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3. Mittenwald, das deutsche Cremona.

Wenn du, lieber Leser, eine jener bodenständigen Industrien oder besser Kunstindustrien des deutschen Alpenlandes kennen lernen willst, so folge mir in einen Marktflecken, da gelegen, wo die Isar die Grenze Tirols überschreitet und die bescheidene Leutasch aufnimmt, deren Wasser jedoch nur zum Teil im natürlichen Bett die stattlichere Isar erreicht, weil es durch einen Kanal menschlicher Hantierung dienstbar gemacht wird. Es ist Mittenwald. Als offener Kanal rollt die Leutasch ihre Wasser über den Marktplatz, dessen Häuser sich am klaren Sonntagnachmittag in den Wellen spiegeln. Gar manche der Häuser, deren Fuß die Leutasch netzt, sind mit Wandgemälden geschmückt, andere erinnern mit den vorspringenden Erkern und den schönen Gewölben in den Hausfluren an eine bessere Vergangenheit. Die Liebe der Älpler zu entschiedenen Farben bestimmte auch das bunte Kleid der Häuser; an den nach einem großen Brande aufgeführten Neubauten ist freilich das mittelalterlich Anheimelnde durch das nüchtern Praktische ersetzt worden. Doch läßt sich trotzdem getrost behaupten, daß Mittenwald die alte eigentümliche Bauweise, welche mit der großartigen Umgebung in ihrer Vielgestaltigkeit übereinstimmt, treuer bewahrt hat, als viele jener Dörfer und Marktflecken im bayerischen Oberlande, deren öder Baustil an die Arbeiterviertel in den Vorstädten großer Orte erinnert.

Das deutsche Cremona verdient es genannt zu werden, weil es gleich dem italienischen Orte die besten Geigen in die Welt sendet. Wie die Kunstindustrie des Baues von weltberühmten Saiteninstrumenten in jenen stillen Marktflecken am engen Felsental der Isar kam, sei hier kurz erwähnt. Vor etwa 250 Jahren wurde im Gleirschtale ein junger Mann viel bemerkt, der in jener Felsschlucht, deren Rinnsal den Quellbächen der Isar angehört, mit prüfendem Auge die stolz aufragenden Fichten betrachtete. Er war nicht Holzfäller und nicht Jäger, Touristen waren damals noch nicht in der Mode, man zerbrach sich die Köpfe, was er wohl an den Stämmen suchte, an die er sein Ohr legte, wenn er mit dem Hammer einen Schlag daran getan. Seine Aufmerksamkeit wandte er besonders jenen Riesen zu, deren Wipfel das Absterben deutlich kennzeichnete. Bei gefällten Stämmen untersuchte er die Größe und den Abstand der Jahresringe voneinander; am liebsten jedoch weilte er an jenen Stellen, wo die Holzknechte die Äxte schwangen und die vom Astwerk gesäuberten Stämme den Abhang hinunterrollten. Da horchte er gespannt auf den Ton, den jene Riesen beim Absturz von sich gaben. Und freudige Erregung zuckte über sein Antlitz, wenn ihm von ferne ein Sang ans Ohr schlug, jenem ähnlich, den das Ohr an Telegraphenstangen vernimmt, wenn der Wind in den Leitungsdrähten spielt. Wir haben den jungen Jakob Stainer aus dem Dorfe Absam vor uns, den Sohn armer Bauersleute, der sich aus eigener Kraft ohne italienische Schulung die Kunst des Geigenmachens angeeignet hatte und bereits in den Jünglingsjahren zu Ruf und Ansehen gelangt war. Viel weiß die schreibsüchtige Neuzeit von ihm zu berichten; sie macht ihn zum Helden von Novellen, von denen die einen ihn vor Liebesgram wahnsinnig werden lassen, während er nach anderen schwermütig in den Tälern der Heimat umherzieht, seinen Schmerz durch die melancholischen Töne seiner Geige ausdrückend; er ist beinahe ein ebenso beliebter Vorwurf für Novellenjäger wie Andreas Hofer. Das Wenige, was die Geschichte uns über den verdienten Mann verbürgt, läßt erkennen, daß er sich zwar an den Werken des berühmten italienischen Geigenbauers Amati gebildet, aber kraft des Genies Bau, Ausrüstung und Klang seiner Geigen so eigentümlich gestaltet hat, daß er als Vater der deutschen Geige zu bezeichnen ist.

Fremde Kaufleute verbreiteten mit seinen Geigen, die sie auf den Märkten zu Hall bei Innsbruck erstanden, zugleich seinen Ruhm. Nicht bloß Kunden, sondern auch lernbegierige Schüler stellten sich ein, darunter auch der Bauer Matthias Klotz aus Mittenwald an der Isar. Als Künstler im Berufe kehrte er in den armseligen Marktflecken zurück, der in den umgebenden Fichtenbeständen treffliches Material und dazu auch eine Bevölkerung mit bildungsfähiger Hand besaß, um den Geigenbau als neue Nahrungsquelle einzuführen.

Besondere Umstände handelspolitischer Natur kamen dazu, um das Kunsthandwerk Mittenwalds zu rascher Blüte zu bringen. Im Jahre 1487 war durch den Erzherzog Sigmund 130 Kaufleuten aus Venedig auf der Messe zu Bozen übel mitgespielt worden, wodurch sich die Handelsherren der Lagunenstadt arg verletzt fühlten. Hatten bisher die deutschen und italienischen Kaufleute auf den Bozener Messen Waren- und Rechnungsgeschäfte erledigt, so mieden sie nach jenem Vorfall die alte Handelsstraße und verlegten den Stapel der Waren wie die Abrechnung mit den deutschen Geschäftsfreunden nach Mittenwald, einem Ort, der schon von jeher Maultierkarawanen nach Welschland hatte durch seine Straße ziehen sehen. Da brach für den kleinen Marktflecken die goldene Zeit an; Fremdenverkehr, Zölle, Lagerhäuser brachten hohen Gewinn; Fuhrleute, Lastträger, Gastwirte, Schmiede u. a. freuten sich reichlichen Verdienstes. Da erstanden Häuser patrizischen Aussehens, da nahm das Leben leichtere, zuweilen wohl auch leichtfertige Formen an, alle Stände gewöhnten sich bei dem spielend gewonnenen Reichtum an einen gewissen Luxus. Plötzlich erfolgte 1679 ein gewaltiger Rückschlag, indem sich der Verkehr in seine alte Bahn zurückwandte und die Straße am Lech über Füssen eröffnet wurde, sodaß Mittenwald plötzlich in alter Vereinsamung abseits vom Weltverkehr lag. Gar schwer klagten da viele, die zwar die Mittel zum gewohnten Leben eingebüßt, die Lebensgewohnheiten jedoch nicht wie ein Kleid abstreifen konnten.

In jener kritischen Zeit kehrte Matthias Klotz von Absam zurück, er brachte Brot, wenn auch kein spielend zu verdienendes, so doch ein ehrliches, dauerndes. An Schülern fehlte es ihm nicht, und bald begegnete man auf den Märkten und Straßen Tirols, Bayerns und der Schweiz den ehrsamen Mittenwaldern, die in Tragkörben ihre Geigen, Baßgeigen und Gitarren feilboten. Einige 50 Jahre war man auf die genannten Absatzgebiete und den kunstlosen Vertrieb beschränkt.

Durch die Gründer des gegenwärtig ersten Geschäftshauses in Mittenwald, durch Johann und Matthias Neuner, wurden (1730) für die Saiteninstrumente andere Märkte gewonnen; arbeitete doch Matthias längere Zeit in London, machte er doch Reisen bis ins Innere des Zarenreichs, um der heimischen Kunstindustrie den Weltmarkt zu erobern.

Die beiden ersten Firmen in Mittenwald – Neuner-Hornsteiner und Johann Anton Bader – kennen heute den Hausierhandel natürlich nicht mehr. Sie betreiben das Geschäft rein kaufmännisch, »verlegen« nach dem landläufigen Ausdruck; sie nehmen den Arbeitern ihre Erzeugnisse gegen festen Preis ab, weisen diesen einen Platz in ihrem Magazine an und sorgen für den Vertrieb. Da kann man im Neunerschen Lagerraume Tausende von Saiteninstrumenten des Versandes harren sehen; da treffen Briefe aus den Ganges-Ländern und Amerika ein mit Aufträgen. Wie hat aber auch das Welthandelshaus den Geschmack seiner Abnehmer, selbst der fernsten, studiert und in den Zeichnungen und Masern im Holze zur Geltung gebracht; hier findet der Yankee ebensogut, was er sucht, wie der genügsame Hindu. Und welcher Gegensatz! Von den Geschäftsbriefen mit den fremden Ortsnamen werfen wir einen Blick durch die Kontorfenster; da ragt der Karwendel auf, schneebedeckt, an gar manchem Tage von Gemsen belebt.

Das Geschäft mit den fremden Ländern hob sich besonders, seitdem die norddeutschen Dampfergesellschaften einen regelmäßigen Verkehr nach Amerika und Asien herstellten; heute wandern jährlich etwa 10 000 der geschätzten Saiteninstrumente in alle Erdteile. Neben dem Bau der Geige ist der der Zither in besonderer Blüte, und es ist selbstverständlich, daß im Alpentale jenes alpenhafte Instrument hergestellt wird, dessen nachzitternde Töne an den Widerhall erinnern, an das Echo, das von Felswänden zu uns zurücktönt. In Neuners Lagerhause könnte man die Geschichte des Zitherbaues studieren von den ältesten Formen und Besaitungen bis zu den neuesten Mustern. Und die namhaftesten Zithermacher in München und Wien sind Mittenwalder.

Schon wenn man die Straße von Partenkirchen oder Walchensee herkommt, fallen einem die mächtigen Bretterstöße auf, die das Rohmaterial der Industrie darstellen. Doch lange, mindestens 30 Jahre lang dauert die Vorbereitungszeit, ehe an eine Verarbeitung zu denken ist; denn das rechte Lager ist die Gewähr für guten Klang des Instrumentes. Das gelagerte Holz gelangt sodann in die vom Leutasch-Bach getriebenen Neunersägen, wo mindestens 50 000 Violinböden und eine entsprechende Zahl anderer Holzstücke zugeschnitten bereit liegen, um der menschlichen Hand zur Bearbeitung überliefert zu werden. Ist das Instrument geschnitzt, geleimt und lackiert, so wird es auf den flachen, mit Steinen gedeckten Dächern in die frische Zugluft zum Trocknen ausgestellt oder an Stricken zu demselben Zwecke aufgehängt. Der kostbare Lack, der sich so schön und glänzend anlegt, ist ein Geheimnis der genannten Weltfirmen. Die Instrumentenfabrikation ist eine Hausindustrie; Männer wie Frauen finden wir da an der Arbeit, bei welcher die größte Teilung üblich ist: hier sitzen Form-, dort Körpermacher, der fügt den schlanken Hals an, jener die Griffe, der die Schrauben, die Stege, die Saitenhalter, die Frauen überziehen das Instrument mit glänzendem Lack; wieder andere fertigen oder überspinnen die Saiten und ziehen sie auf. Wohl gibt es noch hier und da einen Mittenwalder, der eine ganze Geige herzustellen vermag, ja, Johann Reiter ist durch seine ausgezeichneten Violinen geradezu berühmt, im allgemeinen ist es aber die Geigenmacherschule, welche jungen Leuten das Ineinandergreifen aller einzelnen Teile und Verrichtungen darlegt.

Was der blühenden Industrie nicht gerade förderlich ist, das ist der Mangel an Ausdauer bei dem Mittenwalder, sobald die Bäume sich belauben und die Wiesen grünen. Da wirft er am liebsten den Schnitzel beiseite, bessert Touristenwege, zieht mit in den Forst, und im Herbst läßt er sich die Heumahd auf keinen Fall entgehen; welche Lust, wochenlang in den Heustadeln zu nächtigen oder um das gesellige Feuer gelagert, das Mahl zu verzehren! Erst der Winter verleiht ihm wieder das rechte Sitzfleisch, und des Abends versetzt ihn dann der Klang der Zither mitten hinein in das Bild seiner Sehnsucht: da denkt er des Jägers im Bergforst, des Sennen auf der Alm, des Holzfällers im Bannwald, des stillen Kahnes auf kristallnem Bergsee, der mächtigen Fichte auf steilem Gehänge, deren Faser jetzt den Ton verstärkt zurücktönt. Ja, an ihr ist es wahr geworden, was einst der Botaniker Martius dem Großhändler Neuner in sinniger Weise als Motto für seine Geigen angegeben: »In silvis viva silui jam mortua cano«, als ich im Walde lebte, schwieg ich – tot, sing' ich.

Nach Heinrich Noë, Deutsches Alpenbuch I. Glogau, Flemming.


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