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Die Sachsen sind ein ruhiges, aber geistig sehr regsames, gewerbfleißiges und dabei anspruchsloses und mäßiges Völkchen, das, mit einem feinen Verstande begabt und stets aufgeweckten Sinnes, mit vielem Glücke nach den leiblichen wie nach den geistigen Gütern dieses Lebens zu ringen weiß und auch mit vielem Geschicke den Genuß beider verknüpft. Der meißnische Von den zehn Kreisen, in welche man einst Deutschland teilte, hieß einer Obersachsen; dieser umfaßte aber Thüringen, Meißen, Brandenburg und Pommern. Sachse, der das jetzige Königreich Sachsen einnimmt, ist, mit anderen deutschen Stämmen verglichen, von einer gewissen Weichheit, Biegsamkeit und Schmiegsamkeit, die ihn vor manchen Extremen bewahrt; er hat nicht die tiefgehende Gemütsenergie des Schwaben, nicht die heitere Lebenslust und derbere Natürlichkeit des Rheinländers und Österreichers, auch nicht die Schärfe und Kühnheit des Preußen, aber er ist auch weniger einseitig als seine Brüder und Vettern, erfreut sich einer Harmonie, eines Gleichmaßes seiner Kräfte, das ihn zum vermittelnden Bindegliede macht von Nord und Süd, Ost und West. Der Sachse ist das Bindeglied zwischen dem Deutsch-Österreicher und dem Preußen, dem Bayern und dem Schwaben, dem Pfälzer und dem Schlesier. Daß der meißnische Dialekt, wie er sich im 15. Jahrhundert im südlichen Teile Obersachsens ausgebildet hatte und in den Kanzleistil der sächsischen Fürsten übergegangen war, zur Zeit der Reformation und vor allem durch die meisterhafte Bibelübersetzung Luthers zur Schriftsprache des ganzen gebildeten Deutschlands erhoben wurde, war nicht zufällig, sondern Ergebnis eben seiner größeren Weichheit und Biegsamkeit. Alle Haupteinrichtungen des deutschen Kulturlebens treffen wir im kleinen Sachsen vereint, und es ist, als ob es seine Kraft in dem Maße konzentriert hätte, als unglückliche politische Verhältnisse ein Stück nach dem andern von diesem Lande abgerissen haben. Die glückliche Einheit von Lust an gelehrter Forschung und der Tätigkeit eines regen Fabriklebens, von kaufmännischem Handelsgeiste und musikalischem Sinne, von bürgerlicher Einfachheit und Sinn für äußere Eleganz und Schönheit hat sich das meißnische Sachsenland nicht zerreißen lassen. Wie sind doch die mannigfaltigsten Bildungsrichtungen in dem kleinen Sachsen zusammengedrängt! Man denke an die Vergangenheit: In Annaberg im Erzgebirge, wo noch jetzt eine Hauptniederlage von Spitzen ist, führte Barbara Uttmann um die Mitte des 16. Jahrhunderts das Spitzenklöppeln ein; zu Schneeberg ward um dieselbe Zeit durch Schürer Blauglas bereitet aus Kobalt und Quarzsand; Brand, ein sächsischer Kaufmann, machte zuerst Phosphor, Böttger in Meißen das erste Porzellan (1709), Schröter aus Hohenstein in Sachsen das erste Pianoforte (1715). Wie in den Fürstenschulen zu Meißen und Grimma die philologische Gymnasialbildung vorzugsweise einen fruchtbaren Boden fand, so errang sich zu Freiberg im Erzgebirge nicht bloß der Fleiß des Bergmannes, sondern auch die an den Betrieb des Bergbaues sich knüpfende Naturwissenschaft die ruhmvollsten Lorbeeren. Wie in Dresdens herrlichen Kunstsammlungen der feine, ästhetische Sinn zuerst eine blühende Stätte schuf und ein Muster für ähnliche Museen aufstellte, so ward in Leipzig von alters her die Musik gepflegt. Sebastian Bach war der bescheidene Kantor an der Thomaskirche; in neuerer Zeit wirkten namentlich Mendelssohn-Bartholdy, Niels Gade, Rietz, Reinecke und Nikisch durch die berühmten Gewandhauskonzerte und als Leiter des Konservatoriums für Musik. Richard Wagner war ein Leipziger Kind. Auch zu den Heroen der deutschen Dichtkunst hat Sachsen seinen Mann gestellt, nämlich Gotthold Ephraim Lessing, den Reformator des alten und Schöpfer des neuen Dramas, den unerbittlichen, feinen und scharfen Kritiker, den Gelehrten mit polyhistorischem Wissen und Urheber einer klassischen deutschen Prosa. Und wie ferner Chemnitz zu einer der ersten Fabrikstädte Deutschlands sich emporgeschwungen hat, ist wiederum Leipzig – neben seiner Bedeutung als aufblühende Industriestadt – als einer der ersten deutschen Handelsplätze zu bezeichnen und steht als Meßstadt und Mittelpunkt des deutschen Buchhandels einzig da.
Blickt man auf die Geschichte der Stadt Leipzig, so ergibt sich, daß die kulturgeographischen Faktoren, die vorteilhafte Lage in Deutschlands Mitte und die Fruchtbarkeit der umgebenden Landschaft, zwar immer bestimmend für die mächtige Entfaltung Leipzigs gewesen sind, daß aber die Stadt niemals eine Weltstellung hätte erreichen können, wenn ihre werktätige Bevölkerung mit diesen gegebenen Verhältnissen nicht in so umfassender Weise zu rechnen verstanden hätte, und wenn sie in diesen Bestrebungen nicht von ihren Landesfürsten vielfach begünstigt worden wäre.
Die erste Anlage mag von slawischen Fischern ausgegangen sein, die am Nordwestrande der heutigen inneren Stadt, nahe bei dem Zusammenflusse der Parthe und der Pleiße, ein Dorf bauten, das nach den damals vorgefundenen Linden (slaw. lipa) Lipzk – zu deutsch etwa Lindicht – genannt wurde. Als später die Deutschen kolonisierend vordrangen und die Slawen verdrängten oder unterwarfen, soll dort zum Schutze gegen slawische Überfälle, vielleicht durch Heinrich den Städteerbauer selbst, ein fester Ort angelegt worden sein. Tatsache ist, daß bis in unsere Zeit herein eine Gasse, die sich ebenda an der Pleiße hinzog, den Namen »alte Burg« oder »Altenburg« führte. Die neuen deutschen Ansiedler aber faßten südöstlich von dem ehemaligen Slawendorfe festen Fuß auf einem höher gelegenen Boden, wo sie vor Überschwemmungen sicher waren. Diese »neue Burg« wird, und zwar in der Namensform Libzi, zum ersten Male im Jahre 1015 erwähnt, unter dem Namen einer Stadt, d. h. eines befestigten Ortes. Nachdem dann (1017) Kaiser Heinrich II. die Kirche zu Leipzig nebst deren Einkünften dem Merseburger Hochstifte überlassen hatte, ward Leipzig bald darauf unter Otto dem Reichen, Markgrafen von Meißen, durch dessen Vater Konrad diese Würde in der Wettinischen Grafenfamilie erblich geworden war, mit einem Stadtrechte begabt, wonach es den Bürgern vergönnt war, ihre Einrichtungen nach dem Vorbilde von Halle oder Magdeburg zu treffen. Wir sehen, wie die bereits kräftig emporblühende Stadt durch Mauern und Gräben befestigt wird und ihren friedlichen, nur den Geschäften nachgehenden Bewohnern Sicherheit und Ruhe gewährt. Eben der vorhin erwähnte Markgraf Otto stiftete auch zwei Märkte zu Jubilate und Michaelis jedes Jahres (die nachherigen Messen!) und knüpfte an diese Stiftung das Vorrecht, daß innerhalb einer Meile Weges um die Stadt kein ihr schädlicher Markt abgehalten werden sollte. Diese Märkte brachten reges Leben in die Bürgerschaft, welche bald zu solchem Selbstgefühle kam, daß sie Ottos Sohne Dietrich selber den Fehdehandschuh hinwarf und die Mauern, die sie durch den Vater erhalten hatte, zur Verteidigung gegen den Sohn gebrauchte. Markgraf Dietrich überrumpelte die Stadt mit Hilfe des Kaisers, zerstörte die Mauern und ließ innerhalb der Stadt drei kleine Zwingburgen aufführen, von denen sich eine, die Pleißenburg (freilich in oft veränderter Gestalt), bis zum Jahre 1898 erhalten hat. Es war dies im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts, zur Zeit des mächtigen Emporblühens der deutschen Städte. Die Leipziger Kaufleute traten um diese Zeit zu einer geschlossenen Gilde zusammen, die Zünfte schlossen sich zusammen in gegenseitigem Wetteifer. So erstarkte die Bürgerschaft, und im hessischen Erbfolgekriege taten sich die Leipziger hervor durch große Kühnheit und Tapferkeit. Unter Anführung des Schenken Rudolf von Vargula überfielen sie das braunschweigische Lager zwischen Wettin und Halle und nahmen den Herzog Albrecht von Braunschweig gefangen, durch welche kühne Tat der Friede herbeigeführt wurde. Als einige Jahre später Leipzig durch Teilung an den Markgrafen von Landsberg, Dietrich den Weisen, gekommen war, erteilte dieser der frisch emporstrebenden Stadt einen Freiheitsbrief, worin er allen nach Leipzig kommenden Kaufleuten unbedingte Sicherheit für ihre Person und ihre Waren gelobte, selbst für den Fall, daß er mit ihren Landesherren in offener Fehde sich befinden sollte. Dieser Freiheitsbrief zog viele Käufer und Verkäufer auf den Leipziger Markt und bahnte den Übergang zur Messe. Zu den beiden bestehenden Jahrmärkten verlieh der sächsische Kurfürst Friedrich 1458 einen dritten, den Neujahrsmarkt, und trotz aller Anfeindungen des nachbarlichen Halle errang die Stadt Leipzig 1497 unter Maximilian I. auch die kaiserliche Bestätigung ihrer Märkte. Mehr noch als in diesem Jahre erkannte Kaiser Maximilian 1507 die Leipziger Märkte unter dem Namen kaiserliche Messen dergestalt an, daß im Umkreise von 15 Meilen kein Jahrmarkt, keine Messe oder Niederlage aufgerichtet und gehalten werden sollte, Käufer und Verkäufer unter kaiserlichem Geleit standen und sie niemand, bei Strafe der Acht, stören durfte; jede Stadt, die den Gerechtsamen Leipzigs zu nahe trat, sollte in eine Strafe von 50 Mark lötigen Goldes verfallen. Wenn auch das noch hie und da auftauchende Raubrittertum nicht immer an solche kaiserliche Verordnung sich kehrte, so war doch ein Damm gezogen und ein Rechtsboden gewonnen, der Leipzigs Bürgerschaft sehr zugute kam, sodaß sie auf diesem Grunde die höchst wichtige Niederlags- und Stapelgerechtigkeit erwarb Diese bestand in dem heute ganz unglaublich scheinenden Zwang, daß alle den 15-Meilenkreis kreuzenden Wagen nach Leipzig kommen, ihre Waren hier verzollen und eine gewisse Zeit zum Verkauf auslegen mußten.. Nach damaligem Brauche ließ sich Leipzig die errungenen Vorrechte durch eine besondere Bulle des Papstes (Leo X.) bestätigen und von den folgenden Kaisern stets erneuern. In anerkennenswerter Weise wandten auch die sächsischen Fürsten den Messen ihre Aufmerksamkeit zu, ließen die Straßen – soweit diese ihr Gebiet berührten und soweit es durch Verträge mit ihren Nachbarn geschehen konnte – in gutem Stande erhalten und sorgten für Sicherheit und Fortkommen der Reisenden.
Zu diesen Begünstigungen durch die Fürsten kamen aber auch manche Einwanderungen von Seiten Fremder, die ebenso günstig wirkten. So hatte schon zu Anfang des 13. Jahrhunderts die Reise Konrads von Wettin nach Italien zur Folge, daß lombardische Kaufleute nach Leipzig übersiedelten und durch ihre Gewandtheit im Wechselgeschäft, wie durch ihre Handelsverbindungen mit der Heimat die Handels- und Gewerbstätigkeit von Leipzig sehr erhöhten. Von diesen Lombarden mochten die früher in Leipzig befindlichen »italienischen Keller« herrühren. Die Bedrückung, welche im 16. Jahrhundert das gewerbkundige Volk der Niederlande durch Spanien erfuhr, führte auch manchen gewerbfleißigen Bürger in die Mauern Leipzigs und nährte die Stadt mit frischen Säften. So gründete der Kaufmann Ryssel aus Maastricht 1588 die erste Gold- und Silberspinnerei, und auf Anregung der Eingewanderten ward eine Botenpost errichtet. Um die Mitte dieses Jahrhunderts (1556-58) wurde auch unter dem Bürgermeister Lotter, »einem in der Architektur und Baukunst wohlerfahrenen und geübten Manne«, das jetzige alte Rathaus erbaut, vor dem sich heute das Denkmal erhebt, das die dankbare Stadt zur Erinnerung an die glorreichen Tage von 1870/71 nach Professor Siemerings genialem Entwurfe errichtete. Durch die Aufhebung des Edikts von Nantes kamen ferner manche französische Kaufleute nach Leipzig, und noch sind sehr ansehnliche Leipziger Häuser Sprößlinge jener französischen Kolonie. Die Bedeutung Leipzigs im europäischen Verkehre wuchs, seine Bewohner nahmen fast ohne Ausnahme den regsten Anteil am Handel, mit bewundernswürdiger Energie und Umsicht haben sie ihre Meß- und Stapelvorrechte zu wahren gesucht, und bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts herab gegen mehr denn vierzig Städte meist mit Glück verteidigt.
In den Kriegen, die Deutschland zerfleischten, hatte Leipzig besonders zu leiden, da seine Ebene die Heere anzog und vorzugsweise zum Schlachtfeld sich eignete. Welche Drangsale hatte die Stadt im Dreißigjährigen, dann im Siebenjährigen und endlich in den Freiheits-Kriegen zu leiden! In den Jahren 1631 bis 1642 hat Leipzig nicht weniger als fünf Belagerungen aushalten müssen! Im Siebenjährigen Kriege ist es dreimal besetzt worden und hat an Preußen gegen 12 Millionen Taler zahlen müssen. Schwer, sehr schwer war der Handel geschädigt, der alte, ehrenwerte Kaufmannsstand war fast zugrunde gerichtet – aber rasch erholten sich die meisten Handelshäuser wieder; es bewahrheitete sich das bekannte Wort des Generals v. Seydlitz, das er einem Leipziger Bürger gegenüber brauchte, der sich über die Härte Friedrichs des Großen gegen die Stadt beklagt hatte: »Seien Sie getrost! Und wenn der König das Pflaster von Leipzig ausreißen und sein Berlin damit pflastern ließe, so würde er doch den Segen von Leipzig nicht nehmen, welcher alle Erpressungen in kurzem vergessen machen wird.« Schon im Jahre 1780 belief sich der Betrag sämtlicher eingegangenen Waren auf 54 Millionen Mark, und 1789 zählte man bereits 270 Krämer, 137 deutsche, 24 französische und 12 italienische Handelsherren, welche insgesamt eine nicht geringe Zahl der übrigen Bürger in Tätigkeit setzten.
Mit dem zunehmenden Wohlstande wuchs auch das Streben nach Verschönerung der Stadt und die Lust an äußerem Glanze. Von der Nutzlosigkeit der Festungswerke hatte man sich im Siebenjährigen Kriege sattsam überzeugt. Die tiefen Festungsgräben, in denen das Wasser versumpfte, verpesteten die Luft; in der Tiefe, wo jetzt ein schöner Teich mit frischem Zu- und Abfluß die Parkanlagen schmückt, pflegte der Stadtkommandant wilde Enten zu schießen. Ein unternehmender Bürgermeister, Dr. Müller, verwandelte die Wälle und Gräben in einen Kranz von Promenaden, der sich zwischen dem Grimmaischen und Hallischen Tore zum wirklichen Park erweitert und gleicherweise die Schönheit wie die Gesundheit der Stadt aufs beste befördert. Die Tatkraft jenes wackern Bürgermeisters blieb nicht ohne wohltätige Folgen auf die Leipziger Bürgerschaft, welche fortan einen immer regern Sinn für Anlagen und Verschönerung öffentlicher Plätze entwickelte. Im Jahre 1857 ist der letzte Rest des Stadtgrabens zwischen dem Grimmaischen und Peterstore zugeschüttet, die daneben laufende erhöhte Promenade abgetragen und der so entstandene weite Raum mit Rasen und Blumenbeeten belegt, mit Bäumen und Gesträuch besetzt, von Fahr- und Fußwegen durchschnitten worden. Durch die erst in den allerletzten Jahren geschaffenen prachtvollen gärtnerischen Anlagen an der Westseite der inneren Stadt zwischen dem Neuen Rathaus und dem Töpferplatz wurde der Ring der Promenaden um die gesamte alte Stadt geschlossen. So breitet sich jetzt zwischen der innern und äußern Stadt ein landschaftliches Bild aus, das Leipzig zum größten Schmucke gereicht und nur in wenig deutschen Städten in gleicher Weise zu finden ist. Und nicht bloß die Freunde der Natur und des Schönen fühlen sich durch die mächtige Umwälzung befriedigt, sondern auch die, die in dem Leben des städtischen Körpers zunächst das Nützliche und Einträgliche berücksichtigt wissen wollen; denn es ist nahe dem lebhaftesten Teile der Stadt ein weiter Raum teils neu gewonnen, teils besser verwertet und damit dem rastlos vorschreitenden Unternehmungsgeiste sein Recht gewahrt worden. Wo längs der alten Stadtmauer sich unschöne und niedrige Wohnhäuser in ruhiger Abgeschiedenheit angesiedelt hatten, erheben sich heute stattliche Gebäude an breiten und lebhaften Straßen, und neue Verbindungsstraßen vermitteln den öffentlichen Verkehr zwischen der innern und äußern Stadt. Am Augustusplatze zieht der prächtige Bau des Städtischen Museums und des gegenüberstehenden Neuen Theaters die Augen der Fremden auf sich; ersteres ist ein redendes Zeugnis der Liebe eines Bürgers zu seiner Vaterstadt, des Kaufmanns Schletter, der seine höchst wertvolle Gemäldesammlung ihr testamentarisch hinterließ und außerdem zur teilweisen Deckung der Baukosten des Museums sein schönes Haus vermachte; letzteres ist den herrlichsten Kunsttempeln Europas ebenbürtig an die Seite zu stellen.
Im preußisch-französischen Kriege (1806) mußte Leipzig die Beschlagnahme aller englischen Waren um 7 Millionen Franken loskaufen; es sah alle Häfen gegen England gesperrt, später mußte es sich sogar einen großen Vorrat englischer Waren verbrennen lassen. Dafür entwickelte sich jedoch die inländische Industrie um so schneller, und selbst in den unglücklichsten Kriegsjahren hatte sich Leipzig stark besuchter Messen zu erfreuen. Von den härtesten Schlägen ward die Stadt im Jahre 1813 betroffen, als die große Völkerschlacht in ihrer nächsten Nähe wütete, ja bis in die Stadt selber sich fortsetzte und in jenen denkwürdigen Tagen Leipzig in ein großes Militärlazarett verwandelte. In der Nähe von Probstheida, in der Gegend, in der die Schlacht am heißesten gewütet hat, ist ein Denkmal im Bau begriffen, das schon jetzt seine riesenhaften Dimensionen erkennen läßt und das am Tage der hundertjährigen Wiederkehr des gigantischen Ringens um die Freiheit des Vaterlandes seine Weihe erhalten soll.
Doch auch das Ungemach der napoleonischen Wirren ward überwunden. Dieselbe Lage, welche die Kriegsheere in den Ebenen Leipzigs so oftmals versammelt hatte, begünstigte ja auch die Meßstadt und machte sie zum Mittelpunkte eines großen Handelsverkehrs. Vermöge dieser Lage ist Leipzig der Mittelpunkt jenes Halbkreises, den die Elbe von Schandau bis Barby macht. Darum bildete sich eben hier ein bedeutender Straßenknoten, wo die Straßen nach Frankfurt und dem Rheine, nach Dresden und Breslau, nach Nürnberg und München, nach Magdeburg und nach Berlin sich kreuzten. Und der gleiche Knoten bildete sich, als die Eisenbahnen ins Leben traten.
In Leipzig vereinigen sich heute acht wichtige Bahnlinien, die jetzt noch in fünf verschiedenen Bahnhöfen auslaufen, in Kürze aber ihren gemeinschaftlichen Endpunkt in dem im Bau begriffenen Hauptbahnhof erhalten werden. Sein Hauptgebäude kommt an die Nordseite der hier zu einem Platz von gewaltiger Größe verbreiterten Promenade zu stehen und wird etwa das Gelände des bisherigen Thüringer, Magdeburger und Dresdener Bahnhofs bedecken. Die ganze Anlage wird nach ihrer Vollendung zu den größten ihrer Art in der Welt gehören. Für bequeme Zugänge zum Bahnhof von der inneren Stadt her hat man schon jetzt durch Verbreiterung einzelner Straßenzüge und Schaffung von neuen Durchbrüchen genügend gesorgt.
Da Leipzig sehr niedrig liegt – nur etwa 115 m über dem Spiegel der Nordsee –, sieht es auch drei Flüsse in seiner Nähe zusammenkommen: die Weiße Elster, die Pleiße und die Parthe. Diese Flußniederungen sind zum größeren Teile mit schönen Eichenwaldungen bedeckt; das anmutige Rosental (der Leipziger Prater) zieht sich bis an die Stadt heran, die sich somit auf vielen Punkten schattiger Spaziergänge zu erfreuen hat. Früher seiner großen Sterblichkeit wegen verrufen, ist Leipzig jetzt eine ebenso gesunde wie heitere und freundliche Stadt geworden. Sind auch fast alle die großen und schönen Gärten, die früher außerhalb der Stadt lagen, bereits ein Teil der Stadt selber geworden und mit Gebäuden ausgefüllt, so gibt es doch noch überall freie Durchblicke (mit Ausnahme des enggebauten Zentrums) und größere Plätze. Der schönste und größte ist der Augustusplatz, auf den die Grimmaische Straße mündet. Auf der einen Seite von dem herrlichen Universitätsgebäude mit seiner Kirche, und von dem umfänglichen Gebäude des 1856 bis 1858 errichteten, später erweiterten Städtischen Museums – auf der andern nördlichen Seite vom prächtigen Neuen Theater, das zu Anfang des Jahres 1868 eingeweiht wurde, dann von der Hauptpost und andern palastartigen Häusern begrenzt, bietet dieser große Platz, der im Mendebrunnen eine monumentale Zierde besitzt, eine prächtige Umschau, die namentlich des Abends, wenn von allen Seiten her Gasflammen und elektrische Bogenlampen leuchten, ganz feenhaft wird. Bis vor kurzer Zeit war dieser Platz zur Meßzeit der Brennpunkt der Buden und des kleinen Handels. Erwähnenswert ist ferner der Roßplatz, der sich vom Museum bis zum Königsplatze erstreckt und nördlich von prächtigen Parkanlagen umgeben, südlich durch schöne, palastähnliche Häuser begrenzt wird, von denen namentlich das Panorama, das Gebäude der Harmonie-Gesellschaft und das prunkhaft ausgestattete Café Bauer sich auszeichnen.
Im Jahre 1834 ward Leipzig noch mit 46 294 Einwohnern (einschließlich 1492 Militärs) aufgeführt; die am 3. Dezember 1871 vorgenommene Volkszählung ergab 106 925, die Volkszählung von 1880 149 084 Einwohner. Die Volkszählung Anfang Dezember 1885 ergab 170 340 Einwohner, also eine Zunahme von 41¼ Prozent jährlich seit 1871. 1890 war die Ziffer auf 179 689 gestiegen. Als nach der Teilung Sachsens die preußischen Schlagbäume bis nahe vor Leipzigs Tore rückten, sank der Verkehr bedenklich schnell, und man sagte der Meßstadt eine trübe Zukunft voraus. Doch der Zollverein trat ins Leben, und wie mit einem Zauberschlage nahm alles eine andere Gestalt an. In die Geschäfte kam neuer Schwung, in die Messen neues Leben; die reicheren Bürger zeigten wieder Unternehmungslust und machten ihre Kapitale flüssig. Man fing an zu bauen und wetteiferte förmlich darin, man fühlte sehr richtig, daß ein großes Haus in Leipzig mehr wert sei, als ein mittelmäßiges Rittergut auf dem Lande. So entstanden in einem einzigen Jahrzehnt im Osten zwei große neue Vorstädte, die Dresdener Vorstadt und die Marienvorstadt, mit langen, geraden Straßen, schönen Häusern und anmutigen Gärten; auf der entgegengesetzten Seite der Stadt aber, da, wo sonst der Reichelsche Garten sich ausbreitete, und weit hinter ihm, hatte der einsichtsvolle und unternehmende, im Jahre 1889 verstorbene Dr. Heine durch Austrocknen der sumpfigen Niederungen zwischen dem Gewirre der Flußarme einen unabsehbaren Raum dem öffentlichen Verkehre gewonnen. Breite, luftige Straßen, mit schönen Häusern und Villen besetzt, durchziehen jetzt denselben Boden, der noch vor wenig Jahrzehnten dem feuchten Volk der Frösche zum unbestrittenen Wohnsitze diente und durch seine Ausdünstungen in den benachbarten Stadtteilen Fieberepidemien verbreitete. Dort, im Westen der Stadt, erheben sich jetzt auch die der Stadt zu großer Zierde gereichenden, monumentalen Gebäude des Konzerthauses (sogenannten »Neuen Gewandhauses«), des Kgl. Konservatoriums der Musik, der neuen Universitätsbibliothek, der Kgl. Kunstgewerbeschule (mit Baugewerkenschule) und vor allem das kuppelüberragte Reichsgerichtsgebäude. In gleicher Weise ist die Stadt nach Süden und Norden fortgeschritten. Der bedeutsamste Schritt in ihrer großstädtischen Entwickelung hat sich um das Jahr 1890 vollzogen, in welcher Zeit Leipzig fast sämtliche Vororte bis auf 5 km Entfernung (vom Marktplatze aus gerechnet) sich einverleibte und dadurch einen Sprung in seiner Bevölkerungsziffer von 180 000 auf über 350 000 machte. Die Volkszählung vom 2. Dezember 1895 ergab eine Einwohnerzahl von 398 448. Heute hat die Stadt nach der am 1. Januar 1910 vollzogenen Eingemeindung von weiteren fünf Vororten die halbe Million bereits erheblich überschritten. Wie alle Großstädte zeigt nun Leipzig auch immer mehr das Bestreben, sich eine besondere »City« zu bilden; ist doch die Bevölkerung seiner »inneren« Stadt vom 1. Dezember 1885 bis 2. Dezember 1895 von 25 016 Einwohnern auf 19 635, d. h. 21,5 Prozent (jährlich 2,1 Prozent) zurückgegangen. Für die Beschaffung des durch die rasche Zunahme der Bevölkerung sich steigernden Bedarfs an Lebensmitteln ist im Süden der Stadt ein neuer Vieh- und Schlachthof von gewaltigem Umfange erbaut worden, dem sich – gleichen Zwecken dienend – im Innern der Stadt eine modernen großstädtischen Einrichtungen entsprechende Markthalle zugesellte.
Zur Schaffung von allerlei Anlagen für die erholungsbedürftigen Großstädter eigneten sich besonders die ausgedehnten Wiesen im Westen und Südwesten der Stadt. So entstand auf dem Gelände der ehemaligen Leipziger Industrieausstellung vom Jahre 1897 der prächtige Albertpark, westlich von ihm zwischen der Plagwitzer und der Frankfurter Straße der Palmengarten, ein großer Ziergarten mit einer 1200 qm großen Palmenhalle und einem vornehmen Gesellschaftshaus, und wiederum an diesen sich anschließend jenseits der Frankfurter Straße der Sportplatz mit der Radrennbahn, Tennis-, Fußball- und anderen Spielplätzen. Der ins Riesenhafte wachsende Organismus der Stadt erforderte auch immer größere Mittel zu seiner Verwaltung. Die Räume des alten, am Markte gelegenen, zudem baufälligen Rathauses waren längst zu eng geworden. In den Jahren 1899-1905 erbaute die Stadt auf dem Gelände der niedergelegten Pleißenburg – nach den Plänen des Baurates Licht – das Neue Rathaus, einen der schönsten derartigen Bauten der Gegenwart. Die neue Burg, in der sich kraftbewußter Bürgersinn verkörpert, wird überragt von einem 111 m hohen Turm, der auf den Fundamenten des alten Pleißenturms steht und von dem aus man einen herrlichen Blick über die ganze Stadt genießt. Neben hunderten gut belichteten Arbeitszimmern enthält das Gebäude prunkvolle Repräsentationssäle. Der Künstler hat für sein Werk antikisierenden Stil gewählt, ihm aber auch Leipziger Baucharakter verliehen. Die Giebel, überhaupt die Partien über dem Kranzgesimse, tragen Motive, wie sie in ähnlicher Form an älteren Leipziger Wohnhäusern zu finden sind. Kerndeutsch sind die zahlreichen, von kräftigem Humor zeugenden Zutaten und geheimnisvollen Zieraten: die vergnügten Löwen am Haupteingang, der kauende Riese am Eingang zum geräumigen Ratskeller u. v. a. Aber für den gewaltigen Verwaltungsapparat genügt auch dieser Riesenbau noch nicht. Unmittelbar neben ihm ist jetzt ein weiteres großes Verwaltungsgebäude entstanden. Das Alte Rathaus, das durch einen schwierigen Renovierungsbau seine ursprüngliche Gestalt mit den prachtvollen Säulenhallen und dem imposanten langen Dachfirst wieder erhalten hat, dient heute seinen früheren Zwecken nicht mehr. Wie es selbst ein Stück ehrwürdiger Geschichte darstellt, so beherbergt es jetzt in einem großen Teil seiner Räume das Museum für die Geschichte der Stadt Leipzig. Ziehen wir noch die später näher zu besprechenden Neubauten für Handelszwecke in Betracht, so erblicken wir an allen Orten der Stadt ein reges Leben und haben in den fortwährenden Veränderungen des äußeren Stadtbildes den augenfälligsten Beweis der kraftvollen Entwickelung des großen Kommunalwesens.
Die Wohnhäuser Leipzigs sind meist hoch, die Zimmer groß und hell, die Verhältnisse einfach, aber elegant, dem Luxus vollen Spielraum lassend. Die früheren, pyramidenartig spitz zulaufenden Dächer haben meist platten Dächern weichen müssen; freilich fallen nun auch die Erker weg und damit manche malerische Abwechselung in der Häuserreihe. Von aristokratisch sich abschließenden Palästen ist, abgesehen vom vornehmen Westen und dem neuesten, im Norden auf dem Gebiete des ehemaligen Exerzierplatzes entstehenden Stadtteile, nicht viel zu finden; selbst die schöneren Häuser behalten, wie sie bürgerlichen Ursprungs sind, auch ein bürgerliches Gepräge, indem der unterste Stock sogleich zu Läden mit mächtigen hellen Spiegelscheiben, zu Gewölben und Geschäftslokalen verwandt wird. Seltener nur erhebt sich hier und da in der Straßenzeile ein architektonisch besonders schönes Haus, das ebensosehr vom Reichtume, wie vom Kunstsinne seines Erbauers Zeugnis gibt; in einer betriebsamen Handelsstadt muß auch das Schöne vor allen Dingen praktisch sein, und der Leipziger zumal versteht es, mit seiner geschäftlichen Hantierung möglichsten Glanz, mit dem dulce das utile zu verknüpfen. So kommt es, daß sich auch manche arme Familie eine Wohnung mietet, deren immerhin oft ansehnliche Miete sie mit eigener Kraft nicht erschwingen könnte; aber zur Meßzeit drückt sie sich in ein Hinterstübchen zusammen, und in einigen Wochen hat sie von den fremden Kaufherren den Mietzins so ziemlich wieder herausgeschlagen, sodaß sie die geräumigen schönen Zimmer den übrigen Teil des Jahres fast umsonst bewohnt. Da kommt erst ein Lederhändler, dann ein Tuchhändler, endlich ein Buchhändler – sie alle beziehen der Reihe nach dasselbe Zimmer. Auch die meisten Gasthöfe machen ihren Hauptverdienst zur Meßzeit.
Es finden alljährlich drei Messen statt, deren Dauer bei den beiden Hauptmessen auf je drei, bei der dritten auf zwei Wochen festgesetzt ist. Der Anfang der Messen wird nach einem gewissen Sonntage bestimmt; bei der Ostermesse (der lebhaftesten) ist dies der Sonntag nach Ostern; bei der Michaelismesse der Sonntag vor Michaelis, neuerdings der letzte Sonntag im Monat August; bei der Neujahrsmesse dagegen immer der 2. Januar.
Den beiden Hauptmessen geht ein eigenartiger Vorläufer, die sog. Vor- oder Mustermesse voran.
Die Leipziger Messe hat nämlich ihren Zweck gegen früher wesentlich verändert Nach A. Wünsche, Schulgeographie von Sachsen. 2. Aufl. Leipzig 1909, Dürrsche Buchhandlung.. Während früher der Kaufmann oder Fabrikant mit einem reichen Warenlager erschien, das er zu dem Zwecke mitbrachte, um es bis zum letzten Stücke loszuschlagen, kommen heute Tausende von Verkäufern lediglich mit einem Musterlager ihrer Waren; und Tausende von Käufern kommen, nicht, um gekaufte Waren gleich mitzunehmen, sondern um eine Musterschau zu halten und dann ihre Bestellungen aufzugeben. Diese Musterausstellung und Musterschau findet nun in der Mustermesse statt. Daß diese zu Ostern der eigentlichen Waren- oder Budenmesse einige Wochen vorangeht, hat seinen Grund in dem oft sehr spät fallenden Ostertermine; zu Michaelis fällt sie mit dem Anfange der Hauptmesse zusammen. Auf der eigentlichen Messe dagegen findet auch heute noch der Warenverkauf wie in alter Zeit und wie auf jedem kleinen Markte statt.
Kommt die Zeit der Vor- oder Mustermesse heran, so gilt es, für die vielen Tausende von Musterlagern Platz in den Häusern der inneren Stadt zu schaffen, denn ein Aufbau von Buden findet da nicht statt. Die neuen städtischen Kaufhäuser fassen trotz ihrer Größe nur einen kleinen Teil der Musterlager, auch die Gasthäuser reichen bei weitem nicht aus. Da stellen sich die Privathäuser zur Verfügung: zahlreiche Ladeninhaber räumen ihre Auslagen und Verkaufsräume auf acht Tage aus und nehmen Musterlager auf: in Hunderten von Privatwohnungen drängt sich die Familie in wenige Räume zusammen und überläßt die übrigen Zimmer an Aussteller. Die Häuser der inneren Stadt bedecken sich nun mit Tausenden von Plakaten; an den Toren und Türen der Häuser, an den Wänden der Hausflure und Höfe, in und neben den Fenstern; überall Plakate! Sie strecken sich weit in die Gassen hinaus oder flattern als Fahnen über den Köpfen der Passanten. Allein in der Petersstraße quartieren sich weit über 1000 Aussteller ein; im Neumarkt (worunter gegenwärtig eine Straße zu verstehen ist) nicht viel weniger. In manchem Privathause, wie in Auerbachs Hof, zählt man mehr als 100 Aussteller. Trotz alledem genügte für die steigende Zahl der Aussteller der vorhandene Raum nicht. So hat sich die Stadtverwaltung entschlossen, an Stelle des ganzen Straßenzuges an der Grimmaischen Straße zwischen Neumarkt und Reichsstraße ein neues großes Ausstellungsgebäude, den »Handelshof«, zu errichten, das zur Michaelismesse 1909 seinem Zwecke übergeben worden ist. Dem Beispiel der Stadtverwaltung folgend, haben eine Anzahl Besitzer von Privathäusern durch umfangreiche Neu- und Erweiterungsbauten auf ihren Grundstücken weitere Räume für die Musteraussteller gewonnen, damit sich selbst und der Stadt gleicherweise Vorteile verschaffend.
Von dem Umfang und der Bedeutung der Mustermesse erhält man einen Begriff, wenn man hört, daß von den 3000 Ausstellern auf einer der letzten Messen 800 aus Sachsen, die übrigen aus allen Ländern Europas kamen, unter den Einkäufern dagegen alle Erdteile vertreten waren. Als Hauptindustriezweige fallen bei den Ausstellungen ins Auge: die vielseitige keramische, die Glas-, Metall-, Papier-, Leder-, Korb- und Spielwarenindustrie. Wer Neuheiten nach Leipzig bringt, der will sie auch möglichst vielen Augen vorführen. So hat sich eine höchst originelle, wandernde Reklame in den Hauptstraßen der inneren Stadt herausgebildet; es geht da in diesen Straßen zu, als wäre daselbst acht Tage lang Karneval. Da marschiert z. B. ein Zug in Frack und Zylinder bekleideter Männer einher, von denen jeder eine Riesenzahnbürste auf einer Stange trägt; ihnen folgen Ritter und Landsknechte, die einen neuen Fliegenfänger zur Schau tragen; Türken und Araber, Japaner und Chinesen tragen Kinderspielzeug, Christbaumschmuck, Zigarrenspitzen u. dgl. einher. Harmonikaspieler, Lampionträger, wandelnde Kaffeemühlen und Reisekoffer ziehen vorüber. Überall herrscht ein Menschengedränge zum Erdrücken, Tausende von Einkäufern mit dem Meßadreßbuche in der Hand suchen, was sie brauchen. Die Schutzleute haben alle Hände voll zu tun, damit der Menschenstrom nicht ins Stocken gerät.
Die eigentliche Budenmesse, die sich von den übrigen Jahrmärkten des Landes nur durch ihre längere Dauer und ihren größeren Umfang unterscheidet, ist aus der inneren Stadt heraus auf die Elsterwiesen zwischen Leipzig und Lindenau verlegt worden. Die Ursachen dafür sind in der früher üblichen Verzettelung der Meßbuden durch einen großen Teil der Stadt und in dem störenden Lärm zu suchen, den die mit der Verkaufsmesse verbundene Schau- und Vergnügungsmesse in den engen Plätzen und Straßen der Stadt verursachte. Den Engroshandel berührt diese Verlegung nicht. Der spielt sich nicht in Buden, sondern in Geschäften und Gewölben der inneren Stadt ab und hat in vielen Zweigen, wie im Rauchwarengeschäfte, seine alte, wichtige Bedeutung behalten.
Für den Pelz- und Rauchwarenhandel ist Leipzig geradezu der Hauptweltmarkt geworden. Die rohen Felle aus Amerika und Australien gelangen freilich in London, diejenigen aus Rußland und den Ländern Asiens auf den Messen von Irbit und Nischnij Nowgorod zum Verkaufe, Leipzig aber versorgt in erster Linie alle Märkte der Erde, auf denen überhaupt Bedarf hervortritt, mit fertig für den Verbrauch hergerichteten Rauchwaren. In Leipzig begegnen sich alle die wechselreichen Pelzprodukte, hier werden sie zugerichtet, und hier findet der Austausch zwischen den verschiedenen Warenarten statt. Nach Rußland werden amerikanische Rauchwaren, sogar auch russische zugerichtete Waren ausgeführt, nach Amerika und Westeuropa, einschließlich Englands, russische, aber auch amerikanische Rauchwaren. Das Rauchwarengeschäft beschränkt sich also nicht auf den Zwischenhandel mit rohen, zur Pelzbereitung bestimmten Fellen, sondern unterzieht einen großen Teil der Felle vor ihrer Weitergabe einer mehr oder weniger vollständigen Zubereitung. Der Gesamtumsatz des Leipziger Rauchwarengeschäfts beträgt jährlich durchschnittlich mehr als 40 Millionen Mark.
Dieser bedeutende Handel wird teils direkt, teils durch Kommissionäre und Mäkler besorgt, deren es eine große Anzahl gibt. Die Kaufleute finden sich auf dem Brühle zusammen, der sich in eine fortwährende Börse verwandelt; dann besuchen sie sich gegenseitig in ihren Lagern, fragen nach dieser und jener Ware und bieten die ihrige an. Die, welche die weiteste Reise zu machen hatten, wie die Amerikaner und Griechen, pflegen sich zuerst einzustellen.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Ostermesse für die Buchhändler. In dem schönen, mit einem großartigen Saale gezierten Deutschen Buchhändlerhause (1888 vom Börsenvereine der deutschen Buchhändler eingeweiht) halten dann die Herren Buchhändler, denen das Wohl und Wehe von tausend und abertausend schreiblustigen Federn anvertraut wird, ihren Reichstag, auf welchem wohl 300 auswärtige Buchhändler tagen und gegen 3000 Buchhandlungen durch ihre Kommissionäre sich vertreten lassen. Da werden dann die jährlichen Rechnungen ausgeglichen und die Zahlungen geleistet; jeder Verleger erfährt da, was die in alle Welt gesandten Bücher ihm Verlust gebracht haben, wenn sie als rückwärts marschierende Krebse wieder zum heimischen Herde zurückkehren, oder was sie ihm Gewinn gebracht haben, wenn das Publikum die Seelenspeise nahrhaft oder doch wohlschmeckend und gaumenkitzelnd gefunden hat. Es gehen da in wenigen Stunden große Summen aus einer Hand in die andere; im Zeitraume eines halben Tages ist in diesem großen Rate ein freier Überblick gewonnen über Soll und Haben, und das große, künstlich zusammengesetzte Geschäft des deutschen Buchhandels ist, dank dem persönlichen Verkehre, in wenigen Stunden geregelt! In früheren Jahrhunderten versammelten sich die Buchhändler zu diesem Zwecke in Frankfurt a. M. Der Umstand aber, daß die sächsische Regierung die Zensur in humanerer Weise ausübte und die Bücher von der Akzise befreite, veranlaßte zunächst die Buchhändler des nördlichen Deutschlands, sich von Frankfurt a. M. loszumachen und in der damals schon weltberühmten Meßstadt des Nordens einen selbständigen Büchermarkt zu begründen. Zur Michaelismesse 1594 erschien der erste Leipziger Meßkatalog, und seit 1764 besuchen die deutschen Buchhändler nur noch die Messen (Ostermesse!) in Leipzig.
Ist Leipzig schon als Meßstadt überhaupt für den Handel und die Gewerbtätigkeit Deutschlands ein Mittelpunkt, so ist es als Hauptstapel- und Kommissionsplatz des gesamten deutschen Buchhandels, Kunst- und Musikalienhandels für das geistige, ästhetische, ja für das gesamte Kulturleben Deutschlands von größter Bedeutung. Es bildet das lebendig pulsierende Herz jenes großartigen, wunderbaren Organismus des deutschen Buchhandels, dem kein anderes Land etwas Ähnliches an die Seite zu stellen vermag. Dieser Organismus teilt sich in drei Hauptorgane, die aber wieder auf das engste verbunden sind und ineinandergreifen, – nämlich in das Verlags-, Sortiments- und Kommissionsgeschäft. Die Verlagsbuchhandlung nimmt die Manuskripte der Autoren entgegen, erwirbt gegen Zahlung des Honorars das Recht, unter den mit dem Verfasser des Buches vereinbarten Bedingungen das Werk drucken zu lassen und zu verkaufen; sie sorgt für die Versendung und alles, was zum schnellen Absatze der Ware beitragen kann. Vom Standpunkte des Handels sind also die Verlagsbuchhändler die Produzenten der Ware und Großhändler. Sie schicken nämlich ihre Ballen zunächst an die Sortimentshandlungen, d. i. an die Kleinverkäufer, denen von jedem Buche, das sie absetzen, gewisse Prozente bewilligt werden. Diese Sortimentsbuchhändler sind also die eigentlichen Verkäufer, welche das Buch ihren Kunden zur Ansicht übersenden oder auf Bestellung liefern, oder sonst an den Mann zu bringen suchen. Sie brauchen aber (wie das noch vor 50 Jahren üblich war) die von den Verlagshandlungen zugesandten Bücher nicht fest zu übernehmen, sondern nur bedingungsweise (à condition), d. h. sie dürfen die Ware, die sie nicht absetzen, wieder an den ursprünglichen Eigentümer zurücksenden. Das sind dann die unwillkommenen, gefürchteten »Krebse«. Nun aber wäre es noch immer sehr beschwerlich, wenn jede einzelne Buchhandlung sich immer mit direkter Post an die Verlagshandlung wenden müßte, bei welcher dieses oder jenes Buch erschienen ist; für ein kleines Buch wäre dann nicht bloß viel Schreiberei, sondern auch viel Postporto zu zahlen, was den Verkehr und Preis der Bücher gleich sehr belästigen würde. Da tritt dann das Kommissionsgeschäft hilfreich ein. Es erwählt sich nämlich jeder außerhalb Leipzigs wohnende deutsche und auch mancher ausländische Buchhändler einen in Leipzig selber ansässigen Buchhändler als Beauftragten, durch den er ausschließlich alle an dieses und jenes Haus zu machenden Bestellungen, Zahlungs- und andere Aufträge sendet, und durch welchen er alle für ihn eingehenden Sendungen und Zahlungen empfängt. Hat er überdies noch eigenen Verlag, so legt er bei diesem, seinem Kommissionär ein Lager an, sodaß dieser nun die Bücher in seinem Auftrag ausliefert. Man erstaunt, wenn man die gewaltigen Büchervorräte erblickt, die bei einem einzigen Kommissionär aufgestapelt liegen! Im Jahre 1909 waren von 12 650 deutschen oder mit Deutschland verkehrenden Firmen 11 219 in Leipzig durch einen Kommissionär vertreten. Im Jahre 1909 erschienen im deutschen Verlagsbuchhandel über 30 300 Neuerscheinungen und neue Auflagen, die fast sämtlich über Leipzig zur Versendung gelangten. Sowohl durch Neugründung als auch durch Übersiedelung altberühmter Firmen erhält der Verlagsbuchhandel in Leipzig jährlich einen schätzenswerten Zuwachs.
Neben der großartigen Tätigkeit im Verlagsbuchhandel ist aber auch das Sortimentsgeschäft der Leipziger Buchhändler gleich rührig geblieben und hat sich gleichmäßig auf den Verkauf deutscher, ausländischer und antiquarischer Werke erstreckt. Die Werke der englischen, französischen, spanischen, italienischen, slawischen usw. Literatur werden für den Absatz in Deutschland zunächst auf die Leipziger Lager gesandt, jede neu erstehende deutsche Firma in London oder Paris, Madrid oder Mailand, Kiew oder Stockholm tritt vor allem mit Leipzig in Verbindung und bildet somit einen neuen Kanal und Verbindungsweg. Im Antiquariat, d. h. im Handel mit der älteren Literatur aller Zeiten und Völker, steht Leipzig wiederum mit in erster Linie. Der Geschichts- und Altertumsforscher, wie der Bücherliebhaber im allgemeinen, die sich alte Drucke, selten gewordene ältere Werke und Handschriften verschaffen wollen, wenden sich an einen Leipziger Antiquar Das sogenannte »moderne Antiquariat« befaßt sich mit dem Vertriebe neuerer Werke, deren Ladenpreis vom Verleger aufgehoben worden ist., der, vermöge des Umstandes, daß sowohl durch festen Ankauf, wie durch Versteigerungen ein großer Teil aller zum Verkauf kommenden Büchersammlungen nach Leipzig wandert, über eine Auswahl von Literaturschätzen verfügt, wie sie in keiner anderen Stadt zu finden ist. Von den größeren Antiquariatshandlungen hat jede ein Lager von Hunderttausenden größerer und kleinerer Werke, eine Zahl, die von den wenigsten öffentlichen Bibliotheken in der Provinz erreicht wird. Vier Auktionsinstitute arbeiten durch Versteigerung von Büchern, Handschriften und Kunstblättern dem Antiquariat wirksam in die Hände. Um dieselbe Tafel, um die heute die Vertreter der größten Bibliotheken der Welt und die Liebhaber seltener Bücher aus aller Herren Länder sich scharen und oft genug für ein unscheinbares Bändchen oder Blättchen viele Tausende von Mark zahlen, … sitzt morgen der Student, Lehrer usw., der sich um billigen Preis das notwendige literarische Handwerkszeug ankauft. Von nicht minder großer Wichtigkeit als der Buch- und Kunsthandel ist der Musikalienhandel, der ebenfalls den größten Teil des gesamten deutschen umfaßt. Eines besonderen Geschäftszweiges des deutschen Buchhandels, der sich zuerst in Leipzig entwickelt und dort seinen größten Aufschwung genommen hat, muß hier auch gedacht werden. Es ist das Barsortiment, das die gangbarsten Werke des deutschen Buchhandels in großer Zahl gebunden vorrätig hält und zum Original-Nettopreis des Verlegers an den Sortimentsbuchhändler abgibt. Das Barsortiment liefert an die Sortimenter übersichtlich geordnete Kataloge, die in alphabetischer Folge die vorrätigen Bücher aufführen, deren Gewicht in Gramm, Ladenpreis, Einbandsart, Nettopreis, sowie zur telegraphischen Bestellung einen Telegrammtitel angibt. Von der Ausdehnung eines solchen Barsortiments kann man sich eine Vorstellung machen, wenn man erfährt, daß der Katalog einer Firma etwa 50 000 Büchertitel und Lehrmittel aufweist. Interessant ist ein Blick auf das rasche Anwachsen des Leipziger Buchhandels. Im Jahre 1837 hatte Leipzig 92 und 1863 schon 202 buchhändlerische Geschäfte. Gegenwärtig bestehen fast 900 Buch-, Kunst- und Musikalienhandlungen.
Selbstverständlich muß ein solcher schwunghafter Buchhandel auch eine große Tätigkeit in die Presse bringen. Es befanden sich 1907 nicht weniger als 234 Buchdruckereien in Leipzig, welche mit ihren zahllosen Schnellpressen rund 9000 Setzern und Druckern Beschäftigung gaben. Eine einzige Schnellpresse druckt in einem Tage wohl 7-8000 Bogen; die eisernen Finger fassen den Bogen auf der einen Seite, und indem eine Walze den Satz mit Druckerschwärze bestreicht, wird alsbald der Papierbogen hereingezogen und kommt auf der andern Seite bedruckt heraus, sodaß dem Menschen nur das Wegnehmen bleibt. In verschiedenen größeren Druckereien, die zwischen 500-600 Leute jahraus jahrein in Tätigkeit versetzen, sind 50 und mehr Schnellpressen aufgestellt, – der vielen Handpressen und Hilfsmaschinen nicht zu gedenken! Nun erwäge man, wieviel Menschen nur durch die Buchdruckereien Leipzigs beschäftigt werden. Was gehört erst dazu, bis das weiße Druckpapier hergestellt ist! Dann die Schriftgießer, Maschinenmeister, Zinkätzer – die Korrektoren, Schriftsteller, Journalisten, die nach Leipzig gezogen werden – die Kommis und Schreiber in den Buchhändlerkontoren, die Markthelfer und Boten, die in Leipzig selber die Ware von einem Hause zum andern bringen, und man erstaunt billig, wenn man trotzdem ein dickes Buch mit Bildern schön ausgestattet für 1-2 Mark kaufen kann! Etwa 120 Firmen beschäftigen sich in Leipzig mit Schriftschneiden, Schrift- und Stereotypengießerei. Wo so viel Bücher gedruckt, müssen auch viele Bücher broschiert und gebunden werden, und so hat Leipzig jetzt 296 Buchbinderwerkstätten. Dieser Erwerbszweig hat sich während der letzten Jahre ebenfalls zu einer ungewöhnlichen Höhe emporgeschwungen; – während früher ein großer Teil der in Leipzig gedruckten Bücher nach Berlin wanderte, um sich dort elegant kleiden zu lassen, findet jetzt der umgekehrte Fall statt, und so kommt es, daß manche Buchbindereien Leipzigs mehr als 600 Personen beschäftigen. Für die Illustrationen und die Verzierung der Bücher wirken 205 Stein- und Zinkdruckereien, 9 Kupfer- und Stahldruckereien, 75 Farbendruck-Institute, 16 Lichtdruck-Anstalten mit 7100 Arbeitern und gegen 1500 Graveure, Stempelschneider usw.
Ein Vereinigungspunkt aller derjenigen Gewerbe, die sich irgendwie mit der Anfertigung von Büchern oder Druckarbeiten beschäftigen, bildet der im Jahre 1884 gegründete Deutsche Buchgewerbeverein zu Leipzig, der nach seinen Satzungen die Förderung des gesamten Buchgewerbes unter Ausschluß aller sozialpolitischen Bestrebungen bezweckt, insbesondere aber einen erhöhten Einfluß der bildenden Künste auf das Buchgewerbe herbeiführen soll. Zur Erreichung seines Zwecks dienen seine reichen Sammlungen, die von Zeit zu Zeit veranstalteten Ausstellungen und der Austausch mustergültiger Druckblätter unter den Mitgliedern. Das stattliche Buchgewerbehaus mit seiner überaus prächtigen, dem Andenken Gutenbergs geweihten Ruhmeshalle, mit seinen schönen Ausstellungssälen und Vereinsräumen gibt wie auch das Deutsche Buchhändlerhaus ein beredtes Zeugnis, was eine gute Vereinsorganisation bei zielbewußter Leitung vermag.
Doch es mögen diese Angaben genügen, um eine Vorstellung zu erwecken von dem regen Leben und Treiben einer Stadt, die, wenn sie auch nicht die Ehre hat, Residenz eines Fürsten zu sein, sich doch durch die rastlose Tätigkeit, Umsicht und Intelligenz ihrer Bürger den noch größeren Ruhm errungen hat, Haupt- und Residenzstadt des deutschen Meß- und Buchhandels zu sein, und damit zwei Hauptpole des deutschen Verkehrs zu verbinden und zum Heile deutscher Nation lebendig wirksam zu erhalten. Dazu ist in neuester Zeit noch eine für das Ansehen und die Würde Leipzigs bedeutende Errungenschaft gekommen. Leipzig ist Sitz des deutschen Reichsgerichts geworden und hat bei der Wahl den Sieg über die Reichshauptstadt davongetragen. Wie auf die Welthandelsstadt Hamburg darf der Deutsche auch auf Leipzig stolz sein, das nächst Hamburg die zweite Handelsstadt Deutschlands und einer der bedeutendsten Handelsplätze von Europa überhaupt ist, zugleich aber auch einen der wichtigsten Zentralpunkte bildet für deutsches Recht, für deutsche Wissenschaft und Kunst. Lange vorher, ehe München zum »Deutschen Athen« sich erhob, blühte die 1764 errichtete Akademie der Künste unter Oeser, Tischbein, Schnorr, Jäger u. a. und wirkte kräftig für Malerei, Kupferstecherkunst und Architektur. Jetzt ist aus ihr die Akademie für graphische Künste und Buchgewerbe hervorgegangen.
Die Universität, die 1409 durch Einwanderung von etwa 400 Prager Studenten und Professoren gegründet wurde, hat im Jahre 1909 die Feier ihres 500jährigen Bestehens in großartig erhebender Weise unter lebhafter Anteilnahme der gesamten Bevölkerung der Stadt begangen. Eine Reihe glänzender Namen verherrlicht die Geschichte dieses Musensitzes, von einem Leibniz und Thomasius über Gellert, Lessing und Goethe bis herauf zu einem Wilhelm Wundt unserer Tage. Und heute blüht die Universität Leipzig herrlicher denn je. Mehr als 200 Professoren und Dozenten betreiben an ihr die freie, durch nichts und durch niemand beeinflußte Forschung, deren einziges ideales Ziel die Erkenntnis der Wahrheit ist, die Gesamtheit der Hörer hat seit einigen Semestern die Zahl 5000 überschritten. Die für den wissenschaftlichen Betrieb nötigen Seminare, Institute, Sammlungen und Bibliotheken der Universität sind nach Umfang und Einrichtung mustergültig und – in ihrer Gesamtheit – von keiner anderen deutschen Hochschule übertroffen. Mit Stolz konnte der Geschichtschreiber der Universität in den Tagen des Jubiläums bekennen: »Wenn jetzt unsere Universität im Kreise heutiger und ehemaliger Schüler aus der engeren und weiteren Heimat und aus allen Weltteilen die Feier ihres 500jährigen Bestehens begeht, so darf sie dies in dem stolzen Gefühl tun, daß sie niemals eine glänzendere Zeit der Blüte gehabt hat als in der Gegenwart. Sie blickt nicht trauernd zurück auf entschwundene Größe und stolze Erinnerungen, sondern sie freut sich ihres gegenwärtigen Gedeihens und hofft auf eine noch größere Zukunft. Sie fühlt sich noch nicht alt trotz ihrer 500 Jahre, sondern jugendfrisch und zu neuen Kämpfen auf dem Gebiete der Wissenschaft und zu neuen Eroberungszügen in das Land der Wahrheit fähig.«
Eine solche Hochschule muß notwendigerweise auch auf die übrigen Bildungsanstalten der Stadt belebend und befruchtend einwirken. Die im Jahre 1898 von der Leipziger Handelskammer zum Zwecke wissenschaftlicher Ausbildung junger Kaufleute als erste ihrer Art gegründete »Handelshochschule« steht in engster Beziehung zur Universität. Sie wohnt in einem von dieser für sie neu erbauten, schönen Gebäude am Nikolaikirchhof, und einen wichtigen Teil ihrer Vorlesungen haben Universitätsprofessoren übernommen. Mit den höheren Schulen (den vier Gymnasien, zwei Realgymnasien, fünf Realschulen und zwei höheren Schulen für Mädchen) wetteifert ein trefflich eingerichtetes Volksschulwesen. Mit wahrhaft pädagogischem Triebe wird aber auch die Popularisierung der Wissenschaften und das Volksschriftentum gepflegt, und die Volkshochschulkurse, die Vorträge für den Arbeiterstand, für die Frauen usw. sind alle aus diesem Sinne für Hebung und Förderung allgemeiner Volksbildung hervorgegangen. Zeitschriften wie die Volkszeitschrift »Gartenlaube«, die Leipziger »Illustrierte Zeitung«, »Reclams Universum« sind echte Leipziger Gewächse. Zahlreiche Wandervereine haben von jeher gern, gestützt auf die Gastlichkeit und das rege vielseitige Interesse der Bewohner, die Stadt zu ihrem Versammlungsort erwählt. Wenn Goethe von dem Leipzig, das er kannte, sagte: »Mein Leipzig lob' ich mir, es ist ein klein Paris und bildet seine Leute«, so würde er gewiß das Urteil auch vom heutigen Leipzig gelten lassen; denn in allen Verhältnissen hat die Stadt zu ihrem Vorteile Fortschritte gemacht, und ihre Bürger, die es durch Fleiß und Tüchtigkeit zu Wohlstand gebracht haben, zeichnen sich aus durch Gemeinsinn und Mildtätigkeit, die sie in allen Fällen, wo ihre Hilfe und Teilnahme verlangt wird, kundgeben.