauptkriegstheater Europas war. Auch das bezeichnende Wort Völkerschlacht ist, wie Ratzel hervorhebt, ein echt deutscher Begriff, der in anderen Sprachen kaum seinesgleichen haben dürfte.
Und nicht genug damit, daß die europäischen Staaten ihre widerstreitenden Interessen und die Entscheidung der allgemeinen politischen Fragen Europas auf deutschem Boden zum Austrag brachten. Sie hielten sich auch gegenseitig auf Kosten Deutschlands schadlos, da das Gebiet des stärkeren Nachbars wachsen, das des schwächeren zurückweichen muß. Infolgedessen waren große Teile des Reiches, insbesondere seine Lebensadern, die Mündungen der Hauptströme, für längere oder kürzere Zeit eine Beute der Engländer und Franzosen, der Holländer und Dänen, der Schweden und Russen Nach dem Dreißigjährigen Kriege fielen den Schweden nicht bloß die wertvollsten Uferstrecken der Ostsee, sondern auch die Elb- und Wesermündungen zu. 1806 schob Napoleon die französischen Grenzen längs der gesamten Nordsee und bis Lübeck vor, wodurch Frankreich auch die Ostsee erreichte. Damit war Deutschland wiederum vom Weltmeer abgeschnitten, und nach den Freiheitskriegen fehlte nicht viel, daß die Hansestädte an Dänemark verkauft worden wären., und mit vollem Rechte konnte Heinrich Heine klagen:
Franzosen und Russen beherrschen das Land,
Das Meer gehört den Briten,
Wir aber besitzen im Luftkreis des Traums
Die Herrschaft unbestritten.
Solche Landverluste erfolgten stets zu Zeiten politischer Ohnmacht und innerer Uneinigkeit, was für das endlich geeinte neue Reich eine ernste Mahnung zu fester Zusammenfassung aller staatlichen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfte sein sollte. Die Notwendigkeit, wachsam und stark zu sein und möglicherweise nach zwei Seiten hin gleichzeitig Front machen zu müssen, bedingt im Interesse der Landesverteidigung ein starkes Heer und eine starke Kriegsflotte als sicherste Bürgen unseres Schutzes und unserer Unabhängigkeit und zwingt uns zu den größten militärischen Anstrengungen. Freilich tragen wir nicht leicht an unserer schweren Rüstung, nach deren Vorbild sich auch die Nachbarn gewappnet haben. Aber es gibt für Deutschland keinen anderen Ausweg, will es nicht, wie Polen, dem von allen Seiten her wirkenden Druck erliegen. Daher muß das Wort des alten Fritz »Toujours en vedette« allezeit unser Wahlspruch bleiben, und auch Fürst Bismarck erwies sich als einen trefflichen politischen Geographen, als er 1888 im Reichstage sagte: »Gott hat uns in die Lage versetzt, in der wir durch unsere Nachbarn daran verhindert werden, irgendwie in Versumpfung oder Trägheit zu geraten. Die französisch-russische Pression, zwischen die wir genommen werden, zwingt uns zum Zusammenhalten und wird unsere Kohäsion auch durch Zusammendrücken erheblich steigern, sodaß wir in dieselbe Lage der Unzerreißbarkeit kommen, die fast allen andern Nationen eigentümlich ist und die uns bis jetzt noch fehlt.«
Weil aber ein Land wie Deutschland viel mehr als jeder andere Staat von den europäischen Ereignissen betroffen wird, weil es mitten zwischen die europäischen Großmächte hineingestellt ist und sie mit dem größten Teile seiner Grenzen berührt, während es von weniger gefährlichen Mittel- und Kleinstaaten und von neutralen Ländern nur auf beschränktem Räume umsäumt wird: aus allen diesen Gründen ist unsere politische Stellung und Aufgabe in Europa hauptsächlich diejenige der Verteidigung. Deutschland bedroht keinen Nachbar, ist aber auch entschlossen, sein eigenes Gebiet von niemandem antasten zu lassen. »Das deutsche Volk hat weder das Bedürfnis, noch die Neigung, über seine Grenzen hinaus etwas anderes als den auf gegenseitiger Achtung der Selbständigkeit und gemeinsamer Förderung der Wohlfahrt begründeten Verkehr der Völker zu erstreben.« Für unsere Verteidigungsstellung ist es von Vorteil, daß die Schweiz, Luxemburg, Belgien und Holland Pufferstaaten, die ersten drei obendrein noch neutrale Staaten sind, die bei ihren friedlichen Neigungen und so lange ihre Neutralität gewahrt wird, eine Grenzverbesserung bedeuten, indem sie, um mit dem bekannten Militärschriftsteller General v. Clausewitz zu reden, wie große, schützende Seen an unserer Grenze liegen und umgangen werden müssen. Die Kräftigung unserer Stellung hat uns aber auch die Verbindung mit andern in ähnlicher Lage befindlichen Ländern wünschenswert erscheinen lassen. Daher um des gegenseitigen Stärkungsbedürfnisses willen der Zusammenschluß Deutschlands, Österreich-Ungarns und Italiens zum Dreibund. Von allen Bündnissen der Gegenwart ist dasjenige Deutschlands und Österreichs das natürlichste und darum aller Wahrscheinlichkeit nach auch das dauerhafteste. Der ungünstige Grenzverlauf beider Länder ist vielleicht ebenfalls ein tieferer Grund für ihren engen Zusammenschluß gewesen ( Ratzel).
Ist Deutschland jedoch stark, dann hat die nachbarreiche Mittellage bei Ausnutzung aller ihrer Vorteile auch ihr Gutes. In einem zentral gelegenen Durchgangslande strömen mit dem Handelsverkehr von allen Seiten her fremde Einflüsse zusammen, und je mehr Nachbarn vorhanden und je verschiedener sie geartet sind, um so mehr fördernde Anregungen gibt es. Zentrale Länder halten ihre Bewohner frei von geistigem Stillstand. Darum ist Deutschland ein geistiger Markt und das klassische Land nationaler Empfänglichkeit, in dem Nord und Süd, Ost und West ihre Gedanken austauschen. Nirgends werden so viele fremde Sprachen gelernt und Übersetzungen angefertigt als bei uns, und es ist gewiß kein Zufall, daß der Gedanke einer Weltliteratur und einer Sammlung der »Stimmen der Völker in Liedern« von einem deutschen Dichter, J. G. Herder, ausgegangen ist. Andererseits freilich sind die Deutschen wie kein anderes Volk in den Fehler der Ausländerei, der übertriebenen Wertschätzung fremden Wesens verfallen. Diese Vorliebe steigerte sich bis zur sklavischen Verherrlichung und Nachäffung des Fremden und zur Geringschätzung des Eigenen. Sie ist bekanntlich eine Schwäche, von der wir uns noch heute nicht völlig frei gemacht haben.
Unter den mächtigen Kaisern des Mittelalters wurde Deutschland, wiederum dank seiner Lage, der Mittelpunkt der christlich-germanischen Welt und die politische Vormacht jener Zeit. Seine Geschichte war die allgemeine Geschichte Europas, und deutsche Kaiser wie Otto der Große und Friedrich Barbarossa betrachteten sich als Schiedsrichter und Oberherrn ganz Europas. Deutschland ward das wohlhabendste Land Europas, weil im Mittelalter die Seewege nach Amerika und Indien noch unbekannt waren, sodaß der Weltverkehr hauptsächlich zu Lande erfolgte und mit seinen Hauptwegen durch Mitteleuropa führte. Mit dem Zeitalter der Entdeckungen trat ein tiefgreifender Umschwung ein. Infolge der vollständigen Verschiebung der Weltverkehrsstraßen verlor Deutschland seine Macht und Handelsbedeutung an die atlantischen Staaten Westeuropas, um sie erst im Zeitalter des Eisenbahnbaues in ungeahnter Weise wieder zu gewinnen. Von neuem kommt jetzt seine Lage als nicht zu umgehendes Durchgangsland zur Geltung. Verbindet man auf einer Karte von Europa die entgegengesetzt gelegenen Randstaaten durch gerade Linien, so gehen letztere stets ein Stück durch Deutschland und lassen dessen leichte Verbindungen nach allen Seiten hin sofort erkennen. Von Madrid oder Lissabon nach Petersburg, von Paris nach Moskau, von London nach Konstantinopel, von Christiania oder Stockholm nach Rom gelangt man auf kürzestem Wege nur durch Deutschland, dessen Eisenbahnnetz dadurch eine Bedeutung erhält, die weit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus reicht. Durch Süddeutschland führt der Ostende-Wien-Expreß, der Orient-Expreß und der Paris-Karlsbad-Expreß. Die den Rhein begleitenden Bahnen verbinden England mit der Schweiz und Italien, und die von Berlin ausgehenden Eilzüge Riviera-Expreß und Brenner-Expreß geben den skandinavischen Ländern die Möglichkeit einer schnellen Verbindung mit Südfrankreich und der Apenninen-Halbinsel. Der Nordexpreß endlich, der in viertägiger Fahrt Lissabon mit Petersburg verbindet und die längste zusammenhängende Eisenbahnstrecke Europas durchfährt, läuft durch die norddeutsche Tiefebene, die dem Bahnbau keine nennenswerten Schwierigkeiten bereitet. Deutschland ist ja nicht bloß ein Land der offenen Tore, sondern auch der breiten Durchgänge, und seine vermittelnde Stellung gewinnt dadurch nicht wenig an Bedeutung, daß die östlichen Grenzländer des Reiches durch eine gewaltige Rohproduktion, die westlichen dagegen durch eine hoch entwickelte Großindustrie ausgezeichnet sind. Das wechselseitige Ergänzungsbedürfnis, das auf den Ausgleich der wirtschaftlichen Gegensätze hinstrebt, schafft natürlich unserm Reiche einen blühenden Durchgangs- und Zwischenhandel. Allerdings eröffnen Nord- und Ostsee im Norden, das Mittelmeer und die Donaustraße im Süden Wasserwege, die, Deutschland parallel laufend, es umgehen und um so mehr bevorzugt werden, als die vorwiegend landwirtschaftlichen Erzeugnisse Nord-, Ost- und Südeuropas die hohen Eisenbahnfrachten nicht tragen können und deshalb in erster Linie auf den Wassertransport angewiesen sind.
Mit Rußland und Österreich-Ungarn hat Deutschland den Nachteil, daß es vorwiegend ein kontinentaler Staat ist, wenngleich nicht wie seine Vorläufer, der Deutsche Bund und das Römisch-Deutsche Kaiserreich Während im heutigen Deutschen Reich auf 1 km Küstenlänge ein Areal von 220 qkm Land entfällt, kamen im Deutschen Bunde auf 1 km Küste 360 qkm Land., die als ausgeprägte, reine Landmächte ihre politischen und wirtschaftlichen Ziele ausschließlich auf Europa richteten und überseeischer Politik abhold waren. Auch das neue Reich wird auf drei Seiten von ausgedehnten Landmassen, im Süden noch dazu von einem Hochgebirge, den Alpen, begrenzt und berührt nur im Norden das Meer. Nord- und Ostsee verbinden es mit dem Atlantischen Ozean und machen es damit zu einer atlantischen Macht, die freilich bei weitem nicht die Küstenentwickelung der westeuropäischen Seemächte erreicht und auch insofern viel schlechter als sie gestellt ist, als sie keinen Anteil am offenen Ozean selbst besitzt, sondern nur durch zwei Nebenmeere mit ihm zusammenhängt. Das bedeutet nicht bloß Zeitverlust, sondern wegen der zahlreichen politischen Nachbarn, an deren Küsten der Weg ins offene Meer vorbeiführt, auch vermehrte Gefahr, zumal dieser Weg eine enge, sehr gefährliche und leicht zu sperrende Straße ist.
Dennoch ist Deutschland viel weniger Binnenstaat, als man gewöhnlich annimmt, weil die Nachteile der kontinentalen Lage und der Zurückdrängung vom freien Ozean durch die einheitliche Anordnung und leichte Schiffbarkeit des deutschen Flußnetzes vielfach wieder ausgeglichen werden und weil das insgesamt 14 000 km lange Netz fahrbarer Binnenwasserstraßen ein durch Gewerbtätigkeit wie Produktionskraft gleich ausgezeichnetes Hinterland aufschließt. Den Westen verknüpft Europas bester Flußweg, der Rhein, die Mitte die Elbe und den Osten die Oder mit den nordischen Meeren, während Europas zweitgrößter Strom, die Donau, zum Schwarzen Meer und östlichen Mittelmeer weist.
Die folgenschwere Bedeutung unserer Heimat als Kernland Europas kommt indes erst dadurch zu voller Geltung, daß sie durch ihre offenen Grenzen von allen Seiten her freie Zugänge gewährt. Jede Grenze ist als eine Verdichtung von geschichtlichen Prozessen aufzufassen. Aus diesem Grunde und bei dem Mangel klar ausgeprägter Naturschranken sind die deutschen Grenzen je nach den politischen Verhältnissen unstet hin und her geschwankt und erscheinen zum Teil noch als unfertig.
Für die alten Germanen bildete der Rhein eine natürliche Grenze, bis die Verschiebungen der Völkerwanderung auch das linke Rheinufer zu deutschem Lande machten. Im Mittelalter umgab sich das Reich zum Schutze gegen äußere Angriffe mit Grenzmarken, die ihren Zweck erfüllten, solange das Kernland machtvoll dastand. Als aber sein Gefüge sich zu lockern begann, da verfielen zuerst seine Mauern, und aus dem Schutz wurde oft eine Bedrohung. Wichtige Teile des Reichskörpers wie die Schweiz und Holland, die beiden Staaten an den Quellen und an den Mündungen des Rheins, lösten sich ab, um sich selbständig weiter zu entwickeln. In dem zunehmend von politischer und nationaler Zerbröckelung bedrohten Reiche wurde namentlich die wichtige Westgrenze durch die Herausbildung zahlreicher schwacher Kleinstaaten durchlöchert, sodaß die Franzosen auf Deutschlands Kosten ihren Besitz bis an und über den Rhein verschoben und erst durch die Freiheitskriege wieder aufs linke Ufer des Stromes zurückgedrängt werden konnten. Auf dem Wiener Kongreß setzte Preußen zwar durch, daß die kleinen Staaten von der bedrohten Rheingrenze ferngehalten wurden. Dafür mußte es sich jedoch, damit es übelwollenden Freunden nicht zu mächtig wurde, im Nordwesten die denkbar schlechteste Grenzziehung gefallen lassen, die ihm die Maas- und insbesondere die Rheinmündung versagte, die es von der hochwichtigen Weltverkehrslinie des Kanals fernhielt und seinem wertvollsten, dichtest bevölkerten Gebiete, dem rheinisch-westfälischen Industriebezirk, den kürzesten und naturgemäßesten Zugang zum Meere versperrte. Daher beherrschen, wie schon erwähnt, Holland und Belgien als Besitzer der Rheinmündungen, an denen Holland jahrelang einen drückenden Zoll erhob, einen nicht geringen Teil des deutschen Handels. Ähnlich schlecht ist seit dem Wiener Kongreß in strategischer Beziehung unsere Ostgrenze. Statt der weit besseren Weichsel zu folgen, wird sie durch die höchst minderwertige Prosnalinie und das auf drei Seiten von russischen Landheeren bzw. von der russischen Flotte bedrohte Ostpreußen gebildet, das mit den schiffbaren Unterläufen von Weichsel, Pregel und Memel nicht viel anfangen kann. Als Beherrscher Polens hat Rußland einen Keil zwischen Preußen und Österreich getrieben und flankiert beide von seinen Weichselfestungen aus.
Wie die Grenzen des alten Germaniens und des mittelalterlichen Deutschlands, so hatte auch der nach den Freiheitskriegen unter Österreichs Vorsitz ins Leben tretende Deutsche Bund zum Teil wesentlich andere Grenzen als das jetzige Deutschland Sie schlossen die Reichslande und Schleswig aus und reichten südwärts bis zum Adriatischen Meere.. Durch die Ereignisse von 1866 wurde Österreich aus Deutschland hinausgedrängt, und unter Preußens Führung erstand in neuer Gestalt und mit neuen Grenzen zuerst der Norddeutsche Bund und 1871 das Deutsche Reich. In dem vielgewundenen Verlaufe, in den zahlreichen Ein- und Aussprüngen und in sonstigen Unvollkommenheiten der Grenzen spricht sich noch deutlich die Geschichte der zersplitterten und verlustreichen Entwickelung Deutschlands aus. Wo es den kürzeren zog, dort erscheinen seine Grenzen von den natürlichen Vorteilen zurückgedrängt, wo es erfolgreich war, dort hat es die letzteren sich dienstbar gemacht.
Vor allem sind unsere Grenzen mit 7675 km (nach Penck, 8149 km nach Strelbitsky) Gesamtlänge – davon 5205 km Landgrenzen – im Verhältnis zu der von ihnen umschlossenen Fläche viel zu lang. Namentlich der polnische Bogen und der böhmische Keil In Süddeutschland bezeichnet die Strecke Taus-Avricourt diejenige Strecke, auf der das Deutschtum durch fremdes – tschechisches und französisches – Volkstum am meisten eingeschnürt wird., die Millionen slawischer Bewohner tief in unser Volks- und Staatsgebiet vorschieben, verlängern sie im Verein mit dem schleswigschen, schlesischen und ostpreußischen Vorsprung über Gebühr. Ferner ist unser Land einer der am wenigsten natürlich begrenzten Staaten. Während das meerumflutete Großbritannien ebenso wie die von Hochgebirgen und Meeren umsäumte Pyrenäen- und Apenninenhalbinsel oder wie Frankreich sich der denkbar besten Naturgrenzen erfreuen, fallen die deutschen Grenzen bloß zum kleinsten Teil mit solchen zusammen. Freilich sind gute Lagen- und Grenzverhältnisse an sich noch lange nicht entscheidend, sondern es kommt in erster Linie darauf an, wie ein Volk sie ausnutzt. Immerhin ist es kein Verdienst, wenn von der Natur aufs beste geschützte Länder wie die eben genannten sich seit Jahrhunderten wesentlich in gleicher Größe erhalten haben. Daß aber die Deutschen ihr rings von Nachbarn umsäumtes und noch dazu leicht zugängliches Gebiet allen Stürmen zum Trotz immer wieder zurückerobert und behauptet haben, das ist, wie Ratzel betont, ein Werk der Kraft und Ausdauer, auf das sie stolz sein können.
Am geschlossensten sind unsere Grenzen noch längs der Alpen, der Vogesen und des Böhmisch-Bayrischen Waldes. Sonst werden sie durch lückenhaft aneinandergereihte, leicht wegsame Mittelgebirge gebildet oder sind ganz offen. Darin liegt wiederum eine Summe von Vorteilen und Nachteilen. Unsere Grenzen begünstigen den Verkehr in hohem Maße und werden an mehr als 70 Stellen von Eisenbahnen überschritten. Andererseits sind sie aber ebenso leicht auch feindlichen Angriffen oder von außen kommenden Störungen ausgesetzt, und die Verteilung unserer Grenzfestungen läßt das größere oder geringere Maß von Bedrohung deutlich erkennen. Während längs der Südmark, obwohl sie unsere längste Grenze ist, seit dem Erlöschen der Gegensätze gegen Österreich und die Schweiz kein einziges Bollwerk notwendig erscheint und die dort angelegten Grenzfestungen teils aufgehoben, teils bedeutungslos geworden sind, macht bei der Gefahr der gleichzeitigen Verteidigung zweier Fronten unsere West- und Ostgrenze um so umfassendere und kostspieligere Schutzmaßnahmen notwendig, die sich in den Küstenbefestigungen fortsetzen. »Ein Land, das für seine Nachbarn so frei daliegt, bedarf nicht bloß einer Wacht am Rhein, sondern auch einer Wacht im Osten und an seiner Wasserkante.«
Die 1200 km lange Westgrenze wird durch vier Staaten gebildet. Zunächst zieht sie durch moorerfülltes Tiefland zum Niederrhein und erscheint in diesem an größeren Städten armen Sumpfgebiet verkehrsarm, da nur fünf Eisenbahnen nach Holland führen, während das vielverzweigte Wassernetz einem nicht unerheblichen Kleinverkehr dient.
Dagegen weist die Grenze der Rheinprovinz elf zum Teil bedeutende Bahnübergänge auf, weil sich hier die von den belgischen und holländischen Nordseehäfen kommenden Wege zusammendrängen, und weil die kohlen- und erzreichen Becken von Aachen und Lüttich ein dicht bevölkertes Verkehrs- und Industriegebiet mit einer Menge gewerbtätiger Städte haben entstehen lassen. Die Grenze selbst hält sich auf einer 80 km langen Strecke wenige Kilometer östlich von der Maas und schneidet bei Aachen das kleine Gebiet von Deutsch-Altenberg oder Moresnet Der Wiener Kongreß hatte Moresnet 1815 vollständig vergessen, und da es wegen seiner einst ganz Europa versorgenden Galmeilager für seine Nachbarn Preußen und Belgien gleich wertvoll erschien, so wurde es, weil man sich über seinen Besitz nicht einigen konnte, ein neutrales Gebiet.. Über die linksrheinischen Hochflächen führt die Grenze weiter zum Großherzogtum Luxemburg und erreicht bei Longwy französisches Gebiet.
Die frühere deutsch-französische Grenze war keine Naturgrenze, und schon Friedrich der Große bezeichnete das Fehlen einer solchen als eine Ursache der häufigen Kriege zwischen beiden Nachbarn. Erst durch den letzten großen Krieg, der die Verluste von Jahrhunderten wieder einbrachte, haben sich hier die Bedingungen der Landesverteidigung wesentlich zugunsten Deutschlands verändert, indem die neue politische Scheidelinie ohne Rücksicht auf die Sprachgrenze lediglich nach militärischen Gesichtspunkten neu gezogen wurde. Soweit sie mit den Vogesen zusammenfällt, kann sie als beste Naturgrenze Deutschlands gelten. Anfangs durchschneidet sie ohne starken, sichernden Abschluß, den hauptsächlich die das Moseltal sperrende Festung Metz bewirken muß, die lothringische Stufenlandschaft. Dann folgt sie dem wasserscheidenden Kamme der Vogesen, auf dem sie durch eine künstliche, 4 m breite Waldlichtung markiert wird. Nicht allzuviele Straßen führen über den Kamm des wenig wegsamen Gebirges. Die meisten hören mit der letzten Siedelung unweit der Grenze auf, die auch von keiner der in den beiderseitigen Vogesentälern aufwärts ziehenden Eisenbahnen überschritten wird.
Insgesamt sind an der 442 km langen deutsch-französischen Grenze acht Übergangsbahnen vorhanden, weil die hohe Kultur beider Länder und die Verschiedenartigkeit ihrer Erzeugnisse einen regen Güteraustausch hervorrufen und weil Deutschland einen nicht geringen Teil des französischen Handels mit Rußland und Österreich zu vermitteln hat. Die wichtigste dieser Bahnen führt, begleitet vom Rhein-Marnekanal, als ein Teil der europäischen Straße vom Atlantischen Ozean zum Schwarzen Meer über den durch die Festung Straßburg geschützten Paß von Zabern. Eine andere Hauptlinie folgt neben dem Rhein-Rhônekanal der 38 km breiten Senke, die als Burgundische Pforte oder als Trouée de Belfort zwischen den Vogesen und dem Jura seit alters eine der wichtigsten Heer-, Völker- und Handelsstraßen Europas war und durch die starke französische Grenzfestung Belfort gedeckt wird. Hier fand 1871 die dreitägige Schlacht an der Lisaine statt, in der das Werdersche Korps den von Bourbaki versuchten Vorstoß nach Deutschland zurückwies. Die Franzosen haben den strategischen Wert Belforts richtig eingeschätzt; denn vor die Wahl gestellt, in den Einzug der Deutschen in Paris oder in die Abtretung Belforts zu willigen, verstanden sie sich zu ersterem und haben damit ein für uns sehr unangenehmes Ausfallstor behalten.
Die 2550 km lange Südgrenze wird zunächst durch den Rhein gebildet, der aber keine strenge Scheide ist, weil die Schweiz wiederholt auf die rechte, deutsche Seite übergreift, während umgekehrt bei Konstanz badisches Gebiet auf schweizerischem Ufer liegt. Da die kleine Republik ein lebhaftes Industriegebiet und zugleich ein wichtiges Durchgangsland ist und einer starken Getreideeinfuhr bedarf, so führen auf der kurzen Strecke von Basel bis zum Bodensee neun Eisenbahnen über den Rhein.
Am Ostufer des einem lebhaften Ortsverkehr dienenden Bodensees setzt als unsere längste Grenze die österreichische Grenze ein, eine wohl ausgeprägte, vorwiegend durch Gebirge gebildete Naturgrenze, wenngleich die natürliche Grenzlinie der wasserscheidenden Hauptkämme im einzelnen nur selten mit der politischen Grenze zusammenfällt. Wie Deutschland seine Ergänzung in Österreich-Ungarn suchen muß, weil ihm jede Berührung mit dem Mittelmeer und den Donauländern fehlt, so müssen auch die österreichischen Waren ihren Weg durch Deutschland nehmen, weil der Kaiserstaat der direkten Verbindung mit den Nord- und Ostseeländern entbehrt; 35 Eisenbahnen und die Stromgebiete der Elbe und Donau vermitteln diesen Verkehr.
Anfangs folgt die Grenze als wenig wegsame Hochgebirgsgrenze den Voralpen und hat nur bei Kufstein und Salzburg wichtige Durchgangsbahnen. Ebenso besitzt der Böhmerwald trotz lebhafter Gebirgsindustrie bloß zwei von der böhmischen Stadt Pilsen abhängige Bahnübergänge. Dagegen verfügt das kleine Fichtelgebirge, das vier Flüsse und vier Gebirge entsendet, auch über vier Hauptbahnen, die in dem böhmischen Knotenpunkte Eger zusammenlaufen. Sechs Bahnübergänge, deren wichtigster durch die natürliche Pforte des Elbtals Berlin mit Wien verbindet, hat ferner das Erzgebirge, weil hier lebhafte Gewerbtätigkeit und die böhmische Bäderspalte anziehend wirken. Die Grenze folgt auch hier nicht der scharf ausgeprägten Wasserscheide, sondern greift über sie nach Norden hinaus und zeigt so viele Ein- und Ausbuchtungen, daß sie, obwohl in Luftlinie bloß 225 km lang, einschließlich aller Windungen 648 km mißt.
Die natürliche Grenzmauer der Sudeten ist im allgemeinen nicht leicht zu überschreiten. Immerhin führt auch über sie eine ganze Reihe bequemer Pässe, die, insbesondere der seine Pforten drohend nach Böhmen und Mähren öffnende Glatzer Gebirgskessel, im Siebenjährigen Kriege und 1866 eine kriegsgeschichtlich bedeutsame Rolle spielten und jetzt von 14 Eisenbahnen überschritten werden.
Jenseits der breiten Oderlücke, der sogenannten Mährischen Pforte mit der wichtigen Bahn Berlin-Oderberg-Wien, beginnt im Weichselgebiet und im oberschlesischen Kohlenrevier die russisch-polnische Grenze. Sie folgt in großem, nach West einspringendem Winkel, der drohend auf die deutsche Reichshauptstadt zielt, der Prosna, überschreitet oberhalb Thorn die Weichsel und erreicht endlich in weitem, wieder nach Osten ausgreifendem Bogen bei Nimmersatt die Ostsee. Nur auf dieser letzten Strecke machen sie ausgedehnte Wälder, Sümpfe und Seen mit ihren verwickelten Abflüssen zu einer wirksamen Schutz gewährenden Naturgrenze und lassen die trocken bleibenden schmalen Landstreifen als militärisch wichtige Engpässe erscheinen. Das ganze übrige Stück aber ist eine durchaus offene Grenze, die durch die Oberflächengestalt in keiner Weise vorgezeichnet ist, sondern unmerklich und unbestimmt, nur durch künstliche Grenzziehung markiert, durch das weite osteuropäische Flachland läuft. Starke Befestigungen suchen beiderseits unter Ausnützung der hydrographischen Verhältnisse dem Mangel dieser schwächsten Grenze nach Möglichkeit abzuhelfen, ohne ihn jedoch aufheben zu können. Im Warthe-, Netze- und Weichseltal bietet sie den Russen bequeme Einbruchslinien dar, weil hier die meist senkrecht zur Grenze verlaufenden Flüsse keine dem Rhein vergleichbare, der Grenze parallele Basis und Verteidigungslinie bilden Das Warthetal, mit welchem Rußland am tiefsten ins preußische Gebiet eindringt, erleichtert einen feindlichen Vorstoß nach dem hier nur 300 km von der Grenze entfernten Berlin. Daher die Sperrfestungen Posen und Küstrin..
Man sollte erwarten, daß eine derart offene Grenze den Verkehr in jeder Weise begünstige. In Wirklichkeit haben wir es jedoch wegen der strengen Absperrung und der geringeren wirtschaftlichen Entwickelung des Nachbarlandes mit einer ungemein verschlossenen Grenze zu tun, die bei 1300 km Länge bloß von sieben Eisenbahnen überschritten wird. Das deutsche Bahnnetz schiebt natürlich noch viel mehr Schienenwege unmittelbar bis an die Grenze vor, die aber wie viele Landstraßen russischerseits keine Fortsetzung finden, sodaß selbst der Kleinverkehr an der Grenze sein Ende erreicht. Noch deutlicher kommt die trennende Wirkung unserer Ostgrenze darin zum Ausdruck, daß sie in scharfem Gegensatz zur Westgrenze die alte, hohe Kultur West- und Mitteleuropas von der geringeren russisch-asiatischen Kultur trennt und dadurch nicht nur zur Scheide zweier Staaten, sondern zweier Welten wird.
Unsere Meeresgrenze endlich ist die beste Naturgrenze des Reiches. Obwohl kaum den dritten Teil (32 %) der gesamten deutschen Grenzen ausmachend, liegt an ihr die breite Basis Deutschlands, die allerdings die wichtigen Rheinmündungen nicht mehr umfaßt, dafür indes gleichsam zum Ersatz längs der Ostsee über das Gebiet Mitteleuropas hinausgreift. Die deutsche Seegrenze ist eine die Annäherung erschwerende Flachküste mit Watten, Haffen, Nehrungen usw., die trotz einer Reihe guter Zugänge – wie sie besonders Schleswig-Holsteins buchtenreiche Föhrdenküste mit der Lübecker, Kieler Bucht usw. darbietet – namentlich im untiefenreichen Wattenmeer an unsicherem Fahrwasser leidet. Hier gewährt sie als sogenannte eiserne Küste im Kriegsfalle zwar wirksamen Schutz, besitzt aber auch für den friedlichen Verkehr mancherlei Nachteile und verlangt dauernde Pflege. Die Ostseeküste ist leichter zugänglich, hat jedoch eine für die Verteidigung unbequeme Länge. Des Deutschen Reiches Wasserkante ist zu drei Viertel Ostseeküste.
In der Jütischen Halbinsel, über die quer hinweg die 115 km lange deutsch-dänische Grenze zieht, erleidet unsere Seegrenze eine Unterbrechung. Diese kürzeste deutsche Landgrenze vermittelt keinen sonderlich lebhaften Verkehr, weil Dänemarks Produktionsverhältnisse denen des deutschen Nachbargebietes nahe verwandt sind und weil der kleine Staat kein Durchgangsland für den weiteren Verkehr ist. Dänemarks Schwerpunkt liegt in seinen Inseln, durch die es trotz seiner Kleinheit die Ostsee beherrscht, obwohl durch die Ausdehnung ihrer Küsten und ihres Hinterlandes wie nach Volkszahl und Produktionskraft Deutschland und Rußland die eigentlichen Ostseemächte sind. Die Ostsee kommt aber wegen ihrer Abgelegenheit vom offenen Ozean, wegen des leichten Gefrierens des salzarmen Binnenmeeres, wegen des vorwiegend landwirtschaftlichen und deshalb minder kaufkräftigen, auch im Verkehrswesen weniger entwickelten Hinterlandes erst in zweiter Linie für den Welthandel in Betracht. Überdies sind die meisten Ostseehäfen für die atlantischen Riesendampfer zu klein, wenn auch der durch den Bau des Nordostseekanals gesteigerte Verkehr zu umfassenderen Hafenbauten und Ausbaggerungen Anlaß gegeben hat. Der Kaiser-Wilhelms-Kanal, der die Ostsee dem Atlantischen Ozean näher brachte, hat zugleich unsere Flotten von der dänischen Bevormundung unabhängig gemacht und ein Gegengewicht zum Sunde geschaffen, indem er Deutschland eine selbständige Verbindung zwischen seinen beiden Meeren gewährleistete und es dadurch zur ersten Ostseemacht emporhob.
Solange der Atlantische Ozean noch nicht befahren wurde, war die landumkränzte Ostsee mit ihren leicht erreichbaren Gegengestaden für den deutschen, besonders den Hansahandel von entscheidendem Werte. Als sich jedoch im Entdeckungszeitalter der Hauptschauplatz des Handels auf den Atlantischen Ozean verschob, da verödete sie und wurde von der glücklicher gelegenen und leichter zugänglichen Nordsee überflügelt, deren Handel rasch aufzublühen begann. Obwohl unsere Nordseeküsten viel kürzer als unser Ostseegestade sind, gehören ihnen von den 34 deutschen Seehäfen 18 an, deren Verkehr den Ostseeverkehr um mehr als das Doppelte übertrifft, weil die Nordsee von den bedeutendsten Handels- und Industriestaaten Europas mit einer dichten, aufnahmefähigen Bevölkerung umrandet wird, weil sie wegen ihres hohen Salzgehaltes nicht gefriert und eines der ergiebigsten Fischereigebiete ist Der Wert der dort jährlich gefangenen Fische beträgt 17½ Millionen Zentner im Preise von 146 Millionen Mark. Bei 550 000 qkm Fläche ergibt sich für 1 qkm der Nordsee ein Nutzungswert von 265 Mark aus der Fischerei.. Die Hauptbrennpunkte des deutschen Nordseeverkehrs sind Hamburg und Bremen, die den deutschen Verkehr in solchem Maße bestimmen, daß seine NW-SO gerichtete Hauptachse mit 3? Milliarden Mark die stärkste ist und daß unsere Handelsmarine und unser Überseehandel diejenigen ungleich begünstigterer Staaten wie Frankreich und Spanien weit überflügelt haben. Deutschland, einst das Aschenbrödel Europas, ist zu einer Großmacht und Welthandelsmacht ersten Ranges geworden. Das dankt es neben der tatkräftigen Unternehmungslust seiner Bewohner und dem weiten Blick seiner Herrscher nicht zum wenigsten auch zwei Faktoren, die stets tief beeinflussend in das Wohl und Wehe unseres Vaterlandes eingegriffen haben, seiner zentralen Lage und seinen offenen Grenzen.
Aus der Festschrift zur Feier des 70. Geburtstages von J.J. Rein. Bonn 1905. L. Röhrscheid.